Telegram-Erfinder
Die vielen Rätsel hinter Russlands Mark Zuckerberg
In Haft, dann für 5 Millionen Euro Kaution frei: Mikhail Lemeshko über Pawel Durow, Gründer und CEO des umstrittenen Messengers Telegram. Was Frankreichs Vorgehen für Putins Propaganda, die russische Opposition und die Redefreiheit weltweit bedeutet.
Mit fast einer Milliarde Nutzer ist Telegram eine der beliebtesten Internet-Plattformen der Welt SPÖ und die ÖVP verbreiten ihre Botschaften über Telegram-Kanäle, ebenso Kremlpropagandisten und die russische Opposition im Exil, Sahra Wagenknecht und Karin Kneissl. Mithilfe der (vermutlich) geschützten Telegram-Chats kommuniziere ich mit meinen Freund:innen überall in der Welt, aber auch mit meiner fast 80-jährigen Mutter. Dasselbe tun viele, deren Chat-Inhalte gegen Strafgesetze verstoßen: Drogen- und Waffenhändler, Kindesmissbrauchstäter, allerlei Spione und ganz einfache Gauner.
Kriminalität, das war laut der offiziellen Pressemitteilung der französischen Staatsanwaltschaft auch der hauptsächliche Grund hinter der Festnahme Durows am Pariser Flughafen. Er war in seinem Privatjet aus Aserbaidschan eingeflogen. Als Unternehmer sei er nicht konsequent genug gegen die Nutzung Telegrams durch Kriminelle vorgegangen und habe ihre Daten auch auf Anfrage der Staatsanwälte nicht mit den Behörden geteilt, so lauteten die Vorwürfe. Mittwochabend kam Durow gehen Auflagen frei, er musste fünf Millionen Euro Kaution hinterlegen (für einen Milliardär machbar), darf Frankreich nicht verlassen und muss sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden.
Durows Festnahme hat im Internet sofort einen Shitstorm ausgelöst, er führte auch zu einer Spaltung der Online-Gesellschaft entlang ungewöhnlicher Linien Gleich wütend sind die Putin-treuen Militaristen und jene in Russland verbotenen Journalisten, die ihre Texte auf Telegram veröffentlichen. Empört sind auch einige Mitkämpfer des vor kurzem gestorbenen Alexei Navalnys, der sich auch mehrmals gegen Einschränkungen Telegrams geäußert hat.
Einige vertreten aber eine gegenteilige Meinung: Auf der Seite der französischen Behörden steht überraschenderweise zum Beispiel der Investigativjournalist Christo Grozev, den in Österreich nach dem Fall Egisto Ott viele kennen (hier die Hintergründe nachlesen). Laut Grozev besteht die Möglichkeit, dass das Anwerben von neuen Agenten via Telegram durch den russischen Auslandsgeheimdienst GRU bzw. die Koordinierung von russischen Geheimoperationen im Ausland die Hauptgefahr von Telegram sei. Das kann man aus der offiziellen Pressemitteilung nicht explizit erkennen. Und ob es mehr als ein Gerücht ist, werden wir vielleicht nie genau wissen.
Was aber klar ist: Ob berechtigt oder nicht, die Festnahme Durows ist ein Riesengeschenk für Putins Propaganda. Denn die französischen Formulierungen unterscheiden sich kaum von denen, die die russischen Behörden früher verwendeten, wenn sie versucht haben, Telegram in Russland zu blockieren.
Zuerst aber die Pflichtfrage: Wer ist Pawel Durow? Der Altersgenosse Mark Zuckerbergs ist im sowjetischen Leningrad geboren und wurde zunächst dadurch berühmt, dass er 2006 gemeinsam mit seinem Bruder Nikolai das russische Remake von Facebook, "Vkontakte", entwickelte. Damals war Facebook selbst erst zwei Jahre alt und sehr bald wurde Vkontakte eine eigenständige Sache, mit einigen Features, die Nutzer:innen zufolge Facebook überlegen waren. Schnell wurde Vkontakte zum beliebtesten Netzwerk im russischsprachigen Raum.
Seit spätestens 2011 hat der russische Geheimdienst FSB von Durow verlangt, bestimmte Vkontakte-Gruppen zu schließen bzw. die persönlichen Daten von Nutzer:innen zu teilen, was er (nach seinen eigenen Angaben) verweigerte.
Schon damals sei ihm die Idee gekommen, einen wirklich sicheren Messenger-Dienst zu schaffen, wie es später Telegram werden sollte Die erste Version erschien 2013. Zehn Jahre später war Telegram (nach WhatsApp) der am zweithäufigsten verwendete Messenger-Dienst der Welt und befand sich unter den Top-5 der am häufigsten heruntergeladenen Apps weltweit.
2014 erklärte Durow, er sei gezwungen, Vkontakte zu verkaufen und Russland für immer zu verlassen, hauptsächlich wegen des Drucks seitens des FSB, die Daten von den in der Ukraine aktiven Euromaidan-Gruppen mit Geheimdiensten zu teilen. Seitdem hat sich der außerhalb Russlands mit mehreren Pässen lebende Durow hauptsächlich auf Telegram fokussiert.
2018 haben die russischen Behörden Telegram zum "Messenger non grata" in Russland erklärt und versucht, es im Land flächendeckend zu blockieren. Durow hätte das abwenden können, indem er dem FSB alle "Telegram-Sicherheitsschlüssel" übermittelt. Was, laut Durow, nicht nur verfassungswidrig gewesen sei, sondern auch physisch unmöglich, da die Schlüssel auf den Geräten der Nutzer gespeichert sind und Telegram keinen Zugriff darauf hat. Seit 2020 ist Telegram in Russland wieder legal.
Laut Durow ist Telegram der sicherste Messenger-Dienst der Welt und er selbst ein Held der Redefreiheit. Es gibt aber nur wenige unter den Nutzern (seien es Oppositionelle oder Kriminelle), die ihr Leben darauf verwetten würden, dass Telegram keine persönlichen Daten mit russischen (oder anderen) Behörden teilt. Niemand weiß das genau.
Freiheit vs. Sicherheit ist ein altes Dilemma ohne einfache Lösung Und das war Pawel Durow bekannt – seit Jahren musste er selbst herumlavieren und höchstwahrscheinlich auch Kompromisse mit verschiedenen Regierungen weltweit eingehen. Die möglichen Kompromisse mit Putin sind natürlich das, was allen die größte Angst einflößt.
Wie bewusst ihm dieses Problem war, hat er selbst in seinem Interview im April mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson ohne Worte signalisiert. Im Hintergrund sind beim Interview zwei Stühle zu sehen.
Sie illustrieren eine alte russische und eher derbe Gefängnislegende: Sobald man eine Gefängniszelle zum ersten Mal betritt, muss man eine "Prüfung" bestehen, indem man eine Reihe von Fangfragen beantwortet. Die "Veteranen" versuchen, die neue Person in die Hierarchie einzuordnen, sie schauen, wie die Person reagiert. Reine Provokation. Eine Frage lautet so: "Schau, es gibt zwei Stühle. Auf dem einen – erigierte Schwänze, auf dem anderen – scharfe Messer. Wo setzt du dich hin und wo deine Mutter?"
Im Knast kann eine falsche Antwort die Gesundheit oder das Leben kosten. In der russischen Folklore sind die Worte "Schau, es gibt zwei Stühle" zur Bezeichnung für ein unlösbares Rätsel geworden. So ein Dilemma lösend und Kompromisse mit Regierungen verhandelnd versuchte Durow zwischen der Redefreiheit und der Legalität zu balancieren. Zuerst im unfreien Russland, danach im freien Westen.
Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Nach seinem Doktorat am Fritz-Haber Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin forschte der gebürtige Russe an der Harvard Universität in den USA. Seit 2014 ist er am ISTA in Klosterneuburg und erforscht atomare, molekulare und optische Physik. Auf seinem YouTube-Kanal Prof. Lemeshko beantwortet er Alltagsfragen aus Physik und Naturwissenschaft