US-Experte eugen freund

US-Wahlkampf: "Salutiert Joe Biden in letzter Minute ab?"

Eugen Freund war ZiB 2-Moderator und lebte insgesamt elf Jahre in den USA. Für Newsflix schreibt er über die USA vor den Wahlen.

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Der amerikanische Präsident ist schon ein alter Herr. Trotz zahlreicher Herausforderungen bringt er gerade die erste Amtszeit gut hinter sich. Die Wirtschaft erholte sich, die Inflation ging zurück, der Machthaber im Kreml ist der Feind Nummer Eins, doch die Konflikte, in die Moskau verwickelt ist,  bedrohen nicht die USA selbst. Obwohl er der älteste Präsident in der Geschichte ist, stellte sich der Mann im Weißen Haus für die nächste Periode zur Verfügung. Nur: Ich glaube nicht daran.

Lassen Sie uns zurückschauen! Wir schreiben den Beginn des Jahres 1984, Präsident ist der 73-jährige Ronald Reagan. Ich habe damals die Präsidentschaft Reagans hautnah miterlebt, als Österreicher in New York: von seiner erfolgreichen Wahl gegen den Amtsinhaber Jimmy Carter, über das Schussattentat, das ihn schwer verletzte, bis zu seinem Wutausbruch über die Sowjetunion ("Der Kommunismus gehört auf den Misthaufen der Geschichte"). Ich versäumte keine politische Talkshow, keinen Live-Auftritt des Präsidenten. Ich glaubte, nicht zuletzt auch durch die tägliche Lektüre einflussreicher US-Tageszeitungen, einen guten Einblick in die US-Politik bekommen zu haben.

Eugen Freund war ZiB 2-Moderator und lebte insgesamt elf Jahre in den USA
Eugen Freund war ZiB 2-Moderator und lebte insgesamt elf Jahre in den USA
Denise Auer, Picturedesk (Montage)

Und trotzdem legte ich mich fest: Reagan würde nicht mehr für eine zweite Amtszeit kandidieren. Mein Hauptargument: er habe (sich) bewiesen, dass er, der "B-Movie-Schauspieler", durchaus zu Höherem in der Lage ist, dass er eben die mächtigste Militärmacht der Erde mit starker Hand führen könne. Nun aber, als 73-jähriger, könne er sich, zufrieden und stolz auf das Erreichte, auf seine Ranch in Kalifornien zurückziehen. Wie wir wissen, kam es ganz anders: Reagan kandidierte ein zweites Mal, ein haushoher Sieg über den Demokraten Walter Mondale katapultierte Reagan zurück ins Weiße Haus. In seinem letzten Jahr war er schon von Alzheimer gezeichnet.

Was das alles mit Joe Biden zu tun hat? Nun, wie bei Ronald Reagan gehen auch heute alle davon aus, dass sich Biden für eine zweite Amtszeit bewirbt. Wobei "davon ausgehen" ohnehin untertrieben ist, Biden hat ja derartiges schon offiziell angekündigt. Und dennoch schließe ich es nicht aus, dass alles noch ganz anders kommen kann. Ich lehnte mich schon im vergangenen November mit einer Prognose weit aus dem Fenster: In den nächsten sechs Monaten wird der US-Präsident seine Kandidatur wieder rückgängig machen. Jetzt schließt sich das Fenster immer deutlicher, wenn auch noch nicht ganz.

So ein Rückzug im letzten Moment  wäre keineswegs einmalig Dazu muss ich allerdings noch etwas tiefer in die US-Geschichte greifen. Lyndon B. Johnson hatte nach der Ermordung John F. Kennedys in Dallas am 22. November 1963 das Präsidentenamt übernommen. Er war - wie sein späterer Nachnachnachfolger Joe Biden - ein Vollblutpolitiker. Schon als 29-Jähriger war er in das US-Repräsentantenhaus eingezogen, ein Jahrzehnt später wurde er Senator, bevor ihn Kennedy als seinen "Running-mate" für die Wahlen im Jahr 1960 in sein Ticket aufnahm.

    Tradition am Korrespondenten-Dinner: Man lacht über sich und über andere
    Tradition am Korrespondenten-Dinner: Man lacht über sich und über andere
    Picturedesk
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    Johnson hatte den Vietnam-Krieg von seinen Vorgängern geerbt, war aber innenpolitisch ein Revolutionär. Er erweiterte die Bürgerrechte für die afro-amerikanische Bevölkerung, führte einen "Krieg gegen die Armut" und verschärfte sogar das Waffengesetz. Doch die Stimmung in der Bevölkerung kippte, seine Beliebtheitswerte sanken in den Keller, der Gegenwind, vor allem wegen seiner Vietnam-Politik, wurde schärfer. Und trotzdem waren die meisten politischen Beobachter total überrascht, als er am 31. März 1968, sieben Monate vor der Wahl, ankündigte, nicht mehr zu kandidieren.

    Nochmals: Was hat das alles mit Joe Biden zu tun? Biden ist achtzig. ER ist jetzt der bei weitem älteste Präsident, den die USA je hatten. Was seine politische Bilanz betrifft, kann sie sich sehen lassen: er hat das Land zielsicher durch schwierige Zeiten geführt. Vor allem machte er die fragwürdigen Entscheidungen seines Vorgängers Donald Trump rückgängig: die USA traten dem Klimaschutzabkommen von Paris wieder bei, Washington ist wieder Mitglied der Weltgesundheitsorganisation, ein riesiges Konjunktur-Programm wurde auf den Weg gebracht, die Ukraine wurde mit Milliarden von Steuergeldern in ihrem Kampf gegen den russischen Aggressor unterstützt - bis sein Gegenkandidat Donald Trump Nein sagte und die republikanischen Parteigänger wie Domino-Steine umfielen und jetzt weitere Milliarden-Zusagen verhindern.

    Auch beim mörderischen Angriff auf Israel durch die Hamas-Terroristen zeigte Biden Haltung: er flog sofort zu seinem engsten Verbündeten in den Nahen Osten. Erst in den vergangenen Wochen erhöhte er den Druck auf Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu, einen Waffenstillstand zu ermöglichen, nicht zuletzt, weil die arabisch-stämmige Bevölkerung in einigen Bundesstaaten, die für die Wahl im November entscheidend sein könnten, sich von ihm abwandte.

      US-Präsident Donald Trump bei einer Halloween-Veranstaltung mit First Lady Melania Trump vor dem Weißen Haus in Washington 2020
      US-Präsident Donald Trump bei einer Halloween-Veranstaltung mit First Lady Melania Trump vor dem Weißen Haus in Washington 2020
      Reuters
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      Trotz aller Gerichtsverfahren, die auf Donald Trump jetzt warten, liegt der republikanische Präsidentschaftskandidat in Meinungsumfragen einige Punkte vor Biden. Doch meine Erfahrung mit amerikanischen Präsidentschaftswahlen sagt mir auch: vor dem Labour-Day (Anfang September) schenken die Wähler dem Kampf ums Weiße Haus kaum Beachtung, im Unterschied zu den Medien und den professionellen Besserwissern, die täglich im TV auftreten.

      "Ein Fehler vom Anfang bis zum Ende" Glaubt man den Umfragen, dann liegt Joe Biden vor allem deshalb zurück, weil ihn die Mehrheit in seiner Partei einfach für zu alt hält. Das galt jedenfalls bis zu seinem überzeugenden Auftritt bei der "State of the Union"-Rede im Kongress. Da war plötzlich ein anderer Biden zu sehen und zu hören: Mit lauter, klarer Stimme warf er sich für die Aufrechterhaltung der Abtreibung in die Schlacht, beruhigte Studenten, die sich die Kredite fürs Studium nicht leisten können, verwies auf die Gefahr, die der Klimawandel auslöst und beschäftigte sich intensiv mit seinem "Predecessor", seinem Vorgänger, ohne dessen Namen auch nur einmal in den Mund zu nehmen. Trumps Präsidentschaft "war ein Fehler vom Anfang bis zum Ende".  

      Statt Spott Spottfigur Die Republikaner schossen sich danach selbst noch ein Eigentor: sie wählten für die Gegenrede, die bei der "Lage der Nation" üblich ist, eine Senatorin aus, die, in ihrer Küche stehend, mit einem ständigen, gequälten Lächeln auf den Lippen, die Rede des Präsidenten auseinander zu nehmen versuchte. Sie landete mit ihrem Auftritt als parodierte Spottfigur in der Satiresendung "Saturday Night Live".

        Der frühere US-Präsident Donald Trump bei einem Town Hall-Meeting des TV-Senders Fox News Channel
        Der frühere US-Präsident Donald Trump bei einem Town Hall-Meeting des TV-Senders Fox News Channel
        Picturedesk
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        Problem Nuscheln Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob nach dem starken Auftritt im Kongress vergessen wird, was wir vorher von Biden gesehen haben: dass er gelegentlich stolpert (sowohl dialektisch als auch physisch), und dass das vor allem von seinen Gegnern in den sozialen Medien genüsslich verbreitet wird. Bei offiziellen Aufritten las er zwar beinahe fehlerfrei vom Teleprompter, doch oft so vernuschelt, dass man ihn kaum verstand.

        Auffallend war auch, dass er bei jedem Besucher im Oval Office auf vorbereitete Zettel angewiesen ist. Freie, spontane Reden hört man von ihm selten. Das würde sich im Herbst ändern: in den TV-Duellen gegen Donald Trump muss er blitzschnell reagieren, da kann er sich nicht auf schriftliche Unterlagen stützen. Dazu kommen noch die anstrengenden Wahl-Reisen quer durchs Land. Die müssen fehlerfrei absolviert werden.

        Überraschungskandidat am 19. August? Ob er das schafft, ob er sich das tatsächlich antun wird? Wenn er sich anders entscheidet, muss auch der 31. März noch keine Deadline sein. Er will, auch angesichts der brisanten Weltlage, so lange wie möglich, keine "lame duck" sein. Es wäre völlig ungewöhnlich, aber der Parteitag, der am 19. August beginnt, kann dann immer noch einen Kandidaten/ eine Kandidatin aus dem Hut ziehen. Und dann ist eines jedenfalls sicher: diese Person wird deutlich jünger sein als Joe Biden. Und auch als Donald Trump. Und das wünscht sich die Mehrheit der Amerikaner.

        Eugen Freund war Moderator der ZiB 2, lebte von 1979 bis 1984 in New York und war von 1995 bis 2001 in Washington als ORF-Korrespondent tätig. Er war Teil der SPÖ-Delegation im Europa-Parlament und ebendort Mitglied der USA-Delegation (2014-2019).

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