Hintergründe
Zweiter Kurz-Moment: Wie die Grünen die ÖVP renaturierten
Geschichte wiederholt sich: Vor zweieinhalb Jahren stürzten die Grünen den türkisen Kanzler. Nun tricksten sie erneut ihren Regierungspartner aus. Wie das ging, was nun daraus wird. Moor oder weniger.
Die Party ist vorbei. Man merkte, dass die Party vorbei war, vor allem daran, dass sie abgesagt wurde. Am Montagabend hätte Bildungsminister Martin Polaschek einen "Sommerempfang" geben sollen, vorrangig Medien waren dazu eingeladen und genau darin lag das Problem. Ab 18 Uhr sollte es losgehen, aber vielleicht war es gut so, dass es nicht losging, denn vielleicht wären einige Journalistinnen und Journalisten am Weg verloren gegangen und hätten so das Fußballmatch Österreich gegen Frankreich versäumt. Um die individuellen psychischen Schäden dafür ermessen zu können, hätten ein paar Gutachter bemüht werden müssen und die haben momentan gut zu tun.
Geheimnisvoller Ort Polaschek hatte auf die Dachterrasse des CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW geladen, also in den 8. Stock in der Lazarettgasse 14, Wien-Alsergrund, genau genommen in den AKH BT Nummer 25.3, also den Bauteil 25.3, begehbar aber über die Spitalgasse, gelegen jedenfalls am Campus der Medizinischen Universität Wien und des AKH Wien. Eine Anreise per Helikopter schien angeraten, von oben wäre das leichter zu finden gewesen. Das Thema stellte sich aber nicht, denn der Termin wurde gestrichen. "Aus aktuellen Gründen" erfuhr man auf Nachfrage und es wäre bei Armin Assinger keine Millionenfrage gewesen, was diese "aktuellen Gründe" bloß sein könnten.
Der Bildungsminister wollte sich unangenehme Fragen zu aktuellsten grünen Bockigkeit ersparen und deswegen sagte auch Wirtschaftsminister Martin Kocher am Montagvormittag einen Termin ab, er hätte ihn gemeinsam mit Partycrasher Polaschek gehabt. Die beiden wollten in einem Wiener Gymnasium einen Workshop namens "Extremismusprävention macht Schule" besuchen, aber Extremismus gibt es in der Regierung jetzt selbst ausreichend, was Prävention bedeutet, könnten sie ja den Kanzler fragen.
Der Tag, an dem die Party vorbei war, geriet denkwürdig Auf offener europäischer Bühne bekriegten sich zwei österreichische Parteien, schrieben unabhängig voneinander Briefe nach Brüssel, die eine kündigte gleich zwei Klagen gegen die andere an, aber das eigentlich Sonderbare dabei ist: Diese beiden Parteien bilden aktuell die österreichische Regierung. Sie sind Partner, verbunden durch einen Koalitionsvertrag, aneinandergekettet durch einen Sideletter, angelobt auf die Verfassung, die nun jeder so interpretiert, wie es ihm in den Kram passt.
Es kam, wie es kommen musste, aber selbst das ist in Österreich eine Überraschung. Am Montagvormittag stimmte der Rat der Umweltminister in Luxemburg dem "Gesetz zur Wiederherstellung der Natur" zu, im Volksmund Renaturierungsgesetz genannt. Von den 27 in der EU vertretenen Nationen waren 20 Länder dafür, sechs dagegen (Italien Ungarn, die Niederlande, Polen, Finnland und Schweden), ein Land (Belgien) enthielt sich. Es herrschte kein Einstimmigkeitsprinzip, für eine Annahme waren 15 Ländern nötig und das wurde locker erreicht.
Darüber hinaus aber mussten jene Länder, die ja sagten, mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren und das ging sich um Haaresbreite aus. 66,07 Prozent wurden erreicht, dies deshalb, weil Österreich seine Meinung vom März änderte und zustimmte. Wir waren das Zünglein an der Waage, wir haben das entschieden. Endlich sind wir wieder wer!
Das "Renaturierungsgesetz" ist ein weißer Elefant in der politischen Debatte Kaum jemand weiß was drinsteht, für die 152 Seiten vom 22. November 2023 gab es längere Zeit keine deutsche Übersetzung (hier finden Sie die deutsche Version zum Nachlesen).* Aber Mangel an Wissen hat noch nie einer gepfefferten Debatte geschadet.
Worum geht es eigentlich im Gesetz?
- 80 Prozent der Lebensräume in der EU gelten als "geschädigt"
- Über einen Stufenplan sollen die Schädigungen bis 2050 beseitigt werden
- Bis 2030 müssen 30 Prozent der geschädigten Gebiete wiederhergestellt sein, bis 2040 dann 60 Prozent, bis 2050 schließlich 90 Prozent
- Vorrang haben Natura 2000-Gebiete (davon gibt es in Österreich 350)
- Die Länder können selbst festlegen, wie sie die Ziele erreichen wollen
- In der Landwirtschaft sollen in zwei von drei Indikatoren Verbesserungen passieren:
- Indikator 1: Mehr Wiesenschmetterlinge
- Indikator 2: Mehr Diversität bei landwirtschaftlichen Flächen
- Indikator 3: Verbesserte Ackerböden
- Die Zahl der Feldvögel soll steigen
- In einem Stufenplan müssen bis 2050 mindestens 50 Prozent der Torfgebiete wiederhergestellt werden
- Diese Wiederherstellung ist für Landwirte und private Grundbesitzer freiwillig
- Es sollen EU-weit 3 Milliarden zusätzlicher Bäume gepflanzt werden
- 25.000 Flusskilometer sollen renaturiert werden
- Kritiker befürchten Enteignungen, kritisieren überbordende Bürokratie, die Nahrungsmittelsicherheit sei gefährdet
- Es gibt eine "Notbremse": Die Ziele können ausgesetzt werden, wenn Nahrungsmittelsicherheit gefährdet erscheint
- Über Förderungen soll ein Anreiz für die Umstellung geschaffen werden.
Das Renaturierungsgesetz hatte schon ein recht langes Leben hinter sich, ehe es geboren wurde. Nach Jahren der Debatte legte die EU-Kommission am 22. Juni 2022 ihren Vorschlag auf den Tisch. Ein Jahr später, am 12. Juni 2023, fand auch das EU-Parlament zu einer gemeinsamen Linie. Bis 9. November 2023 dauerten die Verhandlungen mit EU-Kommission und EU-Rat, am Ende stand ein recht weichgespülter Entwurf. Er wurde am 27. Februar 2024 vom EU-Parlament angenommen, es fehlte nur mehr der Segen des EU-Rates, üblicherweise eine Formalie.
Am 25. März aber drohte die Blamage Die EU-Umweltminister sollten das Gesetz durchwinken, es zeichnete sich aber eine Niederlage bei der Abstimmung ab – auch weil sich Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler enthalten musste. Sie sah sich damals noch an ein Veto der Landeshauptleute gebunden. Die Abstimmung wurde von der Tagesordnung gestrichen.
Tatsächlich ist Naturschutz in Österreich Landessache Und: Artikel 23d der Verfassung legt fest: "Haben die Länder eine einheitliche Stellungnahme zu einem Vorhaben erstattet, das Angelegenheiten betrifft, in denen die Gesetzgebung Landessache ist, so darf der Bund bei Verhandlungen und Abstimmungen in der Europäischen Union nur aus zwingenden integrations- und außenpolitischen Gründen von dieser Stellungnahme abweichen."
Am 4. April 2024 trafen sich die Landeshauptleute in St. Pölten. Im nicht öffentlichen Protokoll findet sich die Passage: "Die Landeshauptleutekonferenz erinnert die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie an die einheitlichen Länderstellungnahmen vom November 2022 und Mai 2023, mit denen der Verordnungsentwurf 'Wiederherstellung der Natur' abgelehnt wird, und ihre verfassungsrechtliche Verpflichtung, bei der anstehenden Schlussbestimmung im Rat der EU die Verordnung abzulehnen."
Die Formulierung ist in ihrer Eindeutigkeit uneindeutig und längst Inhalt juristischer Debatten. Haben die Landeschefs der Klimaministerin aufgetragen, auch gegen das neue Renaturierungsgesetz zu stimmen? Oder bezog sich das Veto nur auf die früheren Entwürfe, weil ja ausdrücklich auf November 2022 und Mai 2023 verwiesen wird?
Die beiden SPÖ-Länder Wien und Kärnten (nicht aber das rote Burgenland) scherten aus der Linie aus. Warum, ist nicht ganz klar. Sahen sie politischen Landgewinn? Hatten sie sich vor der Abstimmung tatsächlich den alten Gesetzestext angeschaut, was etwas peinlich wäre? Sie baten jedenfalls die Vorsitzende des Gremiums, Johanna Mikl-Leitner, per Brief (das wird in Österreich gerne so gemacht) um eine neuerliche Abstimmung. Die großteils schwarzen Bundesländer lehnten ab, der bestehende Beschluss blieb. Aber damit auch das Veto? Unklar!
Am Dienstag letzter Woche, dem 11. Juni also, kam Bewegung in die Sache Zwei Tage nach der EU-Wahl beschloss die Wiener Landesregierung die Zustimmung zum Renaturierungsgesetz, für Gewessler war damit der grüne Teppich ausgerollt. Die Klimaministerin sah nun keine einheitliche Stellungnahme der Bundesländer mehr, hieß für sie: Bahn frei! Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte sie über ein einziges Gutachten in ihrem Sinne, dem stand ein Gutachten des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramts gegenüber, in dem ihr die Zustimmung beim Rat der EU juristisch untersagt wurde.
Bis Freitag hatte Gewessler drei weitere Gutachten eingesammelt. Alle stützen mehr oder weniger das freie Stimmrecht der Ministerin, zumindest fanden sie ihre Auslegung "vertretbar".
Die vier Gewessler-Gutachten
- "Fragen der Anwendbarkeit des Art 23 d Abs 2 B-VG", em. O. Univ.-Prof. Dr. Karl Weber, Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre Universität Innsbruck, 17. April 2024
- "Auswirkungen von Änderungen des Textes auf deren Verbindlichkeit", Univ.-Doz. DDr. Alexander Egger von der Kanzlei "Lansky, Ganzger, Goeth", 13. Juni 2024
- "Antwort auf den Verfassungdienst", Univ.-Prof. Dr. Daniel Ennöckl, LL.M., 13. Juni 2024
- "Bindungswirkung der Länderstellungnahmen betreffend die EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur", RA Dr. Florian Stangl, LL.M. von der Kanzlei "nhp", 14. Juni 2024
Auch hinter den Kulissen war in den drei Tagen viel passiert Gewessler zeigte sich nun wild entschlossen, dem Renaturierungsgesetz am 17. Juni im EU-Rat zuzustimmen. Die Grünen planten einen zweiten Sebastian-Kurz-Moment, wieder fand sich derselbe enge Kreis der Partei zusammen, wieder übernahm Klubchefin Sigi Maurer das Management.
Am 9. Oktober 2021 war es den Grünen durch geschicktes Taktieren gelungen, den türkisen Kanzler zunächst in einen Seitwärtsrücktritt zu treiben, um ihn dann ins Polit-Aus zu befördern. In der ÖVP hat das bis heute tiefe Spuren hinterlassen. Werner Kogler, damals Strippenzieher, fand den Plan seiner Klimaministerin auch aus dieser Erfahrung heraus nicht nur gut, er war verzückt.
Am Sonntag spitzte sich die Lage zu Um 9 Uhr lud Leonore Gewessler per "Eilt-Aviso" zur Pressekonferenz um 14 Uhr ein. Wie durch ein Wunder erschien nahezu zeitgleich eine Umfrage des WWF, wonach sich 82 Prozent in Österreich für das Renaturierungsgesetz aussprechen.**
Auf Nachfrage über Inhalte der Pressekonferenz druckste der Sprecher von Gewessler herum, sprach von "Prozessen", "Überlegungen", alles sei im Fluss. Um 14 Uhr ging der Fluss dann über, die Klimaministerin kündigte an, am Tag darauf für das Renaturierungsgesetz stimmen zum wollen.
Die ÖVP reagierte umgehend, ihr war etwas Vorlaufzeit eingeräumt worden. Gegen Mittag hatte Klubchefin Sigi Maurer ihr Gegenüber bei der ÖVP, August Wöginger, vom grünen Vorhaben unterrichtet. Nun rückte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler aus. "Verfassungs- und Gesetzesbruch", "in höchstem Maße unverantwortlich", "befremdlich", "neue Dimension" und "das muss und wird rechtliche Konsequenzen haben": Die Verfassungsministerin war schon mittendrin im politischen Klimawandel, sie blieb nicht die Einzige.
Gemeinsam mit dem Kanzler, der untertags noch in der Schweiz beim "Ukraine-Friedensgipfel" geweilt hatte, schrieb sie noch am Sonntag eine Brief an Alexander De Croo, Premierminister von Belgien und aktueller EU-Ratsvorsitzender. Woraufhin auch der grüne Vizekanzler und seine Klimaministerin einen Brief nach Brüssel schickten. Dort wurden beide Schreiben ein Fall für die diplomatische Rundablage. "Innerösterreichische Kontroversen gehen mich nichts an", sagte der belgische Umweltminister Alain Maron.
Historischer Moment? Aus diesem Minenfeld heraus flog Gewessler am Sonntag um 17.05 Uhr an Bord der "Luxair" nach Luxemburg. Am Montag begann der EU-Rat der Umweltminister mit seinem etwas schwerfälligen Tagesablauf. Über das Renaturierungsgesetz wurde nicht elektronisch oder per Handzeichen abgestimmt. Nein, jedes Land gab einzeln eine Stellungnahme ab, tat kund, ob es der Verordnung zustimmt, sie ablehnt oder sich enthält und warum. Um 10.43 Uhr war der Vorgang beendet und das Renaturierungsgesetz beschlossen.
In Österreich ging es da erst so richtig los Ein ganzer Schwung an Verfassungsjuristen gab rechtliche Einschätzungen ab, sie widersprachen sich diametral. Regierungspartner ÖVP kündigte an, zwei Klagen einzubringen, eine Nichtigkeitsklage gegen den Beschluss im EU-Rat vor dem Europäische Gerichtshof und eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauch gegen Gewessler. Die FPÖ will der Klimaministerin im Parlament das Misstrauen aussprechen lassen, nötig ist eine einfache Mehrheit. Es liegt also an der ÖVP, Gewessler im Amt zu halten.
Der Kanzler selbst trat Montag kurz vor 18 Uhr in Brüssel wutschnaubend vor die Kameras, warf dem Koalitionspartner ein "krasses Fehlverhalten" vor, die Grünen hätten ihr "wahres Gesicht gezeigt". Die Koalition werde er aber nicht beenden, sagte Nehammer, obwohl: "Die Emotion wäre da." Auch Vizekanzler Kogler will an der Regierung festhalten. Jetzt sei es an der Zeit zu "hackeln", sagte er.
Was nun also? Für den Kanzler bedeutet der Montag klar einen Gesichtsverlust. Er wurde von einer Ministerin vorgeführt, vom Regierungspartner ausgetrickst und scheiterte dann an der Sanktionierung des Verhaltens. Die Ankündigung von Klagen ist ein stumpfes Mittel, ob sie erfolgreich sind, wird sich erst in Monaten, vielleicht Jahren zeigen. Die Koalition zu beenden wäre der logische Schritt gewesen, Nehammer wagte ihn nicht, weil im Nationalrat noch wichtige Beschlüsse anstehen und Posten wie der des EU-Kommissars fixiert werden müssen.
Für die Grünen bedeutet der Montag, einen Triumph erzielt zu haben. Sie bekamen ihr Renaturierungsgesetz, stehen als die klaren Sieger des Pokers da, haben einen Erfolg vorzuweisen und können fünf Jahre in einer Regierung mit für die Basis oft schmerzlichen Kompromissen vergessen machen. Kein Mensch wird sie nun nach einem fehlenden Klimaschutzgesetz fragen.
Für die Regierung bedeutet der Montag: Jetzt wird nur mehr das Nötigste abgewickelt, es beginnt die Zeit der Untergriffe. Die Party ist endgültig vorbei.
* ergänzt mit Link zu deutschem Text nach Hinweis von Maximilian Werner
** korrigiert bzw. ergänzt, es gab eine grundsätzliche Frage und eine Frage direkt zum Renaturierungsgesetz. Hier ist der Link zur Umfrage.