"Informations-Diät"
Bestseller-Autor: "Unsere Politiker brauchen öfter Pausen"
Künstliche Intelligenz müsse dem Menschen folgen und ihn nicht vor sich hertreiben, sagt Yuval Noah Harari – und will für Politiker mehr Ruhezeiten und für uns alle Auszeiten. Wir können nicht mehr zwischen schädlichen und gesunden Informationen unterscheiden.
An die 70 TV-Auftritte in verschiedenen Konstellationen, alleine 7 sogenannte "Elefantenrunden" mit den Spitzenkandidaten aller fünf Parlamentsparteien. Dazu unzählige weitere Termine im Hörfunk, bei Zeitungen und in Online-Medien – über mangelnde Auslastung können sich Österreichs Spitzenpolitiker in den Tagen und Wochen vor der Nationalratswahl am 29. September nicht beschweren.
"Zeit um abzuschalten" Wie sinnvoll und zielführend dieses PR-Stakkato für den individuellen Erfolg ist, wird sich am Wahlabend zeigen. Für die Aufnahme- und Leistungsfähigkeit der Politiker sei es jedenfalls nicht vorteilhaft, meint der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari: "Das Wohlergehen unserer Nationen hängt davon ab, dass unsere Politiker bei klarem Verstand und mental gesund sind", so der Israeli in einem Interview mit dem deutschen Magazin "Stern". "Dafür brauchen sie wie alle menschlichen Wesen Zeit, um abzuschalten. Aber wir gestehen ihnen die kaum noch zu."
Mehr Pausen für Politiker Deshalb fordert der Wissenschafter grundsätzlich mehr Regenerations- und Nachdenkpausen für uns alle, aber vor allem für Politiker. Denn diese hätten aufgrund ihrer Entscheidungsgewalt große Verantwortung – und dafür müssten sie ganz besonders ausgeschlafen sein, im doppelten Wortsinn. Der immer schnellere Takt unserer Gesellschaft, auch und vor allem durch den technischen Fortschritt befeuert, würde diesem Bedürfnis aber diametral gegenüberstehen, so der Autor.
Harari, der "Welterklärer" Yuval Noah Harari gilt seit seinem Weltbestseller "Eine kurze Geschichte der Menschheit" (auf Deutsch erstmals 2013 erschienen) als einer der einflussreichsten Wissenschafter der Welt. In seinen Büchern erklärt er leicht verständlich die Evolution der Menschheit und die Herausforderungen der Zukunft. Er war mehrfach Vortragender beim Weltwirtschaftsforum in Davos, gilt als "Welterklärer" und Vordenker, Bill Gates (Microsoft), Mark Zuckerberg (Meta) oder Jeff Bezos (Amazon) sind Harari-Fans.
Die Zukunft der Information In seinem jüngsten Werk "Nexus", das am 10. September erscheint, setzt sich Harari primär mit Informationstechnologien auseinander, von der Steintafel bis zur Künstlichen Intelligenz. In der sieht er große Chancen - und ebenso viele Gefahren. Eine davon: dass KI aufgrund ihrer Geschwindigkeit unsere demokratischen Strukturen zum Kippen bringen könnte.
"Tempolimit" für die KI Deshalb fordert der Wissenschafter auch eine bewusste Drosselung des KI-Tempos auf menschliches Niveau – und eben regelmäßige Pausen vor allem für all jene, die mit Künstlicher Intelligenz und ihren Auswirkungen umgehen müssen.
Wo Bestsellerautor Harari unsere Gesellschaft zunehmend im Hintertreffen sieht, welche Möglichkeiten und Gefahren er in unserem technologischen Fortschritt, vor allem in der KI, ausmacht – hier alle Antworten:
Weshalb Harari gerade jetzt vor der Geschwindigkeit von Künstlicher Intelligenz warnt und Gegenmaßnahmen fordert
Weil KI "die erste Technologie ist, die eigene Entscheidungen treffen und Ideen entwickeln kann", so Harari im "Stern"-Interview. Und weil er dadurch zu der Einsicht gelangt sei, dass vor allem die Geschwindigkeit, mit der Künstliche Intelligenz in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, ein Problem für die Menschen darstellt. Harari: "Uns fehlt die Vorstellungskraft, uns auszumalen, was dank KI alles passieren und was vor allem schiefgehen kann."
Ob es angesichts dessen nicht klüger wäre, nicht mehr weiter an KI zu arbeiten?
Abgesehen davon, dass es ohnedies nicht funktionieren würde die Arbeit an KI schlicht zu verbieten, hielte der Historiker das für keine gute Idee, schließlich sei mit KI auch "wahnsinnig großes Potenzial" verbunden. Allerdings müssten Regierungen die Entwicklung dieser Technologie stärker als bisher regulieren und Zulassungsprozesse etablieren, ehe KI-Anwendungen auf breiter Basis zugänglich gemacht würden. Harari im "Stern": "Es ist verrückt, diese mächtigen Instrumente einfach so in die Welt zu entlassen."
Steht Harari mit seiner Meinung alleine da?
Keineswegs. Im März 2023 warnte er gemeinsam mit mehr als 1.000 anderen Unterzeichnern in einem offenen Brief unter Verweis auf die rasante Entwicklung von ChatGPT davor, dass die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz aus dem Ruder laufe. Die Verfasser forderten, dass alle KI-Entwickler, die an der nächsten Generation arbeiten, ihre Arbeit zunächst für sechs Monate einstellen und die Pause nutzen sollten, um spezielle Sicherheitsprotokolle für hoch entwickelte KI zu erarbeiten.
Ist KI eine Gefahr für die Demokratie?
Auf jeden Fall sei sie ein kritischer Moment für Demokratien, der diese destabilisieren könnte. Denn Harari sieht Demokratie vor allem als "gesamtgesellschaftliche Konversation", als Diskurs eines großen, dezentralen Informationsnetzwerkes – womit er alle Menschen und Kräfte meint, die sich als Teil dieser Demokratie verstünden. Und dieser Diskurs sei nur möglich durch moderne Kommunikationsmedien. Die Einführung einer "revolutionär neuen Informationstechnik" – eben der Künstlichen Intelligenz - wirke zunächst destabilisierend und die Demokratie müsse erst lernen, damit umzugehen. Schädlich sei vor allem, so Harari, wenn die Menschen nicht mehr erkennen würden, ob Inhalte in den Medien noch von Menschen oder von lernenden Algorithmen platziert worden seien.
Was könnte passieren, wenn die Inhalte nur mehr von der KI kämen?
Überspitzt formuliert: Dass jeder Mensch in seiner digitalen Echokammer von der KI exakt jenes Bild der Realität vorgesetzt bekommt, das seinen Ansichten am ehesten entspricht – oder das seine Ansichten am ehesten in jene Richtung bewegt, die von jenen, die die KI programmieren, bevorzugt wird. Harari: "Ein demokratischer Staat ist aber darauf angewiesen, dass seine Bürger bei allen Meinungsverschiedenheiten die grundsätzlich gleiche Wahrnehmung der Wirklichkeit teilen. Gilt das nicht, führt uns diese Entwicklung Richtung Bürgerkrieg oder Diktatur."
Welches wären die Folgen solch einer Entwicklung?
Eine Auflösung unserer Nationalstaaten, wie wir sie kennen, fürchtet der Israeli – und der Zerfall unserer Gesellschaft in verfeindete Stämme, wie man sie aus jenen Zeiten kennt, als es noch keine Nationen im heutigen Sinne gab.
Aber sind Nationen, ist Nationalismus nicht genau jenes Übel, aus dem alle Kriege und Konfrontationen der vergangenen Jahrhunderte entstanden sind?
Harari widerspricht dem im "Stern" energisch: "Nationalismus ist, als Patriotismus verstanden, in Wahrheit eine der besten Erfindungen der Menschheit." Denn er ermögliche ein Gefühl der Verbundenheit und Fürsorge unter Fremden. Ohne Nationalismus wären wir nicht bereit, so der Historiker, Steuern zu zahlen, damit Unbekannte Hunderte von Kilometern entfernt eine gute Gesundheitsversorgung bekommen."
Welche Strategien empfiehlt Harari gegen all diese Gefahren durch die KI?
"Mein wichtigster Rat ist: Slow down. Lasst euch nicht hetzen!", so der Professor. Wir Menschen seien anpassungsfähige Wesen, aber damit diese Anpassung gelingt, sei es unumgänglich, mit der Geschwindigkeit der Entwicklung Schritt zu halten. Denn, so Hariri weiter: "Menschen sind keine Algorithmen. Wir brauchen Ruhepausen. Wir müssen schlafen."
Was das konkret bedeutet?
Die Schlüsselfrage sei, wer sich wem anpasst und das Tempo bestimmt – der Mensch der KI oder umgekehrt. "Wenn wir Menschen uns den Algorithmen anpassen, wenn wir ihre Geschwindigkeit gehen müssen, dann ist das unser Ende." Organische Systeme wie unseres, so Professor Harari im "Stern", würden nur überleben, wenn sie Zeit hätten, sich zu regenerieren. "Diese Chance sollten wir auch allen andern Menschen einräumen. Gerade Politikern."
Was das mit der New Yorker Börse zu tun hat?
Die Wall Street sieht Harari als Beispiel, an dem man sich orientieren sollte: "Die ist Montag bis Freitag geöffnet, immer von 9.30 bis 16 Uhr. Wenn der Iran Israel (Hararis Heimat, Anm.) an einem Freitag um 16.05 Uhr New Yorker Zeit angreift, dann ist die Wall Street im Wochenende. Sie reagiert erst am nächsten Montagmorgen. Und das ist gut so." Weil eben organische Systeme wie die Börse Regenerationszeit benötigen würden – auch um Informationen verdauen und richtig einschätzen zu können.
Weshalb der Professor eine "Informations-Diät" einfordert
"Mit Informationen ist es wie mit Nahrung", sagt Harari im "Stern. "Wir brauchen sie zum Überleben, aber zu viel davon bekommt uns nicht." Genauso sei es, wenn man sich mit immer mehr Information zustopfe. "Wir müssen uns Zeit nehmen, die Dinge zu verdauen, sie zu verstehen und zu durchdringen. Die Welt braucht eine Informationsdiät." Denn die Menschen würden einander nicht mehr zuhören, sich nicht mehr austauschen. Und könnten deshalb auch nicht mehr zwischen schädlichen und gesunden Informationen unterscheiden.
Yuval Noah Harari: "Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz", Penguin Books, 656 Seiten, 29,50 Euro