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Wer ist der linke Wüterich, der Frankreichs Rechte stoppte?
Alle Prognosen falsch! Nicht der rechtsnationale Rassemblement National gewann die Unterhauswahlen, sondern das Linksbündnis Volksfront. Die Gründe, was das für Macron heißt. Und warum Babler gratulierte.
Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Für den Sonntagabend waren die Analysen und die Kommentare schon eingekühlt. Die TV-Sender hatten Berichte für Sondersendungen vorbereitet, der Triumph der Rechtsnationalen sollte beleuchtet, der lange Weg von Marine Le Pen an die Macht skizziert werden. Das Porträt von Jordan Bardella war fertig gemalt, der 28-jährige vermeintliche Wunderknabe ist seit 2022 Vorsitzender des Rassemblement National (RN) von Le Pens Gnaden. Und dann passierte das.
Als am Sonntag um 20 Uhr die ersten Exit-Polls, also die Befragungen am Wahltag veröffentlicht wurden, rieben sich viele die Augen: Nicht der Rassemblement National lag vorne, sondern das rot-grüne Bündnis Neue Volksfront (Nouveau front populaire, NFP). Das müssen Sie über den erstaunlichen Wahltag in Frankreich wissen:
Vorab, was wurde eigentlich gewählt?
Nicht der Präsident, sondern die Nationalversammlung, also das Unterhaus des französischen Parlaments. Die zweite Kammer ist der Senat, das Oberhaus. In der Nationalversammlung sitzen 577 Abgeordnete, sortiert in Fraktionen. Ab 15 Abgeordneten kann man eine Fraktion gründen.
Wie ging die Wahl am Sonntag nun aus?
Das rot-grüne Bündnis Neue Volksfront holte die meisten Wahlkreise, das Bündnis Ensemble von Präsident Emmanuel Macron wurde Zweiter, der rechte Rassemblement National landete nur auf dem dritten Platz.
Was heißt "die meisten Wahlkreise"?
Frankreich hat ein ähnliches Wahlsystem wie Großbritannien. Es geht nicht vorrangig darum, landesweit möglichst viele Prozent zu gewinnen, sondern sich Wahlkreise zu sichern. Die Rechnung ist einfach: Wer einen Wahlkreis gewinnt, erhält den Sitz dieses Wahlkreises in der Nationalversammlung, die Stimmen, die an die anderen Kandidatinnen und Kandidaten gegangen sind, "verfallen". Also: "The Winner takes it all".
Wer holte sich nun wie viele Wahlkreise?
Es waren 577 Sitze zu vergeben, Für das Erringen einer absoluten Mehrheit wären 289 Sitze nötig gewesen, dieses Ziel verfehlten alle Parteien deutlich. So ging die Wahl am Sonntag nun aus:
Die neue Nationalversammlung
- Nouveau Front populaire 182 Sitze
- Bündnis Ensemble 168 Sitze
- Rassemblement National 143 Sitze
- Les Républicains 60 Sitze
- Sonstige 24
Wer steckt hinter den Wahlbündnissen?
Für den zweiten Wahlgang waren vor allem die drei großen Wahlbündnisse relevant. Der Rassemblement National ist die Partei der Rechtsnationalen Marine Le Pen. Die Nouveau Front populaire ist ein Bündnis aus Linksparteien und Grünen. Bei Ensemble (eigentlich Ensemble pour la majorité présidentielle) handelt es sich um das Bündnis, das 2021 von Emmanuel Macron gegründet worden war. Es gilt als liberal-konservativ, hat aber auch Sozialdemokraten und Grüne in den Reihen.
Warum hat das Ergebnis so viele überrascht?
Die Plätze für das Unterhaus werden in zwei Wahlgängen vergeben. Wahl Nr. 1 fand am Sonntag vor einer Woche statt, also am 30. Juni. Der Rassemblement national und mit ihm verbündete Parteien holten 33,2 Prozent der Stimmen und siegten deutlich. Die Volksfront Nouveau Front populaire wurde mit 28,0 Prozent Zweiter, Macrons Ensemble mit 20 Prozent Dritter. Konkret: Der rechte RN lag in 297 Wahlkreisen vorne, die Linke in 159 Wahlkreisen, Ensemble von Macron in 70 Wahlkreisen. Es was also quasi angerichtet.
Wieso sind Meinungsforscher, Experten, Medien falsch abbogen?
Klassischer Fall: Es entwickelte sich eine (falsche) Gruppendynamik. Der Sieg des RN wurde als gegeben hingestellt und davon ausgehend alle Ableitungen getroffen. Debattiert wurde nur mehr darüber, ob Le Pen und ihr Musterknabe Jordan Bardella die "Absolute" schaffen oder nicht und das bis kurz vor der ersten Hochschätzung des Ergebnisses. Wir lernen: Nie das Fell des Bären verteilen, bevor man ihn erlegt hat. Und es gibt ein weiteres Argument: Meinungsforschung für Wahlen, bei denen Wahlkreise entscheiden, sind möglich, aber sinnlos.
Hat die Rechte jetzt wirklich verloren?
Am Papier ja, aber um das Dilemma der Meinungsforschung zu erläutern: Der Rassemblement National wurde bei der Wahl trotzdem stimmenstärkste Partei. Schaut man nicht auf die Wahlkreise und nicht auf Wahlbündnisse, sondern auf die einzelnen Parteien, dann ergibt sich ein differenzierteres Bild. Da kam die ultrarechte Partei von Marine Le Pen auf über 8,7 Millionen Stimmen – Platz 1. Und FI La France insoumise, die linkspopulistische Partei von Wahlsieger Jean-Luc Mélenchon, schaffte laut offiziellen Zahlen des französischen Innenministeriums nur 8.361 Stimmen. Das Bündnis machte ihn zum Gewinner.
Wahlergebnis nach einzelnen Parteien
- RN Rassemblement National 8.745.181 Stimmen
- UG Union de la Gauche 7.005.568 Stimmen
- Bündnis Ensemble 6.314.473 Stimmen
- Les Républicains 1.474.649 Stimmen
- UXD Union de l'extrême droite 1.365.039 Stimmen
Was ist tatsächlich passiert?
Die grün-rote Volksfront und das Macron-Lager schlossen einen Pakt. Dazu muss man wissen: Alle Wahlkreise, in denen Kandidaten im ersten Durchgang keine absolute Mehrheit erreichen konnten, kamen in die Stichwahl. In 76 Wahlkreisen gab es am 30. Juni eine "Absolute", etwa in jenem von Marine Le Pen, sie wurde in ihrem Wahlkreis Hénin-Beaumont direkt ins Parlament gewählt. In 501 Wahlkreisen aber musste am 7. Juli erneut gewählt werden.
Was war die Folge davon?
In die Stichwahl kamen Erstplatzierte, Zweitplatzierte und alle, die mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erreicht hatten. Das konnten zwei, drei oder mehr Kandidaten sein. Die grün-rote Volksfront und das Macron-Lager vereinbarten eine Zusammenarbeit, um die Rechtsnationalen zu stoppen: Sie riefen alle ihre drittplatzierten Kandidatinnen und Kandidaten dazu auf, ihr Antreten abzusagen.
Was sollte das für einen Sinn haben?
Nun, gemeinsam Le Pen zu verhindern. In den Wahlkreisen sollte also kein Linker dem Macronlager Stimmen wegnehmen und keiner aus dem Macronlager einem Linken. Es wurde einer aus den beiden Bündnissen (der Besserplatzierte aus dem ersten Durchgang) "ausgewählt", und der oder die trat dann gegen den rechten Kandidaten an.
War das verantwortlich für den Umschwung?
Es schaut fast danach aus. Über 200 Kandidatinnen und Kandidaten zogen sich tatsächlich zurück, sie verzichteten auf ein Antreten in der Stichwahl. Je näher der zweite Wahlgang rückte, desto mehr sackten die Ergebnisse des Rassemblement National ab.
Hat Kylian Mbappé auch etwas mit dem Umschwung zu tun?
Schwer zu sagen, aber seine Stimmte hat in Frankreich Gewicht. Am Rande der Fußball-EM in Deutschland hatte sich der französische Fußball-Superstar zwei Mal mit einem "Wahlaufruf" zu Wort gemeldet, zuletzt am Donnerstag der vergangenen Woche. Das Ergebnis des ersten Durchgangs bezeichnete Kylian Mbappé als "katastrophal". "Mehr denn je müssen wir wählen gehen, es ist wirklich dringend", sagte der Kapitän des Nationalmannschaft. "Wir können das Land nicht in die Hände dieser Menschen legen", und meinte damit den rechtspopulistischen Rassemblement National, ohne ihn beim Namen zu nennen.
Hat das Wahlergebnis unmittelbare Konsequenzen?
Ja, Premierminister Gabriel Attal kündigte noch am Wahlabend seinen Rücktritt an. Der Politiker der "Renaissance" (Partei von Macron) ist erst seit 9. Jänner im Amt. Attal war beim Antritt 34 Jahre alt und damit der bisher jüngste Premierminister Frankreichs.
Wer steckt hinter dem Wahlsieger Volksfront?
Nach der Wahlankündigung von Präsident Macron hatte es das politische System Frankreichs regelrecht zerrissen. Die konservative Partei Les Républicains (die nun nur 63 Sitze erreichte) spaltete sich in zwei Teile auf. Parteichef Éric Ciotti entschied sich für eine Zusammenarbeit mit dem Rassemblement National von Marine Le Pen. Die Partei warf ihn daraufhin hinaus, er klagte dagegen und gewann. Bei den Linksparteien aber lief das anders.
Wie war das bei den Linken?
Überraschend! Die bei der EU-Wahl tief zerstrittene Linke fand sich noch am Tag der Auflösung der Nationalversammlung zusammen und bildete schon vier Tage später die Koalition "Nouveau Front populaire", also Neue Volksfront. Es handelt sich um einen wilden Zusammenschluss aus der Sozialistischen Partei, La France insoumise, Les Écologistes und den Französischen Kommunisten plus einiger Splitterparteien, alles in allem 20. Gesicht nach außen ist der 72-jährige radikale Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon von der Partei "Unbeugsames Frankreich" (La France insoumise, LFI).
Wie reagierte Mélenchon auf den Wahlsieg?
Er forderte die Macht ein. Zunächst stellte er Premierminister Attal den Sessel vor die Tür ("er muss gehen"), dann erhob er den Anspruch auf die Regierungsbildung. "Der Präsident muss die neue Volksfront mit der Regierungsbildung beauftragen", sagte er.
Wer ist der Linkspopulist Mélenchon?
SPÖ-Parteichef Andreas Babler gratulierte der Volksfront noch am Sonntagabend zum Wahlsieg. "Aufbruch", schrieb er und sprach von einem "großartigen Ergebnis". Ob er genau weiß, wofür Mélenchon steht? "Volkstribun" nennen ihn in Frankreich einige, als "gefährlichen Rüpel" bezeichnete ihn die "NZZ". Seine Wutanfälle sind gefürchtet, mit Worten wie "das ist mir scheißegal" bügelt er Kritiker nieder, Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nennt er "Lügner" und "Blödmänner", so die "NZZ".
2016 war er in eine Affäre um Wahlkampfspenden verwickelt. Als in den Büros seiner Partei La France Insoumise ein Hausdurchsuchung durchgeführt wurde, bedrohte er Polizisten, brüllte "die Republik bin ich". Er wurde zu drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Er hasst Deutschland ("Frau Merkel in den Müll"), gilt als heftiger EU-Kritiker, war lange Putin-Fan, unterstützt Anti-Israel-Demos, Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt er ab, Frankreich will er aus der NATO führen.
Was will das Mélenchon-Bündnis Volksfront?
Das ist nicht so ganz klar, obwohl es ein Programm über 150 Seiten namens "Rupture", Bruch, gibt, auf das sich die vier großen linken Parteien plus ihre Splittergruppen im Schnellschuss geeinigt haben. Aber: Die Standpunkte der Parteien liegen in vielen Themen weit auseinander. Beispiel: Die Sozialisten sehen die Hamas als Terrorgruppe an, Mélenchons LFI nennt sie "Widerstandsbewegung".
Und was steht in "Rupture"?
Die Rentenreform von Macron soll rückgängig gemacht werden, man soll mit 60 (derzeit 64) in Pension gehen können. Der Mindestlohn soll von 1.400 Euro auf 1.600 Euro steigen. Die Preise für Nahrungsmittel und Energie will die Volksfront einfrieren, die Löhne automatisch an die Inflation anpassen, den Autobahnbau stoppen. Hohe Profite in der Industrie sollen "scharf" besteuert werden. Die geplante Reichensteuer heißt im Programm "patriotische Anstrengung der Milliardäre".
Warum die Regierungsbildung auch sonst schwierig wird?
Noch am Wahlabend engten erste Stimmen aus dem Volksfront-Bündnis den Spielraum ein. Olivier Faure, Chef der Sozialisten, lehnte eine Zusammenarbeit mit Macron ab. Er werde "keine Koalition" mit der Präsidentenpartei eingehen und "Macrons Politik fortführen", sagte er. Das erübrigt sich vielleicht auch: Macron will Mélenchon unter allen Umständen als Premier verhindern.
Wie reagierte der Doch-nicht-Gewinner RN?
Frankreich werde Mélenchon "in die Arme geworfen", sagte Jordan Bardella und zeigte sich über den Pakt von Linken und Liberalen verärgert. Der RN lasse sich nicht kompromittieren. "Nichts wird ein Volk aufhalten, das zu hoffen beginnt."
Wie hoch war die Wahlbeteiligung?
Mit 66,6 Prozent so hoch wie seit 43 Jahren nicht mehr.
Gab es die befürchteten Ausschreitungen?
Ja, in Paris gerieten auf dem Place de la République Anhänger des Linksbündnisses mit Ordnungskräften aneinander, die daraufhin Tränengas einsetzten. Barrikaden aus Holz wurden in Brand gesetzt. Auch in Lille, Nantes und Marseille kam es zu Zusammenstößen.
Was bedeutet der Wahlausgang für Präsident Macron?
Frankreichs Präsident hat hoch gepokert. Nach dem ersten Wahlgang stand er als großer Verlierer da, nun schaffte er es auf Platz 2, hat nicht mehr die Rechtsnationalen vor der Nase, sondern einen Linkspopulisten. Triumphe schauen anders aus. Die restlichen drei Jahre seiner Präsidentschaft ist er ohne Mehrheit im Parlament. Frankreich steht wirtschaftlich das Wasser bis zum Hals, politisch stolziert es auf wackeligen Beinen.
Warum wurde in Frankreich überhaupt gewählt?
Das fragten sich viele Franzosen auch. Präsident Emmanuel Macron überraschte sein Land am Abend der EU-Wahl am 9. Juni mit der Ankündigung dafür. In Frankreich wird seit 2002 alle fünf Jahre gewählt, die nächsten regulären Wahlen zur Assemblée nationale (Nationalversammlung) hätte es also 2027 gegeben. Der letzte Urnengang fand am 12. und 19. Juni 2022 statt. Parlamentswahlen gab es bisher üblicherweise knapp nach den Präsidentschaftswahlen, dieses System hat Macron nun gekippt.
Aber wieso rief Macron Wahlen aus?
Weil er bei der EU-Wahl ein desaströses Ergebnis einfuhr, dachte er wohl, die Flucht nach vorne wäre nun am besten. Der "Rassemblement national" (Nationale Sammelbewegung) der Rechtspolitikerin Marine Le Pen holte am 9. Juni 31,4 Prozent der Stimmen, ein Plus von fast 13 Prozentpunkten, Macrons Bündnis Besoin d'Europe kam auf lediglich 14,6 Prozent.
Wieso kann der Präsident Wahlen ausrufen?
Artikel 12 der französischen Verfassung gibt ihm das Recht dazu, er muss sich vorab lediglich mit dem Premierminister und den Präsidenten der beiden Kammern des Parlaments beraten (was Macron diesmal wohl ausgelassen hat). Die Wahlen dürfen frühestens 20 Tage und müssen spätestens 40 Tage nach der Verkündigung stattfinden.
Kam das bisher häufig vor?
Nein, erst fünf Mal. 1962 und 1968 unter Präsident Charles de Gaulle, 1981 und 1988 unter François Mitterrand, 1997 unter Jacques Chirac. Heißt also: Was Macron machte, gab es zuletzt vor 27 Jahren.
Warum hat Macron sich für den schnellstmöglichen Termin entschieden?
Das könnte auch mit den Olympischen Sommerspielen zu tun haben, die am 26. Juli in Paris beginnen und bis 11. August dauern. Spiele und Wahlen parallel wären keine gute Idee gewesen.