Tagebuch einer Pandemie
Corona-Kopfnüsse, Kapitel 8: Sommermärchen ohne Happy End
Lesen Sie im achten Teil der Corona-Tagebücher, wie der Bildungsminister in Eck gestellt wurde.
Kapitel 8: Sommermärchen ohne Happy End
2. Juli 2020 Die Wachablöse
Eine Ampel soll jetzt Corona stoppen. Dem Bildungsminister half sie nicht, er wurde einfach so angefahren.
Heinz Faßmann wusste anfangs nichts, später wenig. In Oberösterreich wurden in fünf Bezirken die Schulen zugemacht. Für über 100.000 Kinder begannen die Ferien um eine Woche früher. Die wesentlichen Entscheidungen fielen ohne den Bildungsminister, er war nicht eingebunden, wurde nur darüber "informiert", selbst als die Schließungen schon publik wurden, fand die Debatte ohne ihn statt.
Es war merkwürdig, so als wäre Faßmann schon in die Ferien gefahren, man sprach über ihn, aber nicht mit ihm. Wähler kennen das, sie werden von Politikern oft so behandelt, für einen Minister ist das neu, sogar ein Rücktritt wäre nachvollziehbar gewesen. Faßmann hätte sagen können, "Ihr macht das so super ohne mich, ich will euch nicht weiter im Weg stehen, habt mich gern, ich mag euch auch, jetzt halt aus der Ferne."
Aber er tat das nicht, er blieb im Amt, weil man in der Regierung Kurz auch lernen muss zu schlucken. Faßmann trat in der ZiB 2 auf, er war aus dem Stadtstudio zugeschaltet, ich sah seinem Gesicht an, dass ihm eine Laus über die Leber gelaufen war oder ein Kurz über die Nieren oder ein Anschober über die Milz, da hatte er noch keinen Ton von sich gegeben. Er halte so große Schulschließungen für "nicht opportun", sagte er mit der Zurückhaltung eines Vatikan-Botschafters, er wolle "im Herbst differenzierter vorgehen". Ja, der Herbst, so weit weg, so nah.
Was, wenn im Herbst überall Oberösterreich ist? Wenn die Länder sagen, okay da gibt es in Wien einen Minister, der ist sehr groß und mag für allerlei zuständig sein, für die gesunde Jause eventuell, aber Wien ist halt nicht der nächste Weg und wir gehen unseren eigenen. Was, wenn dann ein paar – oder alle – einfach die Schulen zusperren, statt sie zu öffnen und wenn sie freundlich sein wollen, schicken sie dem Minister eine Ansichtskarte mit dem Wilden Kaiser drauf oder dem Klopeiner See, "Essen gut, Wetter gut, wir melden uns, wenn wir die Kinder wieder in die Klassen lassen, baba."
So weit ist es noch nicht, aber für Faßmann setzte es hierarchische Gnackwatschen, die Bundesländer trainierten ihre Macht, der Rücken des Bildungsministers bekam davon den Muskelkater. Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer gab an, sein Vorhaben ohnehin mit Sebastian Kurz besprochen zu haben. "Ich bin in engem Kontakt und Austausch mit dem Bundeskanzler und dem Gesundheitsminister, mit denen ich auch alle Maßnahmen abstimme. Ich gehe davon aus, dass die Abstimmung zwischen den Ministerien in Wien weiterhin reibungslos funktioniert," sagte er. Heißt dreierlei: Ich bin nicht schuld. Ich habe ohnehin mit dem Chef telefoniert, was brauche ich da noch den Abteilungsleiter? Und: Haben die Minister gar untereinander ein Kommunikations-Durcheinander? Oje!
Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, Türkis oder Schwarz, hörte die Botschaft, aber sie ist wohl mehr "Team Stelzer", ebenfalls Türkis oder Schwarz, als "Team Faßmann", ebenfalls Türkis oder Schwarz. "Bei großflächigen Schließungen", sagte sie, "halte ich es für zielführend, ganz kurz ans Telefon zu gehen und das zu besprechen." Dieses "ganz kurz ans Telefon gehen", ist das neue "den Minister über eine Entscheidung unterrichten". Es klang mehr nach Ansichtskarte als nach gemeinsamer Wegerkundung. Ich habe einen Vorschlag: Vielleicht könnten die Regierung und die Bundesländer das klären, sonst sind im Herbst wieder die Eltern die Dummen und ich kann das nur für meinen Teil sagen, ich bin das höchst ungern.
Nun aber erhalten wir eine Corona-Ampel. Es wurde eine Kommission eingesetzt, die Kriterien festlegen soll, wann die Ampel auf Grün, Gelb, Orange oder Rot schalten soll, die Durchführung erfolgt dann manuell automatisch. Rot wird manchmal Orange sein, Gelb wiederum zuweilen auch Orange, nur Grün bleibt immer Grün. Vier Kriterien entscheiden, was eingeschaltet wird, nicht allein die Zahl der Neuinfektionen, sondern auch die Menge der Tests, die Belegung der Spitalsbetten und die Cluster-Analyse, also ob man weiß, wo sich die Infizierten das Virus eingefangen haben.
Das pendelt. Der Krisenstab der Regierung fragt nämlich jeden Tag in der Früh die Gesundheitsämter der einzelnen Bundesländer nicht nur nach der Zahl der Neuinfektionen, er will auch wissen, wo sich die Betroffenen angesteckt haben. Im besten Fall konnte man bei 97 Prozent die Infektionsketten rekonstruieren, es gab aber auch einen Tag, da schaffte man es in einem Bundesland nur zu 47 Prozent. Jeder zweite Fall blieb also ungeklärt.
Das macht aber nichts. Für die "Corona-Ampel" wird nun eine "Generalprobe" durchgeführt. Dann wird man wissen, in welcher Farbe die einzelnen Bezirke strahlen, man wird es aber wiederum nicht wissen, denn das Ministerium will es nicht verraten. Auch nicht, was eigentlich passiert, wenn etwa Wien oder Mistelbach auf Rot gestellt wird. Ich ahne, was geschieht: Der jeweilige Bürgermeister ruft an und legt mehr oder weniger deutlich dar, was er von den Konsequenzen, die man nicht kennt, genau hält.
16. August 2020 Testen? Probieren wir es einfach!
Corona fuhr nicht auf Urlaub, Österreich schon. Die Maskenpflicht in Supermärkten kehrt zurück.
Der Kanzler wollte bis Ende August eigentlich schweigen. Schweigen darf man sich bei Kurz grundsätzlich nicht so vorstellen wie bei den "Zisterziensern der strengeren Observanz". Der Kanzler ist kein Mönch, er spricht in dieser Zeit schon, allerdings nur mit ausgewählten Medien, er wird schon wissen warum.
In der Epoche seines beredten Schweigens bürdete sich Kurz eine neue Rolle auf, er ist nun Regierung und Opposition gleichermaßen. Er präsentiert also als Kanzler Maßnahmen, etwa mehr Corona- Tests, mehr Grenzkontrollen, mehr von allem Möglichen, und wenn das dann nicht richtig flutscht, dann kritisiert er die Durchführung der Maßnahmen seiner eigenen Regierung. Ich denke, er wird sich bei der nächsten Wahl zwei Mal auf den Stimmzettel schreiben, TV-Duelle mit sich selbst abhalten und dann brutale Koalitionsverhandlungen unter zwei Augen führen, die vor Weihnachten in einem hart errungenen Pakt münden. Das Beste aus beiden Welten wird es sein, auch wenn es nur eine Welt ist. Seine.
Am Sonntag unterbrach der Kanzler das selbstauferlegte Schweigegelübde und lud Medien zu sich, um sich vor ihnen zu erleichtern. Er appellierte, "vorsichtig" zu sein, warnte vor einem zweiten Lockdown, sagte, das Virus käme nunmehr "mit dem Auto nach Österreich". Das ist ein sehr plakatives Bild, nicht ganz stimmig, denn das Virus nutzt natürlich auch andere Verkehrsmittel, Flugzeuge zum Beispiel, Ischgl besitzt darin Expertise.
Der Kanzler trat aus der Tür des Hinterzimmers in den dunkel-holzgetäfelten Raum, sagte "Grüß Gott" und noch einmal "Grüß Gott", falls der Herrgott für einen Moment abgelenkt oder müde war, am Tag davor war schließlich Mariä Aufnahme in den Himmel und das war sicher viel Arbeit für ihn. Kurz nickte mit dem Kopf, damit die Cutter vom Fernsehen später wissen, wann sie den Vortrag schneiden müssen. Er faltete die Hände, ein bisschen "Zisterzienser der strengeren Observanz" steckt doch ihn ihm, dann redete er nicht ganze zehn Minuten darüber, wie es so um uns steht.
Die Informationspolitik der Regierung scheint grundsätzlich etwas in Richtung Originalität zu metamorphosen. Als wir Donnerstag im Bildungsministerium anriefen, wie es denn um die Herbstpläne für die Schule stünde, bekamen wir eine verblüffende Antwort. Heinz Faßmann werde sich Montag in einer Pressekonferenz dazu erklären. Allerdings werde er schon Sonntagabend in die ZiB 2 gehen, um zu erklären, was er am Montag erklären will. Weil am Montag nämlich "Sommergespräche" stattfinden, sind alle Stühle der ZiB 2 besetzt, folglich keiner für den Minister frei. Deshalb verlegte Faßmann seinen Auftritt einen Tag nach vorne. Nur falls jemand glaubt, Verlautbarungen dieser Art und Güte würden sich nach dem Informationsbedürfnis der Bevölkerung richten.
Das Anerbieten, doch den Medien eventuell vorab zu verraten, was der Minister in der ZiB 2 und dann am Tag darauf dem journalistischen Fußvolk sagen will, wurde abschlägig beschieden. Man müsse sich bis zur Aufzeichnung des ZiB 2-Interviews gedulden. Wir werden uns in der Redaktion in Hinkunft also mehr Fernseher anschaffen und die Ministersekretäre können uns dann zurufen, welche Sendungen wir uns anschauen sollen, damit wir in die Zeitungen schreiben können, was die Ministerriege den Bewegtbildkollegen verraten hat. Das ist noch nicht ganz Weißrussland und auch nicht Ungarn, aber die Richtung stimmt.
Ach ja, falls sie sich fragen, warum Kurz überhaupt frühzeitig wieder aufgetaucht ist, dann schauen sie die nächsten Tage einfach genauer hin. Zwischen Bund und Wien ist der Kampf um die Testhoheit voll entbrannt. Michael Ludwig sperrte beim Wiener Stadion ein Testcenter auf und erweiterte es am Wochenende, weil der Ansturm so groß war.
Der Bund konterte mit Gratistests unter der Telefonnummer 1450, auch für alle ohne Symptome. Die Presseaussendung dazu wurde in solcher Hast erstellt, dass der Eingangssatz doppelt hingeschrieben wurde. Auf Twitter beeilte sich Rudolf Anschober, die Botschaft unter die Leute zu bringen, dass die Regierung die Tests in Wien finanziere. Genaugenommen peckt das der Steuerzahler, aus welcher Tasche, erscheint ziemlich wurscht. Zwei Fragen dürfen erlaubt sein: Warum gab es das nicht schon früher? Und warum dauert die Auswertung drei Tage? Drei Tage, in denen die Getesteten alle in ihrem Umkreis anstecken können. Schon wieder so viele Rätsel.
30. August 2020 Der Kanzler ist zurück. Und wie!
Der Blick in die weite Ferne gelingt gut, was nächste Woche passiert, ist unklar. Vor allem für Eltern von Schulkindern.
In 115 Tagen ist Weihnachten, nur falls Sie schon bei Amazon bestellen wollen. In die Geschäfte werden wir heuer wohl nicht kommen, außer maskiert wie Bienenzüchter oder Marsmännchen auf Schullandwoche auf der Erde. Ende letzter Woche kam bei mir Erleichterung auf, denn ich vernahm, dass trotz Corona auch dieses Jahr Weihnachtsmärkte stattfinden werden. Am Wiener Rathausplatz wird es zwar Security am Eingang geben, Bodenmarkierungen, Einbahnstraßen, Punsch in der Flasche statt im Häferl und in der Volkshalle werden keine Vanillekipferln gebacken, sondern hier wird eine Covid-Teststation aufgebaut, aber hallo. In einem Jahr, in dem wir beim Christkind nicht auf die Geschenke achten, sondern darauf, ob das Christkind irgendwie gefährlich hustet, wird uns das auch nicht auf den Keks gehen.
Ich weiß also über Covid-Weihnachtsmärkte, die in zweieinhalb Monaten aufsperren, ausreichend gut Bescheid, wenig dafür über die Schule, die in einer Woche öffnet. Sieben Tage vor Start kenne ich niemanden mit Kindern, der von Ministerium oder Schule relevante Informationen erhalten hätte, wie das alles vor sich gehen soll. Also es gibt schon einen Plan für den Schulbeginn, aber gegen den ist ein Emmentaler lückenlos.
Gottlob wird am Freitag die Ampel geliefert, eventuell ist auch die Interpretation der Farben beigepackt. Rot heißt ja nicht überall rot, mit dem Schmäh werde ich bei der nächsten Verkehrskontrolle punkten. Die Eltern werden gegen Wochenende hin auch wissen, ob ihre Kinder drei Tage später in die Schule gehen können oder doch daheimbleiben müssen. In den 72 verbliebenen Stunden lässt sich problemlos Betreuung organisieren, die Großeltern haben auf ihre Rollatoren schon die Niederquerschnittreifen montiert, damit sie schneller bei den Enkerln sind, wenn es nicht funktioniert mit dem Schulanfang.
Eventuell springt die Ampel aber auch nicht auf Rot, sondern auf Orange und die Kinder müssen vielleicht, vielleicht aber auch nicht nur Masken tragen. Dann sollten die Eltern gleich einmal mit dem Waschen beginnen. Mehr als zwei Stunden sollte man den Mund-Nasenschutz nämlich nicht tragen, spätestens dann ist er so feucht, dass er unbrauchbar wird. Wer seine Buben und Mädchen in Ganztagesschulen hat, braucht also sechs Masken pro Tag pro Kind. Ich nehme aber ohnehin an, dass die Schulen im Sommer mit Desinfektionsmitteln und Mund-Nasenschutz versorgt worden sind und alles am ersten Schultag zur freien Entnahme vorhanden ist. Oder? Oder?
Falls Sie es noch nicht gemerkt haben: Sebastian Kurz ist aus dem Urlaub zurück, er hat in den letzten Tagen ein paar Brotkrumen als Hinweise fallengelassen. Genau genommen hat er den Journalisten durch die Blume gesagt, dass sie sich jetzt nicht mehr um die anderen Parteien kümmern müssten, die hätten den ganzen Sommer über ohnehin ihren Spaß gehabt, aber jetzt sei er wieder da. Man sollte den Scheinwerfern sagen, wohin sie leuchten müssten, die Erde kreist schließlich auch um die Sonne und nicht umgekehrt.
Zur Einstimmung ging der Kanzler mit dem Bundespräsidenten zum Heurigen, man bürstelte angeblich Weißwein und völlerte Schweinsbraten, auf den Fotos sah es eher aus als würde sich der Schwiegersohn der Familie seiner Braut vorstellen. Nachdem man die Bilder in den Medien unterbracht hatte, folgten Fotos aus dem Schweizerhaus. Sie zeigten den Kanzler mit ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian und Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, die alte Sozialpartnerschaft, da war sie wieder, man könnte Tränen in den Augen haben. Diesmal stand Bier am Tisch, man prostete einander zu. Kurz trinkt eigentlich kein Bier, vielleicht hat er es in den Kies geschüttet, nachdem der Fotograf, den er selbst einbestellt hatte, gegangen war.
Der Kanzler hatte beschlossen, nicht einfach so aus dem Urlaub zurückzukehren, sondern mit einer Erklärung, die eigentlich eine Rede an die Nation war, aber Pressekonferenz getauft wurde, weil pro forma Fragen gestellt werden konnten, die der Kanzler beantwortete, aber irgendwie auch nicht. Die Erklärungsredepressekonferenz fand am Freitag im Kanzleramt statt, der Inhalt war keine Überraschung, denn die wesentlichsten Tortenstücke waren den Medien schon die Tage zuvor mundgerecht serviert worden.
Am Freitag stand Kurz im Kongresssaal vor einem Kamin, das hat er sich vielleicht von Donald Trump abgeschaut, immerhin brannte kein Feuer. Im Kamin, in Kurz schon. Die Scheinwerfer waren so postiert, dass der Kanzler bei seiner Erklärungsredepressekonferenz sogar gleich zwei Schatten warf. Den Rest des "virologischen Quartetts" hatte er daheim gelassen, aber er grüßte alle artig, auch die Landeshauptleute, er weiß eben, wie Österreich funktioniert. Der Kanzler wackelte viel hin und her hinter dem Mikrophon, versprach sich ein paarmal, die beiden Schatten hinter ihm hüpften stets fröhlich mit. ORF 2 übertrug live, die Rede wurde vorher analysiert, noch ehe sie gehalten worden war, danach wurde sie noch einmal analysiert, die Folge "Einer stirbt immer" von "Kommissar Rex" entfiel.
Es sollte eine Erklärungsredepressekonferenz sein, die Hoffnung versprüht, Mut macht hinein in einen Herbst der Unwägbarkeiten. Kurz sprach vom "Licht am Ende des Tunnels", das er sehe. Mich hat das nicht sehr frohgemut gestimmt, denn wir sind schon ziemlich lange unter der Erde unterwegs Richtung Erleuchtung. Anfang April, ein paar Tage nachdem der Kanzler von den Toten gesprochen hatte, die bald jeder kennen werde, hatte der Gesundheitsminister schon vom "Licht am Ende des Tunnels" gesprochen und das als "gutes Zeichen" gedeutet. Ich meine, wenn ich vier Monate lang auf etwas zufahre, das leuchtet, dann sollte ich mittlerweile wissen, ob es ins Freie geht oder ob die Heiligen Drei Könige auf mich zukommen.
Im Sommer 2021, sagte der Kanzler, werde vermutlich alles wieder normal sein. Es ging nicht weiter darauf ein, warum er das glaubt, aber vielleicht hat er es mit Corona vereinbart. "Covid, altes Haus", wird er gesagt haben, "du kannst dich den Winter über noch austoben, außer in den Seilbahnen vielleicht, aber irgendwann ist dann Schluss. Ich meine, Urlaub in Kärnten ist ganz nett, aber die Leute sind etwas schwer zu verstehen und ein richtiges Meer ist der Wörthersee auch nicht".
Es war keine Rede der großen Visionen, kein Feuerwerk, kein Kennedy und kein Martin Luther King sprach zu uns. Erklärungsredepressekonferenz wird nicht in den Schulbüchern abgedruckt werden, außer natürlich die ÖVP besteht darauf. Aber sie machte eines klar: Der Kanzler passt perfekt zu Österreich und Österreich passt perfekt zu ihm. Er versprach keine Mondlandung am Ende des Jahrzehnts, aber Caorle im Sommer 2021, Sandstrand statt Mondstaub. Einmal während der Rede dachte ich mir, jetzt spricht er die große, weite Welt an, aber dann schränkte er es gleich wieder auf die Länder ein, die so klein sind wie wir.
Nachdem das Internet und das Radio und das Fernsehen und die Zeitungen über die Erklärungsredepressekonferenz berichtet hatten, gab der Kanzler am Tag darauf Interviews in Serie, allesamt versehen mit Sperrfrist Samstag 19.30 Uhr. So dominierte er die Samstagmedien mit seiner Erklärungsredepressekonferenz und den Sonntag mit den Interviews. In Österreich erscheinen 14 Tageszeitungen, davon hatten 11 am Sonntag zumindest online ein Interview mit dem Kanzler, die restlichen drei berichteten über die Interviews der anderen Zeitungen mit dem Kanzler. Die "Tiroler Tageszeitung" verpasste ihrem Gespräch im Internet die Überzeile "exklusiv", das kann ich so nicht bestätigen.
2. September 2020 Kurz, der ORF und ein Gelsenbiss
Sommer vorbei, die Regierung versucht es nun mit einer neuen Strategie. Wir sind überrascht. Aber nur kurz. Oder Kurz. Der wird im ORF fast von einer Gelse gefressen.
Vielleicht trauen wir in ein paar Wochen unseren Augen nicht mehr. Sebastian Kurz zieht im bunt gebatikten T-Shirt über die Kärntner Straße, schlägt mit der flachen Hand auf eine Trommel und chantet das Mahamantra: "Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna". Er hat das Haargel weggelassen, die Matte hängt ihm vorne fast bis runter zur Brust, immer wieder muss er die Zotten wegschieben. "Du bist echt ganz schön geläutert, Bruder", wird einer aus der Gruppe sagen, die ihn begleitet. "Ja", wird der Kanzler antworten, "ich habe mich von allen Zwängen befreit, keine Verbote mehr, nur mehr Freiheit. Love Peace und Vollgas".
Es ist schon erstaunlich, was passiert in diesem Land. Vor ein paar Monaten noch sperrte uns die Regierung in unsere eigenen vier Wände ein. Wer aus dem Haus ging, musste fürchten, dass ihm ein Sniper vom Dach gegenüber die Beine wegschießt. Die Polizei fuhr mit Folgetonhorn durch die Straßen, okay manchmal erschreckte sie uns auch bloß mit "I am from Austria", jedenfalls wollte sie mit Präsenz und Lautstärke ihre Macht demonstrieren. Wer auf einer Parkbank den Gänseblümchen beim Wachsen zusah, bekam eine Geldstrafe von 500 Euro aufgebrummt, Nachbarn spielten Stasi, der Innenminister holte die Flex aus dem Keller. Und jetzt? Jetzt werden wir mit Pfauenfedern ins Haus zurückgekitzelt. Plötzlich heißt es nicht mehr "wir müssen", sondern "wir sollen". Das ganze Land eine einzige Kommune, Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna.
Am Mittwoch gab das "virologische Quartett" die erste gemeinsame Pressekonferenz seit Ewigkeiten, seltsam weit weg kam uns das vor, so als würden wir uns im Fernsehen eine Folge "Lassie" oder "Daktari" anschauen. Die Tage davor war darüber spekuliert worden, was nicht alles kommen würde an neuen Verboten. Eine Ausweitung der Maskenpflicht galt als so gut wie sicher, die Sperre von Veranstaltungen mit mehr Besuchern als Oma und Opa schien eine ausgemachte Sache. Und dann? Sagt die Regierung, dass wir uns um unseren Kram ab nun selbst kümmern sollen. Ziemlich riskant, aber Love, Peace and Vollgas.
Das Plexiglas war wieder da. Mit einer Viertelstunde Verspätung kamen der Kanzler, der Vizekanzler, der Gesundheitsminister und der Innenminister in den Kongressaal des Kanzleramtes, der Schritt zügig, die Choreographie wirkte wie gemeinsam mit dem Cirque du Soleil einstudiert. Die vier warfen einander Blicke zu, nahmen wie auf Kommando alle zeitgleich den Mundschutz ab und parkten sich hinter den Plexiglasscheiben ein, die zornig 83 Tage im Lager des Kanzleramtes genau auf diesen Moment gewartet hatten. Jetzt standen sie da, blankgeputzt und stolz, weil sie plötzlich wieder gebraucht wurden.
Der Kanzler beginnt, er gibt zunächst so eine Art Best off aus den "Sommergesprächen", seinem Interview in der "Kronen Zeitung" und der Rede zur Lage der Nation. Der Tunnel ist wieder da und das Licht am Ende ebenso, auch der Sommer 2021, der normal werden soll, was immer man darunter auch verstehen mag. Bei der Impfung zaudert er mehr als der Gesundheitsminister, man könnte Rudolf Anschober auch als Optimismusüberholer bezeichnen. Der Kanzler hatte von einer Impfung vor dem nächsten Sommer gesprochen, der Gesundheitsminister konterte ihn tags darauf aus und nannte den Jänner als Startdatum. Irgendwann im Herbst wird Werner Kogler zu einer Pressekonferenz kommen, ein paar Ampullen auf den Tisch knallen und sagen: "Do hobts des Zeig".
Wirklich Neues bot die folgende Stunde nicht. "Wo möglich bitte Abstand halten", sagt Kurz und man möge "auf gewisse Begrüßungsrituale auf Zeit verzichten", wundern Sie sich also nicht, wenn er Anschober bis Weihnachten nicht mehr umarmt und busselt. Wer Freunde zu sich einlud, dem wurde im Mai noch mit der "Cobra" gedroht, dem Jagdkommando und mit dem Entzug der Bürgerrechte, jetzt bietet der Kanzler seine Schulter an, damit wir uns ausweinen können, wenn wir nicht zurechtkommen mit seinen brutalen Empfehlungen.
Das eine wie das andere ist seltsam. Es ist schwierig, Menschen monatelang absoluten Gehorsam anzutrainieren und sie dann von einem Tag auf den anderen auszuwildern. Das kommt alles jetzt ein bisschen plötzlich. Ich höre, dass der Kanzler strengere Maßnahmen wollte, aber Anschober nicht, es könnte aber auch genau umgekehrt gewesen sein. Der Schalter mit der Message Control leuchtet nicht mehr so hell oder es tut sich nichts, wenn man draufdrückt, es kommt aufs selbe raus.
Sprachlich macht es uns die Regierung einfach. Sie erklärt Sachverhalte so, als würde die Kindergartendirektorin der Marienkäfergruppe auseinandersetzen, was man beim heurigen Lichterlfest aufzuführen gedenkt. "Es ist reine Mathematik", sagt die Kanzlertante, "je geringer die Zahl der Personen, desto geringer die Ansteckungszahl". Kindergartenonkel Werner Kogler ließ sich da nicht lumpen. "Wenn wir uns im Herbst und Winter in die Innenräume zurückziehen und zusammenkuscheln, dann kuschelt das Virus mit," sagte er. Ein verstörendes Bild.
Empfehlungen statt Verordnungen also. Eine neue Höflichkeit wird ausbrechen im Land. "Hare" Kurz und "Krishna" Anschober werden Verbote verbieten. Tempolimits werden zur Richtschnur, ganz neue Verkehrstafeln kommen. "Wenn Sie Lust haben, fahren sie hier nicht mehr als 130 km/h", wird draufstehen. Polizisten halten Raser nicht mehr auf, sondern winken ihnen fröhlich zu. Die Commerzialbank sperrt wieder auf, Kredite werden frei vergeben oder erfunden, alle Banken arbeiten jetzt so. Man kann auf den Geldscheinen beim Hunderter einen Nuller dazumalen, in Geschäften zahlen wonach einem ist.
Wer mit dem Gesetz, das auch nur eine Empfehlung ist, in Konflikt gerät, kommt vor ein Gericht seiner Wahl, sucht sich eine Strafe aus oder nicht, wandert dann in eine Zelle oder nicht, bekommt aber jedenfalls einen Schlüssel für die Tür. "Wenn Sie sich wieder gut fühlen, dann gehen Sie heim" werden die Richter sagen. Bankräuber werden Kassiere bitten, sie mögen doch selbst bestimmen, wie viel Geld sie hergeben möchten. Man legt sein Gehalt nach eigenem Gutdünken fest, entscheidet, ob man arbeiten geht oder weiterschläft. Es wird richtig kuschelig im Land, das Virus wird sich wohlfühlen.
Statt eines neuen Lockdowns haben wir jetzt einen Kickoff. Vielleicht bekommen wir bald Geschenke, wenn wir uns an Empfehlungen halten, also Masken tragen oder nicht den gesamten Rapid-Fanblock zum Grillen in unsere Wohnung bitten. Es könnte eine Verlosung geben, die im Fernsehen übertragen wird, wie die Lottoshow. Mit den Hauptpreisträgern fährt Kurz ins Kleinwalsertal und erschreckt ein paar Einheimische. Gernot Blümel schneidet mit ihnen Zahlen aus der "Kronen Zeitung" aus, gemeinsam bastelt man daraus ein Budget. Es wird unterhaltsam, vielleicht aber nur bis Freitag, denn dann kommt die Ampel und das, was die Regierung gestern verkündet hat, ist vielleicht schon wieder Makulatur.
Am Montag war der Kanzler letzter Gast in den ORF-"Sommergesprächen". Welch schlichter Charakter ich bin, lässt sich einfach daran erkennen, dass ich mich nur an zwei Begebenheiten erinnern kann – an das weiße Kleid von Simone Stribl mit den Schulterpolstern, die aussahen wie weißes Konfekt und natürlich an die Gelse. Sebastian Kurz muss Höllenqualen gelitten haben. Da sitzt er beim Heurigen, schon wieder, Wien zu Füßen, die Stadt, in der er als Meidlinger mit Waldviertler Migrationshintergrund so halb zu Hause ist wie der Klosterneuburger Schutzsuchende Heinz-Christian Strache, und plötzlich setzt sich eine Stechmücke auf seine Kinnlade. Wenn unsereins das passiert, dann klatschen wir einmal mit der Hand hin und die Gelse hat Pech. Oder wir.
Kurz aber wusste, wenn er jetzt hinhaut, dann kann zweierlei passieren: Er prackt sich eine und es entstehen Bilder, die er nicht so leicht wieder los wird, nämlich die eines Kanzlers, der sich in einer aufgezeichneten Livesendung selbst ohrfeigt. Also wartete er 70 Sekunden, ehe sich die Gelse durch die Schminke gebohrt hatte. Er ließ die Gelegenheit fahren, sie sanft einzufangen und in eine Tupperwaredose zu packen. Kurz hätte von der Wiese dahinter etwas Gras abzupfen und ein paar weiße Rosenblätter dazulegen können, damit es die Gelse schöner hat und er hätte Simone Stribl um etwas Blut bitten können für die Fütterung. Dem Kanzler wären die Herzen nur zu zugeflogen.
So aber schaffte es die Gelse in die Stichwahl, Stribl wartete ab, bis sie zugebissen hatte, wies den Kanzler dann darauf hin, der natürlich längst im Bilde war. Er verscheuchte sie, also die Gelse, nicht Stribl, in seinem Gesicht pochte es, aber er vermied es, vom Sessel zu kippen und sich vor Schmerzen am Boden zu wälzen, sondern sagte nur: "Einen Stich werd´ ich schon überleben". Wir warten ab.
Dass mit den Empfehlungen statt der Verbote, hielt die Regierung natürlich nicht lange durch. Erst kehrten die Masken zurück, dann wurden wir erneut weggesperrt. Aber hören sie selbst.
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