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Warum mich die Wahl in Österreich an Russland 1995 erinnert

Mikhail Lemeshko, Professor am ISTA in Klosterneuburg, ist in Russland aufgewachsen. Was es da schon gab? Bei Wahlen Kommunisten, eine Bierpartei und die Option "Gegen alles". Was dahinter steckte, welche Rolle Putin spielte und wieso das Flashbacks erzeugt.

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Man muss sich Geschichte als eine Spirale vorstellen, sie wiederholt sich in Windungen Und zwar mindestens dreimal: zuerst als eine Tragödie, danach als Farce und zum dritten Mal für die besonders Depperten, damit sie daraus endlich lernen können.

Manchmal tauchen verschiedene Geschichtswindungen an verschiedenen Orten der Welt auf, was nur wir, die sozusagen internationalen Deppen, zu erkennen vermögen. Heute habe ich so einen Déjà-vu-Moment erlebt und berichte meinen Leser:innen sehr gerne darüber.

Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA)
Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA)
Helmut Graf

Russland in den 1990er Jahren Es war in vielen Ländern eine goldene Zeit. So wurde es mir erzählt. Postsowjetrussland war anders: Die Wirtschaft brach ein, das BIP stürzte um bis zu 40 Prozent ab. Andererseits wurde man mit Möglichkeiten überschwemmt: Man durfte endlich seine Meinung äußern, geschäftlich tätig sein, jede Religion frei ausüben. Es boten sich plötzlich Once-in-a-Lifetime-Möglichkeiten, etwas in einem Land von Grund auf zu schaffen, was es davor in vielen (im Westen seit Jahrhunderten etablierten) Bereichen noch nicht gab. Viele Business-orientierte Menschen haben davon profitiert, und ich meine nicht die Oligarchen damit, sondern ernsthafte, schwer arbeitende Unternehmer:innen.

Das war aber nicht allgemein der Fall. Mit einem unbeschriebenen weißen Blatt Papier anzufangen ist zum Beispiel kein Vorteil, wenn man versucht, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Und obwohl die russische Gesellschaft am Ende des Tages daran gescheitert ist (zum "Warum" schreibe ich lieber eine weitere Kolumne), gab es in den 1990er-Jahren eine spannende Periode der relativen politischen Freiheit.

Der damalige russische Präsident Boris Jelzin 1998 mit dem heutigen Staatschef Wladimir Putin
Der damalige russische Präsident Boris Jelzin 1998 mit dem heutigen Staatschef Wladimir Putin
Picturedesk

Kommunisten, Bierliebhaber-Partei und "Gegen alle" Spannende Zeiten! Bei den Parlamentswahlen 1995 gab es neben einigen Parteien, die sowohl "Volk-" und "Freiheit-", als auch "Sozial-", "Liberal-" und andere Arten von Demokratien im Namen hatten, auch die Grünen und – natürlich – die Kommunisten gab es.

Sieht unauffällig aus, sagst du? Hör zu: Die Bierliebhaber-Partei gab es auch. Und "Gegen alle Kandidaten" – zwar nicht als eine Partei, sondern als eine Wahloption. Und sogar den "Verband der Unabhängigen" … viele, vor allem ältere Österreicher, kennen die Partei als Vorläufer der FPÖ. Reiner Zufall.

Wenn ich darüber erzähle, reagieren viele oft oft so: "Eure 'Bierliebhaber' waren aber eine Schmähpartei, oder?" – "Du meinst, im Gegensatz zu eurer … ich mein', unserer Bierpartei?", frage ich zurück. Das Motto der russischen Bierliebhaber-Partei lautete: "Jeder Mensch hat das Recht, Bier zu trinken. Wohlgemerkt, auch das Recht, es nicht zu trinken." Vermischt wurden Menschenrechte mit einem gewissem Fatalismus, das würde meiner Meinung nach auch bei vielen Österreichern gut ankommen. Wurscht, ob die beiden Parteien zwecks Schmäh, PR oder Geschäft gegründet wurden, sie waren bzw. sind Teil der echten Politik, wo sich Schmäh von der sogenannten Realität nur gelegentlich unterscheiden lässt.

Der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Mikhail Gorbatschow mit Ehefrau Raissa 1995 bei einem Wien-Besuch mit Bürgermeister Michael Häupl
Der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Mikhail Gorbatschow mit Ehefrau Raissa 1995 bei einem Wien-Besuch mit Bürgermeister Michael Häupl
Robert JAEGER / APA / picturedesk.com

"Gegen alle Kandidaten" war auch ein wichtiger Teil des russischen Wahlverfahrens. Dieses Feld wurde 1993 auf Wahlzettel gesetzt, um der Bevölkerung eine Möglichkeit zu eröffnen, Wahlen zu boykottieren, ohne den Stimmzettel zerstören zu müssen. Nein, nicht wählen gehen war wegen der sehr verbreiteten Wahlfälschungen keine Option – es gab immer das Risiko, dass die Wahlkommission deinen Stimmzettel statt dir ausfüllt. Laut damaligem Gesetz waren Wahlergebnisse zu annullieren, falls "Gegen alle" mehr Stimmen als der erfolgreichste Kandidat bekam.

Sehr schnell wurde daraus "Herr Iwan Iwanowitsch Gegenalle", im Volksmund war er ein lebendiger Kandidat Bei Parlamentswahlen hat er so eine fiktive Nischenpartei geführt, die ständig zwischen 2,7 Prozent und 4,7 Prozent der Stimmen bekommen hat. Bei den ersten (und einzigen) Parlamentswahlen in Russland, bei denen ich gewählt habe, habe ich ebenfalls dieser Partei meine Stimme gegeben.

Viel erfolgreicher war Iwan Iwanowitsch am Land, in den Regionen. In manchen Wahlbezirken hat er sogar die Wahlen gewonnen, manchmal mit herausragenden 65 Prozent der Stimmen. Eine echte Erfolgsgeschichte.

Dominik Wlazny alias Marco Pogo will mit seiner Bierpartei in den Nationalrat
Dominik Wlazny alias Marco Pogo will mit seiner Bierpartei in den Nationalrat
Helmut Graf

"Gegenalle" hat als Präsident 1996, 2000 und 2004 kandidiert. 2000, als Putin von Jelzin als sein Nachfolger durchgesetzt wurde, war Iwan Iwanowitsch, laut vielen Beobachter:innen Putins einziger echter Konkurrent. Die Gefahr, dass "Gegenalle" am Ende des Tages die Macht übertragen bekommt, war zu groß: Am 12. Juli 2006 wurde Iwan Iwanowitsch von Putin durch Gesetzesänderung "ermordet". Das Wahlgesetz wurde geändert, die Option "Gegen alle" fiel weg. Dem folgten Tötungen im echten Leben: Am 7. Oktober 2006 wurde die durch ihre Reportagen über Kriegsverbrechen im Tschetschenienkrieg bekannte Journalistin Anna Politkowskaja im Stiegenhaus ihres Wohnhauses erschossen; am 23. November 2006 starb der KGB-Überläufer Alexander Litwinenko in London an einer Polonium-Vergiftung.

Am 1. September 2007 habe ich Russland für immer verlassen und die Tragödie entwickelt sich weiter, ein Ende ist nicht in Sicht. Alles fing aber schon damals an, mit der Ermordung von Herrn "Gegenalle".

Es wird langsam Zeit, aus der heutigen Farce zu lernen, bevor sich die Geschichte zum dritten Mal, für die besonders Langsamen und in einer unklaren Form, wiederholt Je länger ich in Österreich lebe, desto öfter kriege ich Flashbacks meiner Kindheit. Jetzt allerdings öfter als Farce. "Ballspiele jeglicher Art verboten", grantige Verkäuferinnen im Schwimmbad. Die Kommunisten, Bierliebhaber und "Gegenalle" auf dem Stimmzettel.

Wandel-Spitzenkandidat Fayad Mulla tritt bei der Wahl unter dem Namen KEINE an
Wandel-Spitzenkandidat Fayad Mulla tritt bei der Wahl unter dem Namen KEINE an
ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com

Es gibt aber wichtige Unterschiede. Die Kommunisten bekommen bei der Nationalratswahl in Österreich viel weniger Stimmen, die Bierpartei mutmaßlich viel mehr, als die ihnen entsprechenden russischen Parteien vor 25 Jahren. Kapitalismus und Wodka waren bestimmende Themen. Und: Mit den beiden Parteien geht es in Österreich bergauf und nicht, wie damals in Russland, bergab.

Die Partei Wandel findet sich unter den Namen KEINE am Stimmzettel. Im Gegensatz zu ihr war "Gegen alle Kandidaten" in Russland ein Instrument der Demokratie, es wurde versucht, den Volkswillen vor Wahlverfälschungen zu schützen. KEINE ist in Österreich eine Mikro-Partei mit einem unklaren Plan, der sich vom Wahlprogramm des nicht existierenden Iwan Iwanowitsch Gegenalle kaum unterscheidet. Wenn man den Kommunisten und der Bierpartei manchmal vorwirft, dass sie die wertvollen roten und grünen Stimmen an sich ziehen, interessiert es mich doch, ob das Antreten von KEINE größere Auswirkungen auf die anderen Parteien hat. Oder keine.

Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Nach seinem Doktorat am Fritz-Haber Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin forschte der gebürtige Russe an der Harvard Universität in den USA. Seit 2014 ist er am ISTA in Klosterneuburg und erforscht atomare, molekulare und optische Physik. Auf seinem YouTube-Kanal Prof. Lemeshko beantwortet er Alltagsfragen aus Physik und Naturwissenschaft

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