ZEUGNISTAG FÜR SCHULEN

Sind neun Wochen Sommerferien zu lang? "Ja, definitiv!"

Bildungsexperte Niki Glattauer im Podcast-Interview: Warum Schulen ganzjährig offen haben müssten, wieso er bei der Integration für "Auffangklassen" ohne Lehrer ist und weshalb Schulen buddhistische Tempel sein müssten.

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Niki Glattauer war 25 Jahre Lehrer und zuletzt Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. 2011 fungierte er als einer der Initiatoren des Bildungsvolksbegehrens von Hannes Androsch. Glattauer hat mehrere einschlägige Bücher zum Thema geschrieben, etwa "Der engagierte Lehrer und seine Feinde" und ist heute Bildungexperte, unter anderem für "Newsflix". Im Podcast-Interview zu Ferienbeginn erklärt er, wie Schule besser gehen könnte. Die wichtigsten Passagen:

Ob neun Wochen Sommerferien zu lang sind
Eine Fangfrage an den Ex-Lehrer. Na ja, definitiv, keine Frage.

Für alle, also Kinder, Lehrer und Eltern?
Ja! Jeder freut sich, das ist ganz klar. Aber natürlich sind sie zu lang. Ich bin immer schon ein Verfechter einer völligen Neuordnung des Schuljahres gewesen. Nämlich von einer Schule, die 365 Tage im Jahr offen hat, minus die Wochenenden.

Ob es gar keine Sommerferien geben sollte
Natürlich muss man im Sommer auch Ferien machen können, aber nicht neun Wochen und nicht alle zwangsverpflichtet. Es gibt genügend Schülerinnen und Schüler und deren Eltern, die  ihr Kind im Sommer gern ein paar Wochen in einer betreuten Einrichtung hätten. Und es gibt genügend Lehrer, die im Sommer sehr wohl hierbleiben könnten, auch Schulbetrieb machen würden und zu einem anderen Zeitpunkt des Jahres auf Urlaub gingen, so wie es ja im normalen Leben üblich ist.

Ob man für solche Ideen als Ex-Lehrer gesteinigt wird
Man wird für alles gesteinigt, was eine neue Orientierung bedeutet. Lehrerinnen* sind sehr konservativ, Veränderungen haben leider in der Erfahrung immer wieder zu Benachteiligungen geführt. Es müsste Veränderung so passieren, dass es für die Lehrer, die Eltern, die Schüler besser wird und nicht nur schlechter und mühsamer.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Ob es im Sommer Betreuung oder Unterricht geben soll
Die Grenzen verschwimmen. In meiner Idealvorstellung gäbe es den Unterricht mehr oder weniger ganzjährig. Immer wieder mit lockeren Phasen. Wenn es heiß ist im Sommer oder besonders schön ist im Winter, dann macht man halt nicht den regulären Unterricht, meine Güte. Diese Zeiten, wo man Schularbeitstermine festgelegt hat, die dann entscheidend sind und wenn das Kind nicht auf die Schularbeit mindestens zwei Vierer hat, dann kommt es nicht durch, das ist ja vorbei.

Was eine Schule heute ausmacht
Die Schule hat eine andere Funktion. Sie hat die Funktion eines sozialen Gebildes, in dem Schüler lernen, mit anderen Menschen umzugehen, auch mit Autoritäten umzugehen, ihre eigenen Neigungen und Talente zu erkennen. Dafür muss man nicht immer Hardcore-Unterricht machen.

Warum sich die Schule so wenig ändert
Gerade ändert sie sich sehr. Bis vor ein, zwei Jahren war alles immer gleich. Und es gibt leider in der Politik viel zu viele Menschen, die das Sagen haben, die immer noch gern die Schule hätten, wie sie einmal war.

Warum das so ist?
Jeder ist stolz auf sich und sagt, ich bin durch diese Schule gegangen und aus mir ist auch was geworden, also soll es bei den Kindern genauso sein. Das ist ein grundsätzlich falscher Ansatz.

Martin Polaschek, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, präsentierte diese Woche die Neuordnung für die Vorwissenschaftlichen Arbeiten
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Picturedesk

Welche Zeugnisnote er der Schule momentan geben würde
Naja, so traurig es ist, aber es ist ein "Nicht genügend". Das, was passiert, genügt nicht. Es muss in vielen Bereichen ganz anders herangegangen werden.

Wie er eine Schule auf der grünen Wiese starten würde
Wenn man sich die Schule neu einfallen ließe, dann wäre sie wie ein buddhistischer Tempel. Immer offen, ein Ort der Begegnung, ein Ort der Sozialisierung und natürlich der Wissensvermittlung. Auch ein Ort der Leistung. Leistung ist ganz wichtig. Ich stelle nicht den Leistungsanspruch in Frage.

Was das Personal für diesen buddhistischen Tempel wäre
Nicht nur Lehrerinnen, sondern unterstützendes Personal und zwar je nach Standort, wie man das gerade braucht. Wir hätten eine Schule, die nicht trennt mit zehn Jahren, die nicht auf Auslese aus ist, sondern auf Förderung jedes einzelnen Kindes. Dadurch natürlich viel kleinere Klassen und Gruppen. Das beginnt schon beim Kindergarten, der gehört zur Schule dazu.

Ob die Lehrerschaft da mitgehen würde
Ich glaube, der Reformwille ist größer, als man unterstellt.

Für die Schülerinnen und Schüler in Ostösterreich geht es an diesem Wochenende in die Sommerferien
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Sabine Hertel

Ob Lehrer ein cooler Beruf ist
Im Prinzip sehr. Es ist ein Beruf, wo du sofort Aussage und Wirkung hast. Du machst was und kriegst gleich die Reaktion drauf. Das ist sehr befriedigend.

Ob Lehrerinnen und Lehrer länger unterrichten sollten
Dieses Schlagwort der sogenannten Lehrverpflichtung sollte überhaupt fallen. Auch eine Lehrerin hat 38 Stunden zu arbeiten. Ob sie von den 38 Stunden jetzt 30 Stunden Unterricht macht oder 20 Stunden – wichtig ist, sie hat einfach 38 Stunden für die Kinder da zu sein.

Ob unsere Schulen zu teuer sind
Entgegen der landläufigen Meinung sind die Schulen unterdotiert und nicht überdotiert. Bei uns läuft sehr viel Geld in die Universitäten. Aber die Schule, sprich Volksschule oder eigentlich müsste man den Kindergarten jetzt dazurechnen, da gibt es viel zu wenig Geld, daher gibt es auch zu wenig Personal. Daher sind die Gruppen zu groß und daher können die Lehrerinnen nicht mehr leisten, was sie eigentlich leisten müssten.

Sind unsere Schulen schlecht oder werden sie schlecht geredet?
Die Lehrerinnen sind besser als ihr Ruf. Die Schule an sich macht es ihnen halt sehr schwer. Und wir haben auch Umstände, wie die nicht gelungene Integration seit Jahrzehnten, die sich jetzt in den Schulen besonders stark merkbar macht. Und die Lehrerinnen und Lehrer sind einfach überfordert, vor allem in den Städten.

Das Smartphone soll Teil des Schulunterrichts sein, sagt Glattauer, aber eben nicht immer
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iStock

Was bei der Integration schiefgelaufen ist
Wir haben Schulklassen, wo dich 90 Prozent der Kinder nicht mehr richtig verstehen und nicht imstande sind, sich in der deutschen Sprache so auszudrücken, wie wir es für nötig hielten. Wir sind Lehrerinnen geworden, um den Kindern was beizubringen. Und wenn du schon in den Volksschulen Kinder kriegst, die dich nicht verstehen, während du aber andere hast, die du gymnasiumsreif machen musst, dann ist das ein Spagat. Und wenn du dann Mittelschulkinder hast, die nicht einmal auf Volksschulniveau sind, da verzweifelst du.

Wie das Problem anzugehen wäre
Man müsste sofort die Rettungsanker werfen. Kinder, die jetzt im Zuge des Familiennachzugs nach Österreich kommen, die dürfen wir nicht gleich in die Schulklassen stecken. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, da muss das Schulgesetz geändert werden, bitte jetzt sofort. Diese Kinder gehören in Orientierungsklassen, für ein Jahr, wahrscheinlich sogar länger. Einmal in ein Setting, das kein schulisches ist, wo nicht normale Lehrerinnen drinnen stehen, sondern wo Personal da ist, das ihnen Deutsch beibringt, ihnen Werte erklärt. Das führt sie langsam in unsere Gesellschaft ein und ihre Eltern auch.

Probiert das Wien nicht gerade aus?
Wien macht das eigentlich ziemlich gut momentan, aber mit sechs Klassen. wir bräuchten wahrscheinlich 100 bis 200 solche Auffangklassen oder wie auch immer man das nennt. Und danach werden die Kinder langsam und sinnvoll in ganz Österreich aufgeteilt.

Kinder, die gerade zugewandert sind, gehören nicht in die Schule, sondern zum Deutschlernen in Auffangklassen
Kinder, die gerade zugewandert sind, gehören nicht in die Schule, sondern zum Deutschlernen in Auffangklassen
iStock

Ob das Gymnasium nicht aus der Zeit gefallen ist
Ich würde das Gymnasium nicht abschaffen. Ich glaube, dass die klassische AHS, vor allem in ihren humanistischen Bereichen, die dann nahtlos zu den Unis führen könnte, eine Berechtigung hat. Aber die darf nicht mit elf beginnen, sondern mit 15, 16. Dort sind dann wirklich nur die Kinder, die schon wissen, dass sie genau das brauchen und wollen. Und nicht alle, die vor der Hauptschule flüchten.

Ob Handys aus der Schule verbannt werden sollten
Ich will, dass das Smartphone nicht wegnegiert wird. Es gehört zum Leben des heutigen Menschen mehr als die Geldbörse. Das Handy hat nicht verboten zu werden, Lehrer müssen die Möglichkeit haben, es sinnvoll im Unterricht zu verwenden. Aber auch die Möglichkeit zu sagen: So und jetzt kommt das Handy zwei Stunden lang in die Taschen und wird nicht benutzt.

Ob Eltern die eigentlichen Sargnägel der Schulen sind
Ich habe die Erfahrung weniger, weil ich hatte es immer mit Eltern zu tun, die mich nicht verstanden haben. Aber was ich im Freundeskreis gehört habe, also Eltern können Lehrerinnen das Leben schon schwer machen, vor allem wenn sie glauben, sie wissen es besser.

Ob wir in 20 Jahren dieselben Schuldebatten führen werden
Das kommt jetzt auch darauf an, wie die nächsten Wahlen ausgehen, möchte ich einmal behaupten. Es gibt schon Strömungen, die bereit sind, an der Schule etwas wirklich grundsätzlich zu verbessern. Und dann gibt es Beharrungskräfte.

* Wie in seiner Newsflix-Kolumne, wechselt Niki Glattauer auch im Podcast willkürlich zwischen männlicher und weiblicher Form. Alle anderen Geschlechter sind jeweils freundlich mit gemeint

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