Johnson-Memoiren
"Als Israels Premier eine Wanze in meinem Klo hinterließ"
"Brexit-Boris" Johnson hat sein Leben aufgeschrieben. Der Buchtitel gibt die Richtung vor: "Entfesselt". Wie der frühere britische Premier über Politiker herzieht, sein "Männergespräch" mit Prinz Harry und warum ihm Entschuldigungen leid tun.
Die Wahrheit geht bei Boris Johnson nicht immer bei Fuß. Für eine gute Geschichte verkauft er zur Not seine Großmutter, das war schon immer so und das könnte auf seine neue Hervorbringung ebenfalls zutreffen. "Unleashed" – man kann es mit "entfesselt" oder "von der Leine lassen" übersetzen – erschien am Donnerstag. Der frühere britische Premier spricht Dinge klarer an als Werner Kogler, in der Länge ähneln sich die beiden. Deshalb ließ sich Johnson nicht einfach so von der Leine, sondern gleich auf 784 Seiten.
Die Memoiren, verfasst im zarten Alter von 60, trafen auf ein recht unterschiedliches Echo. Von "Schmarrn" bis "sensationell" war alles dabei. Was jedenfalls gesagt werden kann: Am Buchcover, das in schwarz-weiß gehalten ist, schaut Johnson relativ frisiert aus. Für seine Verhältnisse jedenfalls. Das ist beim ersten Durchkämmen sonst noch aufgefallen:
Wer ist Boris Johnson überhaupt?
Bekannt ist, dass er drei Jahre lang (2019 bis 2022) britischer Premierminister war. Bojo, wie die Briten sagen, heißt eigentlich Alexander (sein tatsächlicher Rufname) Boris de Pfeffel (weil er deutsche Vorfahren hat und über fünf Ecken mit der Queen verwandt ist). Er wurde in New York geboren, sein Vater studierte an der Columbia Volkswirtschaft. Seine Mutter Charlotte Fawcett war Malerin mit Vorliebe für Porträts, Landschaften, Stillleben. Mit 9 kam Boris nach Brüssel, sein Vater erhielt einen Job in der EU-Kommission.
Ist er der bildungsferne Rabauke, als der er immer dargestellt wird?
Bildungsfern trifft es gar nicht. Johnson ging auf das Eliteinternat Eton, zeigte sich dort gelangweilt bis brillant. Nach einem Jahr in Australien (wo er Latein und Englisch unterrichtete) studierte er in Oxford antike Geschichte. Schon da war er als hochintelligenter gleichwie bunter Hund bekannt und Präsident des Uni-Debattierklubs. Abseits des Klamauks ist Johnson nicht der Idiot, als der er immer dargestellt wird, sondern ein Intellektueller, mit dem man sich in Altgriechisch unterhalten kann. Sofern man es selbst beherrscht.
Also doch kein Rabauke?
Nun ja. Max Hastings, früherer Chefredakteur beim "Daily Telegraph", sagte im "Guardian" über ihn: "So ziemlich die einzigen Leute, die Johnson für einen netten Kerl hielten, sind diejenigen, die ihn nicht kennen." Drei Ehen, sieben Kinder (soweit man weiß), unzählige Affären (weshalb man die Zahl der Kinder nicht so genau kennt).
Woher kommt der Ruf?
Er ist wohlerworben. Nach dem Studium wurde Johnson Journalist, flog wegen erfundener Zitate bei der "Times" raus, ergatterte dann aber beim "Daily Telegraph" eine Korrespondentenstelle in Brüssel. Und er fing mit der Schwindelei an.
Was ist darunter zu verstehen?
Er erfand in seinen Kolumnen Räubersgeschichten über die EU. Ein paar hatten zumindest einen wahren Kern, bei anderen fehlte er gänzlich. Johnson schrieb über die Normierung von Kondomen (halbwahr), die geplante Sprengung des EU-Hauptsitzes Berlaymont (Nonsens). Er dichtete EU-Abgeordneten Schlösser als Wohnsitze an.
Warum flog er nie wirklich auf?
Weil viele seine Geschichten originell fanden, jedenfalls interessanter als trockene Berichte über EU-Materien. "Er war der Inbegriff von Übertreibung, Verzerrung und Lüge. Er war ein Clown – ein erfolgreicher Clown", sagte der inzwischen verstorbene EU-Sprecher Willy Hélin einmal.
Da passen die Memoiren gut ins Bild, oder?
Ja! "Unleashed" ist bei HarperCollins erschienen. Das Buch kostet 41,95 Euro. "Unleashed – Entfesselt" heißt übrigens auch ein Film mit Morgan Freeeman und "Kampfmaschine" Jet Li. Untertitel: "Zum Kämpfen geboren".
Warum beginnt das Buch mit Hasta la vista, Baby"?
Mit dem Zitat vom Arnold Schwarzenegger aus "Terminator 2" hatte Johnson seine letzte Parlamentsrede im Juli 2022 geschlossen. Ein zarter Hinweis darauf, dass er sein politisches Leben noch nicht für auserzählt hält.
Wer kommt im Buch vor?
So ziemlich jeder, der Johnson im Leben begegnet ist und das meist nicht schmeichelhaft. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nennt er "eine echte Plage", der versucht habe, "seine Stiefeletten mit den kubanischen Absätzen ins Brexit-Großbritannien zu stecken." Was die illegale Migration beträfe sei Macron "blind". Für den Brexit wollte er den Briten zur Strafe "eine Tracht Prügel" verabreichen.
Wer wird sonst noch beflegelt?
Seine Vorgängerin Theresa May etwa, sie sei "schulmeisterlich", "selbstgerecht und eine ""mürrische alte Unterhose". Er sei von ihren Nasenflügeln fixiert gewesen. Dazu Leonardo DiCaprio (der sich nicht mit ihm treffen wollte), Emma Watson (die ihn auch abblitzen ließ), seine Nachbarn in der Grafschaft Oxfordshire (die Europafahnen gegen ihn hissten), frühere Wegbegleiter wie Berater Dominic Cummings ("versuchte, meine Regierung zu untergraben"), Barack Obama ( er soll aus Hass gegen die Briten im Weißen Haus ein Büste von Winston Churchill entfernt haben).
Zum Lesen: Das 2. Corona-Tagebuch
Warum Johnson bei Churchill sensibel ist?
Weil der legendäre Kriegs-Premierminister sein Idol und sein politischer Lebensmensch ist. Er bewundert ihn fast mehr als sich selbst. Johnson hat 2015 mit "Der Churchill-Faktor" eine beeindruckende Biographie des Zigarrenqualmers (Double Coronas, bis zu 10 Stück am Tag) vorgelegt.
Was schreibt Johnson über seinen Nachfolger?
Er kritisiert vor allem Keir Starmers zögerliche Haltung bei der Öffnung der Schulen während der Pandemie, die er vorantrieb. Der Labour-Chef und heutige Premier habe ihm mit einem "verwundert wirkenden Gesichtsausdruck" angeschaut "wie ein Ochse, dem unerwartet ein Thermometer in den Enddarm geschoben wird".
Wie war das mit Benjamin Netanjahu und dem Klo?
Johnson behauptet im Buch, der israelische Premier (dem er sich sonst sehr verbunden zeigt) habe während seiner Zeit als Außenminister ein Abhörgerät in seinem privaten Badezimmer hinterlassen. "Als sie (gemeint ist seine Security, Anm.) eine routinemäßige Suche nach Wanzen durchführten, fanden sie ein Abhörgerät in der Donnerbox" (mit "thunderbox" ist die Toilette gemeint).
Was war mit Prinz Harry und der Queen?
Er habe Harry abgeraten, mit seiner Ehefrau Meghan in die USA zu ziehen, schreibt er, er habe sogar "ein Männergespräch" mit ihm darüber geführt, was immer damit gemeint ist. Über Elizabeth II. plauderte er aus, dass sie "an einer Form von Knochenkrebs litt". Ein Bruch aller Konventionen. Zwischendrin streut er ein: Prinzessin Annes Hund habe einen Corgi der Queen "ermordet".
Geht es im Buch auch um Politik?
Johnson unterscheidet da nicht sehr. In seiner Zeit als Politiker war er mit unzähligen Skandalen konfrontiert. Der Luxusurlaub mit seiner späteren Ehefrau Carrie Symonds auf Mustique, bezahlt von einem Geschäftsmann, die sündteure Renovierung seiner Wohnung, bezahlt von der Partei, seine Parties während der Pandemie – die Liste ist lang.
Gibt es auch viel Nonsens?
Aber ja! Er verwendet teilweise Comic-Sprache, schreibt dann "Kapow! Kaboom!" in Großbuchstaben. Zwischendurch auch Sätze wie: "Ich habe immer behauptet, meine Chancen, Premierminister zu werden, seien ungefähr so groß wie die, als Olive wiedergeboren oder von einem Frisbee geköpft zu werden." Von einem Treffen mit Meghan Markle auf einer Beerdigung blieb ihm in Erinnerung: "Wenn man näher kommt, riecht sie nach Gardenien …"
Stimmt die Corona-Geschichte?
Schwer zu sagen. BoJo schreibt, dass er während der Pandemie eine Eliteeinheit im Schutz der Dunkelheit per Schlauchboot über den Ärmelkanal schicken wollte. Die EU habe ihm fünf Millionen Impfdosen Astra-Zeneca vorenthalten (er nennt das "gekidnappt"), er wollte sie zurückholen lassen. Er blies das Unterfangen schließlich ab. "Wir hätten erklären müssen, warum wir bei einem langjährigen NATO-Verbündeten einmarschieren."
Hat Johnson Selbstzweifel?
Wenn dann schimmern sie im Buch nicht durch. Für die Corona-Parties entschuldigte er sich nicht. Im Gegenteil, es tue ihm leid, dass er sich bei Ausbruch des Skandals aufrichtig entschuldigt habe. Den Brexit nennt er "richtig".
Was bleibt nun vom Buch?
Die "Times" nennt "Unleashed" "ein "wichtiges historisches Dokument, aber nicht unbedingt ein wertvolles". Sie gesteht aber ein, dass das Buch "den größtmöglichen Spaß" bietet, "den man haben kann, wenn man über einen Mann liest, der das Land fast in die Tonne getreten hätte".