Kopfnüsse
Neue Regierung: So zieht Bundespräsident diskret die Fäden
"Neues wagen": In seiner Rede zum Nationalfeiertag las Alexander Van der Bellen der Politik die Leviten. Der künftigen Regierung gab er versteckt die Leitlinien vor. Und ganz nebenbei definierte er seine eigene Rolle neu. Wohin die Reise geht.
Der Bundespräsident kann Schlamperei nicht gut leiden. Das mag auf den ersten Blick verwundern, vor allem wenn man sich Fotos von seinem Büro betrachtet. Auf den Tischen schaut es aus, als hätten der Ausläufer eines karibischen Hurrikans die Hofburg gestreift. Aber vielleicht war der Hund schuld.
Mit KI-Stimme: Wie der Bundespräsident diskret die Fäden zieht
Nun ist es so, dass manche Menschen im Chaos mehr Ordnung finden als ihnen eine Ordnung jemals bieten könnte. Wenn alles kreuz und quer liegt, finden sie jedes Papierfutzerl, sobald aufgeräumt ist, suchen sie sich bucklig. Vielleicht erklärt auch das die Türme, die im "Grünen Salon" hinter der roten Tapetentür in den Himmel wachsen.
Der Bundespräsident kann vor allem Schlamperei mit Worten nicht gut leiden. Er tüftelt lange an Sätzen, pitzelt an Begriffen herum. Ansprachen für die Festspiele in Salzburg oder Bregenz haben oft einen Vorlauf von Monaten. Sie werden im Team beraten und zu Papier gebracht, Van der Bellen schreibt selbst, er diktiert nicht. Auch diesmal nicht.
Schlamperei kann auch Geld kosten. Einem Bezirksrichter in Österreich wurden nun drei Monatsbezüge Strafe auferlegt. Er hatte Akten verschludert, einen Schriftsatz für einen Freispruch erstellt, obwohl es einen Schuldspruch gegeben hatte. Er lud zu einer Gerichtsverhandlung, obwohl das Verfahren schon mit einer Diversion beendet worden war. Der Fall ging bis zum Obersten Gerichtshof, der "Standard" berichtete darüber. Auch über das Pinkeln.
Der Bezirksrichter hatte nämlich nicht nur seine Dienstpflichten verletzt, sondern er war sogar außerdienstlich dringenden Pflichten nachgekommen, das allerdings nicht standesgemäß. Er hatte, wie dem Urteil zu entnehmen ist, "am 10. März 2023 für Dritte wahrnehmbar in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes im Freien uriniert".
Leider werden keine Details zur Tatbegehung erwähnt, ob sich der Richter also etwa auf einer Wiese erleichterte, oder ob er sein Haxerl an einem Baum gehoben hat. Es ist auch unklar, ob es dazu Bildmaterial in Beweismittelqualität gibt, wer ihn auf frischer Tat ertappte und ob es ein Einschreiten von befugten Organen gab, um den ungehörigen Vorgang zu beenden. Obwohl unklar ist, wer dazu befugt wäre.
Paragraph 57 des Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetzes schreibt in Absatz 3 vor, dass sich jeder Normunterworfene so zu verhalten hat, "dass das Vertrauen in die Rechtspflege sowie das Ansehen seines Berufsstandes nicht gefährdet wird". Mir ist jetzt nicht ganz klar, warum das Pinkeln im Freien "das Vertrauen in die Rechtspflege" untergräbt und nicht das Vertrauen in Menschen an sich, aber es war diesmal so. Offenbar eine Brunzipien-Entscheidung.
Die Bestimmung gilt jedenfalls "im und außer Dienst". Wildpinkeln ist überdies zeitlebens wider die guten Sitten. Denn "auch im Ruhestand haben Richterinnen und Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das Standesansehen angemessen zu wahren," schreibt der Justiz-Elmayer vor.
Das Gute an der Klarstellung: Wenn Sie das nächste Mal mit dem Auto auf einer Landstraße unterwegs sind und einen Mann sehen, der sein Innerstes nach außen kehrt, dann haben sie zumindest ein bisschen Gewissheit: Es dürfte sich nicht um einen Richter oder Staatsanwalt handeln, ein solches Vorgehen ist ihnen nämlich untersagt und das in alle Ewigkeit.
Auch der Bundespräsident erleichterte sich, in diesem Fall aber über den Umweg einer Rede und nicht im Freien, sondern im Fernsehen. Am Freitag hatten sich ÖVP und SPÖ zu einer ersten Sondierungsrunde zusammengefunden und am Samstag wird sich der eine oder andere gedacht haben: No, vielleicht geht es doch schneller mit der neuen Koalition. Nach den Herbstferien halt.
Denn wir haben noch keine Regierung, die Nicht-Regierung allerdings schon ein Programm. Der Bundespräsident hat den Sondierern die Arbeit abgenommen. Am Nationalfeiertag hielt Alexander Van der Bellen eine Grundsatzrede, es war eine Art Skizzenblock für das nächste Beste aus beiden Welt, das aus drei Welten bestehen soll. Anders heißen wird es auf jeden Fall.
Vielleicht steht "Neues wagen" am Titelblatt des künftigen Arbeitsplans. Das war die zentrale Botschaft der Präsidenten-Ansprache im Fernsehen. "Die Herausforderungen sind neu", sagte Van der Bellen. "Die Lösungen sind nicht einfach. Aber sie sind möglich. Wenn wir alte Rezepte loslassen und neu denken." Das setzt natürlich voraus, dass wir bisher "Rezepte" hatten, sonst wird das mit dem "neu denken" nicht allein eine Frage des Loslassens.
Was bisher noch nicht so aufgefallen ist: Die Rede war gespickt mit Arbeitsanweisungen, einige sind recht konkret. Van der Bellen gab der neuen Regierung zehn Aufgabengebiete vor: Klima, Migration, Teuerung, Gesundheit und Pflege, Produktivität, Pensionssystem, Krieg und Frieden, Bildung, Gleichberechtigung, Europa. Alles Kapitelüberschriften für ein kommendes Regierungsprogramm und es wurde dabei nicht herumgeschwurbelt.
Das Pensionssystem sei "so nicht zukunftssicher", sagte der Präsident. "Wir brauchen eine neue, wirkungsvolle Verteidigungspolitik", in der Bildung "schnelle Antworten", auch beim Klima "müssen wir endlich ins Tun kommen". Er sprach von den "fleißigen Menschen, die unser Land jeden Tag ein Stück besser machen" und von "Migrationsproblemen". Wer unsere Werte "nicht anerkennt und nicht voll mitträgt, ist nicht willkommen". Andere Worte, andere Töne, deutliche.
Es war auch eine erstaunlich politische Rede, sie definierte die Rolle des Bundespräsidenten neu. Er will und er wird der kommenden Regierung kein stiller Wegbegleiter sein.
Aber sind wir wirklich dazu bereit, Neues zu wagen? Und auch in der Lage dazu? Erfahrung und Evidenz sprechen dagegen. Wir wollen Krankenhäuser zusammenlegen, schaffen das aber nicht einmal bei Autokennzeichen. Wir wollen die Pensionen reformieren, aber es soll sich um Gottes willen für niemanden etwas ändern. Wir wollen Flüchtlinge gerecht über alle EU-Länder verteilen, bewältigen das aber nicht einmal zwischen Niederösterreich und Wien.
Förderung der privaten Pensionsvorsorge? Vor 20 Jahren beworben und bejubelt, dann scheibchenweise abgetragen. Die Teuerung, jetzt ein Problem, eben noch hatten wir doch eine super Kaufkraft, oder? Wir sind auch als die bestesten der Besten durch die Coronakrise gekommen, hat es geheißen, jetzt sehen uns plötzlich alle als reformbedürftiges Wrack.
Wie viele Bildungsministerinnen habe ich am ersten Tag voller Euphorie im Amt erlebt? Ein paar Termine mit der Gewerkschaft und einem Blick auf die frei verfügbaren Budgetmittel später, war der Tatendrang wie Kreide von der Tafel gelöscht.
Gesundheitsreform? Unbedingt, aber jetzt streiten wir einmal darüber, wer die Gastpatienten aus den Bundesländern in Wien zahlt. Zur Sicherheit fordert der Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse einmal eine Milliarde Euro mehr. Vielleicht ist ja aus der Patientenmilliarde von Sebastian Kurz noch was da.
Bugetdefizit? Vor der Wahl: lässig schupfbar. Danach: Ui-jui-jui. Sparpaket? Vor der Wahl: brauchen wir nicht. Danach: brauchen wir doch, muss aber anders heißen.
Möglicherweise hat der Bundespräsident einen Programmpunkt in seinem Arbeitsauftrag an die Regierung vergessen: Ehrlichkeit. Das kann man ja charmanter formulieren. Wir möchten in Zukunft einfach mit mehr Niveau angeschwindelt werden.
Ob das klappt, ist unklar. Die SPÖ überraschte am Montag das Land, eventuell auch die eigene Bundespartei und den potentiellen Koalitionspartner. Sie eröffnete in Kärnten eine Filiale der Regierungsgespräche. Vermutlich dachte sie, das passt rund um den Weltspartag gut ins Programm.
Am Wochenende war man noch knausrig mit Inhalten gewesen. Jetzt wurden aus der Ferne die ersten Programmpunkte Richtung Wien losgeschickt. Wörthersee-Luft, ein Wunder, was die alles vollbringen kann.
Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser und sein Parteivize Philip Kucher, der auch Teil des SPÖ-Sondierungsteams ist, definierten vier Themenkreise für die Verhandlungen mit der ÖVP: Leistbares Leben, Klarheit in der Asylpolitik, Maßnahmen in Gesundheit und Pflege, nachhaltige Klimapolitik. Das heikle Steuerthema fehlte. Und auch die genannten Themen dürfe man keinesfalls als "Bedingungen" verstehen, wie Kaiser sagte. Geschmeidig!
Allein auf die Frage, ob Kärnten in der neuen Regierung etwa mit einem Minister oder einer Ministerin vertreten sein werde, fiel die Antwort des Landeshauptmannes klar aus. "Stets bereit".
Ich wünsche einen allzeit bereiten Mittwoch. Bis in einer kleinen Weile!
Mit KI-Stimme: Können sich ÖVP und SPÖ nun besser schmecken?
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