Wahl-Kopfnüsse, Folge 25

Morgen um diese Zeit ist die heutige Wahl schon von gestern

Bilanz und Ausblick: Warum der Wahltag wichtig ist, aber der Tag danach viel wichtiger. Für wen die Hochrechnung um 17 Uhr ein Schicksalsmoment ist. Welche Chance im Wahlkampf fahrlässig vergeben wurde. Und: wie ich wähle!

Sei ihr alle da? Jaaaa! Aber wie lange noch? Die Spitzen der fünf Parlamentsparteien vor der Elefantenrunde im ORF
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Der Wahlkampf hinterlässt überall tiefe Spuren, bis hinein in die Frontallappen des Gehirns geht das. Da lässt sich nichts machen. Wer seine Abende vier Wochen lang mit dem immer selben Personenkreis verbracht hat, darf sich nicht wundern. Es ist so, als hätte man zum zweiten Mal seine eigene frühkindliche Prägung durchlebt. Erneut ohne Haare, die Falten stammen aber diesmal nicht vom Polster.

Mit KI-Stimme: Morgen um diese Zeit ist die heutige Wahl schon von gestern!

Im Rahmen der zweiten frühkindlichen Prägung greift man nicht wieder zum Schnuller, man rührt sich in der Früh auch kein Milupa an, sondern bleibt beim Kaffee. Aber man wird seltsam, der Wahlkampf infantilisiert.

Am Samstag fragte mich einer meiner erwachsenen Söhne, ob er bei uns mitessen kann. "Natürlich", antwortete ich, "wir lassen niemanden zurück". So ging das schon den ganzen September über. Ich sah plötzlich überall Brandmauern. Als ich ein bisschen am Hochwasser teilhaben durfte, überlegte ich, mein Haus zu einer Festung auszubauen. Ich schaute warme Mittagessen nicht bloß als warme Mittagessen an, sondern ich betrachtete sie plötzlich als Teil einer politischen Bewegung.

Showdown in Favoriten: SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Babler redete sich beim Wahlkampf-Abschluss faust in einen Rausch
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Ich bin im Wigl Wogl, ob ich mir Sky Shield kaufen soll, oder ob das meine Neutralität gefährdet. Wenn ich mir Schlagobers zur Torte bestelle, überschlage ich grob, ob ich ein Einnahmen- oder ein Ausgabenproblem habe. Ich will plötzlich alles reformieren, träume von einem Windrad im eigenen Kräutergarten und frage mich: Wenn Kickl an die Macht kommt, werde ich dann im Zuge von Remigrations-Maßnahmen nach Klagenfurt deportiert? Und wenn ja, was mache ich dort, außer einen schlechten Eindruck?

Aber jetzt ist zum Glück alles vorbei. Guat is gangen, nix is gschehn. Der Stoßseufzer ist der Jubelschrei des Österreichers, ein Ausdrucksmittel höchster Verzückung, der Seidlalmsprung im persönlichen Hahnenkammrennen. Vier Wochen Wahlkampf, alles überstanden, keiner verletzt.

Am Roten Meer: Für Babler war der Auftritt am Viktor-Adler-Markt ein Heimspiel
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Heute um 17 Uhr wird in Umrissen klar sein, wer die Wahl gewonnen hat und wer eventuell von seiner Bewegung vor die Wahl gestellt wird, in einem anderen Leben etwas zu gewinnen. Neun Parteien treten bundesweit an. Fünf haben eine realistische Chance auf den Einzug in den Nationalrat. Drei Chefs dieser Parteien waren noch nie Spitzenkandidat. Die Frage ist: Wer ist es auch noch danach? Alle fünf? Keiner? Ein paar davon?

Bleibt Karl Nehammer, auch wenn er nur Zweiter wird? Tritt Herbert Kickl zur Seite, um die FPÖ regierungstauglich erscheinen zu lassen? Geht Andreas Babler? Da er nur von den Mitgliedern abgewählt werden kann, liegt das in seiner Eigenverantwortung. Wirft Beate Meinl-Reisinger hin, wenn die NEOS erneut nicht maßgeblich zulegen können und es nicht in die Regierung schaffen? Übergibt Werner Kogler gleich an Leonore Gewessler oder erst in einem Jahr? Möglich ist alles, fix ist nix.

Kann ich die Hand gleich mitnehmen? Verteidigungsministerin Klaudia Tanner mit Kanzler Karl Nehammer bei der Übernahme von 118 Leutnanten ins Bundesheer
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Ich will mit meiner Prognose für die Wahl zuwarten, bis das Ergebnis vorliegt, es analysiert sich so einfach leichtfüßiger. Was vorhergesagt werden kann: Die Gewinner werden ihren Gewinn als Eigenleistung darstellen, die Verlierer ihren Verlust als Fehlleistung von anderen. Medien, Zeitgeist, Umstände, alles wird dafür herhalten müssen, alles hat seine Richtigkeit und ist gleichzeitig falsch.

Meine bescheidene Lebenserfahrung sagt mir: Sich an die eigene Nase fassen, ist in einer solchen Situation immer klüger, als den Finger dazu zu benutzen, auf andere zu zeigen.

Tatsächlich haben die Parteien in den letzten zwei Wochen vor der Wahl eine historische Chance verpasst. Sie hatten sie vor der Nase, sie haben sie nicht gesehen.

Tag der Fahne: FPÖ-Spitzenkandidat Herbert Kickl im Rahmen des Wahlkampfabschlusses am Stephansplatz
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Der aktuelle Wahlkampf zeichnete sich dadurch aus, dass es eigentlich drei Wahlkämpfe gab. Die Phase vor dem Hochwasser, die Phase während des Hochwassers und die Phase nach dem Hochwasser. Wer TV-Duelle vergleicht, der bemerkt, dass sich mittendrin die Tonalität geändert hat. Dass die besprochenen Themen plötzlich andere waren. Dass die Spitzenkandidaten in ganze neue Rollen schlüpften.

Aus Karl Nehammer, dem Feldwebel, der für eine harte Asyllinie, für Messerverbote und Handy-Überwachung eingetreten war, wurde Karl Nehammer, der Feldbesucher, der das Hochwasser surfte. Das war nicht sein eigener Verdienst, die anderen Parteien haben es zugelassen. Sie ließen ihn gewähren. Ein strategischer Wasserrohrbruch.

Als das Hochwasser kam, war klar, was passieren wird. Krise hilft häufig den Regierenden, zumindest zu Beginn. Als die Pandemie ausbrach, explodierten die Werte von Sebastian Kurz. Mitte April 2020, ein Monat nach der Verhängung des ersten Lockdowns, lag die ÖVP bei 44 Prozent, 52 Prozent wollten Kurz direkt zum Kanzler wählen, jeder Zweite gab seiner Regierung ein "Sehr gut".

Fotografisches Gedächtnis: NEOS-Spitzenkandidatin Beate Meinl-Reisinger beim Selfie mit ihrer Band
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Am 12. September 2024 begann es in Österreich zu regnen und es hörte nicht mehr auf. Weite Teile des Landes wurden überschwemmt, vor allem Niederösterreich war betroffen. Der Kanzler machte zunächst alles falsch, was man in einer solchen Situation falsch machen kann. In Österreich war Land unter, Nehammer war Stadt unter. Er tauchte erst in den "Regierungsbunker" ab, dann unter.

Andreas Babler zeigte sich in Feuerwehr-Uniform, Herbert Kickl sprach Betroffenen aus einem Wald und von daheim aus Mut zu. Beide vergaßen, dass sie über kräftige Regionalorganisationen verfügen. Ein kluger Kommunikationsberater hätte in dieser Situation folgendes empfohlen: Der Kandidat unterbricht für sich und seine Partei den Wahlkampf für eine Woche. Er bittet alle Wahlhelfer, die Plakate, die Flyer und die Kugelschreiber stehen und liegen zu lassen, in die Katastrophengebiete zu fahren und dort Schaufeln in die Hand zu nehmen.

Hundertschaften aus Parteihelfern wären zu Familien gekommen, hätten geholfen, wo Not an Mann oder Frau war, geschaufelt, Keller ausgepumpt, Katzen gerettet. Spätestens am zweiten Tag wäre Social Media mit Fotos und Videos geflutet worden. Sie hätten Helfer in Parteijacken gezeigt, die anpacken und zupacken und plötzlich wären die Sprüche auf den Plakaten und in den Reden mit den Taten im echten Leben ineinandergeflossen.

Kann Grünen-Chef Werner Kogler sich heute auch selbst applaudieren?
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Die Roten oder die Blauen oder die Pinken oder die Grünen hätten in die Welt hinausrufen können: "Die anderen reden, wir helfen." Sie hätten neue Plakate affichieren können und auf denen wäre etwa gestanden: "Wenn's drauf ankommt, SPÖ". Jetzt können sie nur mehr hoffen, dass das Hochwasser bei der Wahl keine Rolle spielt.

Denn die 14 Tage davor gehörten Nehammer. Die anderen haben dabei zugeschaut, wie er zum Hochwasser-Kanzler wurde. Geld versprach. Noch mehr Geld versprach. Den Helfern dankte. Die Opfer besuchte. Den Katastrophenfonds höher dotierte. Geld von der EU abholte. Die Hochwasserhilfe aufstockte.

In TV-Duellen stand Nehammer jetzt da, die Schultern hochgezogen und so moderierte er das Hochwasser. Er sprach für alle. Er drückte im Namen aller sein Beileid aus. Er sagte: "Wir stehen an der Seite der Menschen", und meinte vorrangig sich dabei. Es fehlte nicht viel und man hätte erwartet, dass sich die anderen Spitzenkandidaten bei ihm bedanken.

Das alles kann heute eine Rolle spielen, muss es aber nicht.

Ich wünsche einen hochgerechnet wunderbaren Sonntag. Treffen Sie eine gute Wahl! Ach ja, ich habe versprochen, zu verraten, wie ich wählen werde. Gültig! Ätsch! Bis morgen, wenn sie mögen!

Mit KI-Stimme: Auf den letzten Metern wurde der Wahlkampf "Oasch"

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