Krake Temu

Wie China-Billigware Österreichs Handel kaputt macht

Der Zahl der Insolvenzen im heimischen Handel explodiert. Mit ein Grund: die Online-Plattform Temu. Wie sie funktioniert, was sie so attraktiv macht, wer dahintersteckt. Restrukturierungs-Berater Andreas Gaisbauer erklärt die Revolution.

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Die Handelsbranche macht über PR und Lobbying gegen die Online-Plattform Temu mobil. Die Vorwürfe, die gegen das chinesische Unternehmen aufgefahren werden, sind massiv: (Illegale?) Ausnutzung von Zollfreigrenzen, mangelnde Produktqualität ... Der geneigten Kundschaft stellt sich nun die Frage: Wie groß ist dieses Problem überhaupt? Ist die Kritik berechtigt? Oder geht es "nur" um die Bewahrung von Besitzständen?

Worum geht es hier eigentlich?
Wenn man das große Bild betrachtet, um die Zukunft des Handels in Österreich und in Europa. Mit Temu drängt ein neuer, aggressiver Player auf den Markt.

Geht es um das Online-Geschäft oder um die klassische Handelsbranche?
Die Disruption umfasst klar beides.

Andreas Gaisbauer ist Betriebswirt und Restrukturierungsexperte
Andreas Gaisbauer ist Betriebswirt und Restrukturierungsexperte
Helmut Graf

Welche Geschäftsmodelle sind im Kern betroffen?
Der klassische Handel hat sich über die letzten Jahrzehnte große Kompetenz im Erkennen von Kundenbedürfnissen erworben. Er wusste, wo die Ware in Fernost (hauptsächlich China) beschafft werden kann, wie man sie im Einzugsgebiet vermarktet und verteilt. Die Verkaufskanäle variieren ja nach Ausrichtung: Stationär (etwa Tchibo oder Tedi), Katalog und Online (Otto, Universal), Fernsehen (HSE, QVC).

Was passiert jetzt?
Nun drängt mit Temu ein neuer Spieler mit einem neuartigen Angebot auf den Markt. Die Artikel werden über Social Media und die eigene, auf Verweildauer der Kunden optimierte App direkt von der Fabrik an die Endkunden gebracht. Die Preisgestaltung ist dabei derartig aggressiv, dass das lange gehegte Paradigma des Handels – möglichst rasche Zustellung zu garantieren – für den Konsumenten in den Hintergrund tritt und Lieferzeiten bis zu 14 Tage akzeptiert werden. Die Lieferung erfolgt dabei direkt aus China unter Ausnutzung der Zollfreigrenzen (150 Euro pro Paket).

Was ist die Folge?
Im Ergebnis verschwinden mehrere Wertschöpfungsstufen der etablierten Handelsunternehmen. Die Produktentwicklung vor Ort, die Großmengenbeschaffung und Lieferung, Verzollung und Lagerung im Ziel-Land. Es bleibt für das jeweilige Importland volkswirtschaftlich lediglich die Logistik als vor Ort zu erbringende Dienstleistung über.

Wer ist Temu überhaupt?
Die börsennotierte chinesische PDD Holding (Pindoudou) war bis zum Start von Temu ein rein auf den chinesischen Markt ausgerichtetes Unternehmen. Angeboten wurde "group buying". Es gab also einen Marktplatz, auf dem sich viele Interessenten oder Konsumenten für den Kauf eines Produktes zusammenschließen konnten. Sie konnten dann mit Rabatt bei den ebenfalls am Marktplatz angeschlossenen Unternehmen einkaufen. Die Markkapitalisierung, also der Unternehmenswert, beträgt per Mitte September 2024 durchaus beeindruckende 132 Milliarden US-Dollar.

Verweildauer als Hebel: Der China-Anbieter Temu bietet der Kundschaft ein neues Einkaufserlebnis
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Ist Temu ein transparentes Unternehmen?
Nicht wirklich. Temu wird bei PDD als eigene Sparte geführt, allerdings werden Zahlen, Daten und Fakten nicht im Detail öffentlich gemacht. Daher sind sämtliche Angaben schwer zu verifizieren und können teilweise nur geschätzt bzw. hergeleitet werden.

Wie groß ist das Problem wirklich?
Temu ist im August 2022 in Europa gestartet. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass 2024 alleine in Österreich rund 100 Millionen Euro Umsatz erzielt werden können.

Was das bedeutet?
Temu bietet im Vergleich zur Konkurrenz Waren teilweise um 50 Prozent, manchmal sogar bis 75 Prozent günstiger an. Es verschieben sich damit also zwischen 200 und 400 Millionen Euro Umsatz. Sie fehlen dem österreichischen Handel oder in Österreich tätigen Online-Handelsfirmen. Das ist schon spürbar.

Mode Mode zum Kampfpreis (hier präsentiert auf der Puyuan Fashion Week) unterläuft China klassische Handelsmodelle
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Ist das der Grund für die vielen Insolvenzen?
Im österreichischen Handel ist die Zahl der Insolvenzen im ersten Halbjahr 2024 um 35 Prozent nach oben geschnellt. Temu & Co als alleinigen Grund dafür anzuführen, wäre nicht sachgerecht. Klar erscheint aber die Ableitung: Auf eine handfeste Konsumenten-Rezession, in der sich das Land seit mehreren Quartalen befindet, trifft ein neuer Marktteilnehmer. Und der kann die Preise gnadenlos unterbieten und die Konsumenten mit seinen Kommunikations-Kanälen sehr gut binden.

Was ist dann das Problem?
Alleine das Wissen der Konsumenten um die Möglichkeit, gewisse Produktkategorien an anderer Stelle wesentlich billiger erwerben zu können, bringt die etablierten Unternehmen unter Druck.

Wie gewinnt Temu seine Kunden?
Temu ist einer der größten Werbekunden von Google und Meta (Facebook, Instagram). Allein bei Meta hat Temu 2023 weltweit an die zwei Milliarden US-Dollar (ja, richtig gelesen!) für Werbung ausgegeben. Tendenz 2024 steigend.

Bei Meta (Facebook, Instagram), dem Konzern von Mark Zuckerberg, wirbt Meta mit 2 Milliarden Dollar im Jahr
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Wie wirbt Temu um Kunden?
Das Unternehmen geht einen anderen Weg als bisherige Online-Geschäftsmodelle. Da sollten Kunden direkt in der App zu einem Verkaufsabschluss gebracht werden. Temu leitet Kundinnen und Kunden ebenfalls in seine App um, will dort aber ein Maximum an Verweildauer erzeugen. Fast analog zu den hochpreisigen, stationären Händlern, die Kunden gratis Prosecco und Espresso anbieten, um einen schönen Shopping-Aufenthalt für teure Ware zu generieren. Bei Temu passiert das eben für Billigware aus China in einer Smartphone-Umgebung.

Macht das Shoppingerlebnis süchtig?
Die Game-i-fizierung des Einkaufs-Erlebnisses wird durch Glücksrad- und Gummibären-Zuchtspielchen auf die Spitze getrieben. Es wird Stress beim Käufer erzeugt, weil die Preise steigen, je länger die Entscheidungsfindung dauert. Kurzum: Der Kauf wird zum ultimativen Endorphin-Rush. Da ist es für die Konkurrenz auf Dauer wohl schwer verteidigbar, den Kunden in einem Shoppingcenter nach einem vermeintlich kundigen Verkäufer suchen zu lassen, der dann gelangweilt statt ordentlicher Beratung auch nur den vermuteten Standort des Produktes aufsagen kann.

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Läuft bei Temu alles rund?
In der Phase des explosiven Wachstums gab es Phantasie-Adressen für Rücksendungen, die nie ankamen. Den Kunden wurde allerdings der volle Kaufpreis anstandslos erstattet. Es existierten keine CE-Produktkennzeichnungen und viele weitere Kinderkrankheiten traten auf. Diese Probleme wird man sukzessive in den Griff bekommen.

Genauso wie das Faktum, dass Temu dazu übergegangen ist, Pakete nicht mehr in der Unternehmensfarbe orange zu verschicken, um beim Zoll keine unnötige Aufmerksamkeit zu generieren.

Wehrt sich der klassische Handel?
Die Gegenoffensive erfolgt mit völlig unzureichenden Mitteln. Es wird versucht, über Handelsverbände Druck auf die Politik auszuüben. Es wird in Brüssel lobbyiert, um die Handhabung der eigentlich für den privaten Versand von Geschenken eingeführten Zollfreigrenzen für Unternehmen zu kappen, sowie Druck wegen der oft mangelnden Produktqualität und -sicherheit auszuüben, und etliches mehr.

Wird das auf Sicht erfolgreich sein?
Was nicht passiert, ist das eigene, unterlegene Geschäftsmodell zu hinterfragen.
Modeplattformen, die schon länger in ähnlich harter Konkurrenz zum chinesischen Anbieter Shein stehen, experimentieren nun nach zwei Jahren Vorlaufzeit damit, ihren Kunden "direct from factory" anzubieten und das gegen einen signifikanten Preisvorteil. Das wird nicht reichen.

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Was ist das Endspiel?
Vielleicht wird am Ende doch auch Temu von der westlichen Bürokratie und Regulatorik eingebremst oder wiederum selbst durch neuartige Geschäftsmodelle unter Druck geraten. Bis dahin werden die aus heutiger Sicht klassischen Handels-Geschäftsmodelle allerdings derartigem Stress ausgesetzt sein, dass viele auf der Strecke bleiben. Es hat längst begonnen.

Was heißt das für mich als Konsument?
Stellen Sie sich auf sinkende Preise ein. Und auf Geschäfts-Schließungen, stationär wie online. Umgekehrt haben wir, oder Sie, es auch selbst in der Hand. Falls Ihnen das etwas wert ist: Zahlen Sie einen x-fachen Produktpreis für wirklich gute Beratung in einem eigentümergeführten Ladenlokal.

Andreas Gaisbauer ist Betriebswirt und Restrukturierungsexperte, (Co-Gründer und Managing Partner der ACTUM Performance Group). Er kümmert sich um Unternehmen in existenzbedrohenden Phasen und unterstützt bei schwierigen (oft notwendig gewordenen) Veränderungsprozessen.

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