Interview

Taylor Swift-Terror: "Planungen weit vorangeschritten"

Experte Peter R. Neumann über die wachsende Gefahr durch Teenager, das neue Erstarken des IS und wie man mit der latenten Bedrohung am besten umgeht. "Nicht daheim einsperren, aber gleichzeitig wachsam sein."

Der deutsche Politikwissenschafter Peter R. Neumann gilt als einer der profundesten Kenner der islamistischen Terrorszene. In seinem neuen Buch "Die Rückkehr des Terrors" warnt er vor einer neuen Terrorwelle durch die Dschihadisten
Der deutsche Politikwissenschafter Peter R. Neumann gilt als einer der profundesten Kenner der islamistischen Terrorszene. In seinem neuen Buch "Die Rückkehr des Terrors" warnt er vor einer neuen Terrorwelle durch die Dschihadisten
Anna Weise / SZ-Photo / picturedesk.com
Newsflix Redaktion
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Erst warnte der die CIA. Dann wurden alle drei Wien-Konzerte von Superstar Taylor Swift abgesagt und zwei der Tat verdächtige Teenager mit offenbar radikalem Hintergrund verhaftet. Seither ist das Thema  wieder zurück im kollektiven Bewusstsein, der islamistische Terror ist wieder da. Oder besser, er war nie wirklich weg, zeigt aber wieder vermehrt seine hässliche, menschenverachtende Fratze.

Der deutsche Politikwissenschafter Peter R. Neumann gehört zu den führenden Experten, um die die aktuelle Bedrohungslage durch islamistische Terroristen einschätzen zu können. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Thematik und gilt als profunder Kenner der Szene. In seinem neuen Buch "Die Rückkehr des Terrors" (Rowohlt Verlag, 23,50 Euro) erläutert Neumann den Status quo und warnt vor dem Beginn einer neuen islamistischen Terrorwelle – nachzulesen hier. Im Gespräch mit Newsflix berichtet der Terrorismus-Experte von den Hintergründen dieser Entwicklung und sagt, was jetzt getan werden muss, um rechtzeitig gegenzusteuern.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 u.a. auf das World Trade Center in New York waren für Peter R. Neumann der Anlass, sich dem dschihadistischem Terror zuzuwenden
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 u.a. auf das World Trade Center in New York waren für Peter R. Neumann der Anlass, sich dem dschihadistischem Terror zuzuwenden
HENNY RAY ABRAMS / AFP / picturedesk.com

Wie wird man eigentlich Terrorismusexperte?
Ich bin 1997 als Student nach Belfast gekommen, das war das letzte Jahr des Konflikt, das Land bewegte sich  auf den Friedensvertrag zu. Das war eine unglaublich spannende Zeit und dieses Thema hat mich nicht mehr losgelassen. Ich habe dann mein Studium abgeschlossen und in London u.a. über den Nordirlandkonflikt promoviert. Während der Zeit ist der 11. September passiert und damit hat sich mein Interesse am Thema Terrorismus in eine andere Richtung verschoben. Seitdem beschäftige ich mich mit islamistischem Terrorismus, habe dazu auch 2008 ein Institut aufgebaut, das ICSR am King’s College in London, das heute eines der wichtigsten Institute für die Terrorismus- und Radikalisierungsforschung ist.

Worin besteht Ihre Arbeit primär?
Ich verfolge die Entwicklung des Terrors und habe dazu auch verschiedene Forschungsprojekte laufen. Etwa habe ich nach dem 7. Oktober 2023 ein Projekt über die Frage, welche Auswirkungen die Terroroffensive der Hamas gegen Israel auf den globalen Dschihadismus hat, ins Leben gerufen. Darauf basiert auch mein neues Buch. Aktuell beschäftigen wir uns noch intensiver mit dem sogenannten ISPK (Islamischer Staat Provinz Khorasan, Anm.), das ist jener Ableger des IS, der derzeit am aktivsten, ambitioniertesten und aggressivsten ist, über den wir aber gleichzeitig nur sehr wenig wissen. Wir versuchen vor allem, die Struktur dieser Organisation zu verstehen – wie wird dort kommuniziert, wie sind die Reiserouten, was sind das überhaupt für Leute und wie radikalisieren sie sich.

Der ISPK (Islamischer Staat Provinz Khorasan) hat sich gegen den Willen der dort herrschenden Taliban in Afghanistan festgesetzt
Der ISPK (Islamischer Staat Provinz Khorasan) hat sich gegen den Willen der dort herrschenden Taliban in Afghanistan festgesetzt
ABDULL SATAR RASA / AFP / picturedesk.com

Wie eng arbeiten Sie mit Sicherheitsbehörden zusammen?
Ich spreche natürlich mit denen. Alle Terrorismusexperten, die nicht in der Wissenschaft oder bei Denkfabriken arbeiten, sind in der Regel bei Sicherheitsbehörden. Die können sich zum Teil nicht so einfach in der Öffentlichkeit äußern, aber das sind oft wirklich gute Experten. Deshalb ist der Austausch auch so wichtig.

Gibt es da keine Interessenskonflikte?
Wir versuchen natürlich, unsere wissenschaftliche Unabhängigkeit zu bewahren und in keine Zwickmühle zu kommen. Sicherheitsbehörden haben eigene Interessen, daher: Dialog ja, punktuelle Zusammenarbeit ja, man muss aber eine gewisse Distanz wahren. Gibt es Zusammenarbeit, müssen die Parameter klar definiert sein.

Sie haben vor knapp 20 Jahren die Social-Media-Profile britischer Dschihadisten auswerten können und so tiefe Einblicke in die Lebenswelt dieser Menschen bekommen. Wenn Sie diese Erkenntnisse mit jenen über die aktuelle Terror-Generation vergleichen – sehen Sie Ähnlichkeiten in den Strukturen oder bei den Motivationen?
Es gibt Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die vorhergehende Welle bringt etwas mit, es kommt aber auch etwas Neues hinzu. So ist es auch mit der nun möglicherweise bevorstehenden Welle. Die Ideologie des IS hat sich null geändert, die Ziele sind immer noch dieselben.

Welche Ziele sind das?
Er möchte einen globalen Religionskrieg, er propagiert ein Kalifat, das so zwar derzeit nicht mehr existiert, aber er möchte das wieder zurückbringen. Und der IS sagt, er propagiere den einzig wahren Islam und der Islam muss sich global durchsetzen. Das ist, kurz gesagt, die Ideologie des IS, und jedes Mittel ist recht, um diesen Zustand herbeizuführen.

Mitglieder der "Syrischen Demokratischen Streitkräfte" nach dem Sieg über die IS-Milizen im Kalifat des IS im Norden Syriens. Der IS möchte dieses Kalifat neu errichten
Mitglieder der "Syrischen Demokratischen Streitkräfte" nach dem Sieg über die IS-Milizen im Kalifat des IS im Norden Syriens. Der IS möchte dieses Kalifat neu errichten
- / AFP / picturedesk.com

Wie sieht es mit den Menschen aus, die dafür kämpfen sollen?
Die Rekruten haben sich schon ein bisschen geändert. Bei den letzten zwei Wellen hatten wir es vor allem mit Leuten aus der zweiten und dritten Generation von Migranten zu tun, die Identitätskonflikte im Westen hatten. Die hier geboren wurden, aber sich irgendwann die Frage gestellt haben, was bedeutet es eigentlich, Muslim zu sein? Gibt es da einen Konflikt mit dem Westen, wie versöhne ich diese zwei Identitäten? Und wenn sie nicht versöhnt werden können – und das will ja der IS – wie kann ich beispielsweise gegen Österreich kämpfen? Das war die Ausgangslage.

Und heute?
Jetzt haben wir zwar noch ein paar Leute aus der letzten Generation, aber wir haben auch ganz viele neue, oftmals sehr junge Leute. Viele sind noch Teenager – von den Terrorverdächtigen, die in den letzten zehn Monaten in Westeuropa verhaftet wurden, waren zwei Drittel zwischen 13 und 19 Jahre alt.

Was treibt diese jungen Menschen an?
Bei denen ist die Unterstützung des IS häufig eine Art Gewalt-Fantasie. Da geht es gar nicht so stark um Ideologie, sondern dass man aus irgendeinem Grund die Gesellschaft hasst und das eben das Vehikel ist, um diesem Hass einen politischen Anstrich zu geben und die eigenen Fantasien auszuleben. Das sind Leute, die sich im Internet radikalisieren. Das war vor 10 Jahren bereits sehr stark, aber damals galt noch das Prinzip, dass zusätzlich zum Internet-Einfluss ein Offline-Einfluss notwendig ist, etwa ein radikaler Prediger vor Ort.

Das ist nicht mehr so?
Was wir heute in der Mehrheit der Teenager-Fälle sehen ist, dass der gesamte Radikalisierungs-Verlauf online abläuft. Man kann sagen, das Internet ist der vorrangige Raum, wo die Radikalisierung dieser Leute stattfindet. Und dann sehen wir auch, dass viel Radikalisierung im Bereich Flucht und Asyl stattfindet. In Deutschland ganz besonders stark, aber auch in anderen europäischen Ländern.

Anhänger des ISPK planten u.a. Anschläge auf den Kölner Dom (Bild) sowie auf den Stephansdom in Wien
Anhänger des ISPK planten u.a. Anschläge auf den Kölner Dom (Bild) sowie auf den Stephansdom in Wien
Panama Pictures / Action Press / picturedesk.com

Sie beschreiben als auslösendes Element der dritten dschihadistischen Terrorwelle, an deren Anfang wir jetzt mutmaßlich stehen, den Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Dabei starben über 1.250 Israelis, 250 wurden als Geiseln genommen – eigentlich ein Erfolg für die islamistische Sache. Trotzdem werden damit jetzt weitere Anschläge erklärt – wie passt das zusammen?
Erstmal muss man betonen, dass der IS mit der Terroroffensive der Hamas nichts zu tun hat. Aber er hat sehr schnell gemerkt, dass der 7. Oktober und der nachfolgende Konflikt in Gaza eine unglaubliche Mobilisierung ausgelöst hat. Plötzlich haben Dschihadisten überall auf der Welt wieder ein Thema, ein Projekt gehabt, etwas, das sie motiviert hat.

Gab es dadurch auch neue Rekruten?
Ja, es haben sich auf einmal viele Leute, die vorher überhaupt noch nicht in dieser Bewegung drinnen waren, für dieses Thema interessiert und haben das Narrativ der Dschihadisten akzeptiert. Nämlich dass der Westen gegen den Islam Krieg führt. Und welche bessere Illustration gäbe es dafür, als den Konflikt in Gaza, wo zumindest behauptet wird, dass die Israelis einen Genozid an den Palästinensern verüben. Da hängt sich der IS mit dran.

Obwohl er zu diesem Terrorakt nichts beigetragen hat …
Der IS ist nicht in Gaza und hat diese Offensive nicht durchgeführt. Er spricht auch nicht über die Hamas – in keiner Veröffentlichung des IS kommt die Hamas in irgendeiner Form vor, außer vielleicht ablehnend. Was der IS sagt, ist: "Schaut nach Palästina, dort werden eure Brüder und Schwestern reihenweise ermordet. Wir müssen jetzt zurück kämpfen."

Kämpfer der Hamas mit martialischer Camouflage-Bemalung bei einer Parade in Gaza
Kämpfer der Hamas mit martialischer Camouflage-Bemalung bei einer Parade in Gaza
Ahmed Zakot / Zuma / picturedesk.com

Das heißt, der IS hat die Aktion der Hamas okkupiert …
Ja, er sagt, "wir müssen kämpfen. Nicht in Palästina, weil Palästina eigentlich keinen Menschen interessiert. Aber ihr sollt Juden töten – nicht, weil sie eine israelische Uniform anhaben, sondern weil sie Juden sind. Wenn ihr das Privileg habt, bereits im Westen unter Ungläubigen zu leben, seid ihr in der besten Position, diesen Krieg fortzuführen. Ihr seid die einsamen Mudschaheddin, die diesen Krieg austragen." Das ist die Botschaft des IS. Und das betont er auch bei jeder Gelegenheit.

Verfolgt der IS damit eine expansive Strategie, oder geht es schlicht darum, Terror gegen Ungläubige auszuüben?
Sowohl als auch. Ziel des IS ist ein globaler Religionskrieg. Um ihn wieder in eine Position zu bringen, wo er ernst genommen wird, muss er einen großen Erfolg haben. Am Anfang der ersten Welle war der 11. September 2001, die Supermacht Amerika wurde in die Knie gezwungen. Osama bin Laden und die Al-Qaida wurden auf einmal ernst genommen.

Vor allem orthodoxe Juden gehören mittlerweile auf der ganzen Welt zu den durch fanatische IS-Anhänger besonders gefährdeten Personengruppen
Vor allem orthodoxe Juden gehören mittlerweile auf der ganzen Welt zu den durch fanatische IS-Anhänger besonders gefährdeten Personengruppen
MENAHEM KAHANA / AFP / picturedesk.com

Bei der zweiten Welle?
Am Anfang der zweiten Welle war der große Erfolg das Kalifat – der IS hat für etwa zwei Jahre in Syrien und dem Irak ein Territorium beherrscht, das so groß war wie Großbritannien, mit etwa 10 Millionen Einwohnern, wo dann noch 40.000 bis 50.000 Leute hingefahren sind, um sich dem anzuschließen. Was der IS jetzt braucht, ist wieder ein großer Anschlag, am besten im Westen, entweder in Europa, oder besser noch in Amerika, aber das wird nicht so einfach.

Was könnte geschehen?
Der ISPK hat in den letzten zwei Jahren zwei Dutzend Anschlagsversuche außerhalb des eigenen Kerngebietes unternommen, 6 davon in Westeuropa. Bisher ist noch nichts davon geglückt, aber das Ziel ist nach wie vor ein großer Anschlag. Damit würde man einen neuen Kreislauf in Gang setzen. Und basierend auf meinen Studien dieser Zyklen sage ich deshalb, dass diese ganz großen Anschläge typischerweise zwei bis drei Jahre nach Beginn einer Terrorwelle kommen.

Das war auch in der Vergangenheit schon so?
Ja. Madrid (192 Tote, über 2.000 Verletzte, Anm.) und London (52 Tote, mehr als 700 Verletzte, Anm.) waren 2004 bzw. 2005, das war in der ersten Welle. Die Anschläge in der zweiten Welle in Paris (130 Tote, fast 700 Verletzte, Anm.), Brüssel, Berlin, Stockholm, London, Manchester oder Nizza, waren Mitte der zweiten Welle. Und jetzt braut sich wieder etwas zusammen. Jetzt müsste man etwas tun, um genau das zu verhindern.

Bei Bombenexplosionen in Zügen starben in Madrid am 11. März 2004 insgesamt 192 Menschen – Höhepunkt der ersten islamistischen Terrorwelle, die nach dem 11. September losging
Bei Bombenexplosionen in Zügen starben in Madrid am 11. März 2004 insgesamt 192 Menschen – Höhepunkt der ersten islamistischen Terrorwelle, die nach dem 11. September losging
Fernando Alvarado / EPA / picturedesk.com

Was können wir dagegen tun – als Gesellschaft und die Sicherheitsbehörden konkret?
Ich habe vier Boschaften dazu:
Erstens – wir müssen anerkennen, dass nach Jahren der relativen Ruhe der Dschihadismus wieder die größte terroristische Bedrohung für uns darstellt. Das muss von der Politik so gesagt werden. Die politische Aufmerksamkeit und die Ressourcen müssen sich wieder auf diesen Bereich konzentrieren.
Zweitens – wir haben ganz klar ein Problem im Bereich Internet. Da passiert mehr als je zuvor und wir müssen strenger mit den großen Plattformen der Sozialen Medien sein, wo viel Radikalisierung passiert. Wir brauchen auch mehr virtuelle Agenten, die Chaträume infiltrieren – Österreich ist da bereits sehr gut, aber andere Staaten können noch aufholen.

Die Rekrutierung hat sich geändert und die Rekruten haben sich geändert …
Genau. Drittens – wir haben immer mehr junge Attentäter und wir müssen dafür sorgen, dass wir die Motivation dieser sehr jungen Menschen besser verstehen. Wir wissen nicht, was im Kopf eines 14-Jährigen vorgeht, wenn er sich im Internat radikalisiert.
Und viertens – es existiert besonders in Deutschland, vielleicht auch in Österreich, ein Problem im Bereich Flucht und Asyl. Wir haben eine überdurchschnittlich große Anzahl an Attentätern, die Flüchtlinge oder im Asylverfahren sind. Da müssen wir präventiv tätig werden. Und an die Adresse von Politikern: Alles, was dieses Verfahren geordneter macht, trägt dazu bei, Radikalisierung zu verhindern. Wenn Leute jahrelang in Flüchtlingsunterkünften sitzen, nicht arbeiten dürfen, nichts zu tun haben, oft bereits einen Abschiebebescheid haben, der dann aber nicht durchgeführt wird, dann macht das diese Menschen ansprechbar für Organisationen wie den IS.

Hat es immer öfter mit sehr  jungen Terrorverdächtigen zu tun: Omar Haijawi-Pirchner, Leiter der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN), des zivilen österreichischen Nachrichtendienstes
Hat es immer öfter mit sehr  jungen Terrorverdächtigen zu tun: Omar Haijawi-Pirchner, Leiter der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN), des zivilen österreichischen Nachrichtendienstes
Isabelle Ouvrard / SEPA.Media / picturedesk.com

Es gibt in immer mehr Ländern die Forderung, die Zahl der Menschen, die man neu ins Land lässt, zu verringern.
Das ist die politische Debatte, die sich gerade in Deutschland abspielt. Man kann natürlich sagen, wir müssen viel mehr in diesem Bereich tun. Das andere Argument ist aber: Wir sollten dafür sorgen, dass viel weniger Leute ins Land kommen. Diese Frage muss die Politik klären. Aber wenn wir entscheiden, wir machen die Grenzen nicht zu und wir sind okay damit, wie viele Leute im Land und in diesem Verfahren sind, dann müssen wir die Verfahren viel besser ordnen.

Einige Länder fahren inzwischen auch einen rigiden Immigrationskurs. Aus Ihrer wissenschaftlichen Beobachtung heraus – haben diese Länder weniger Probleme mit Terrorismus?
Nicht unbedingt, sie haben andere Probleme. Es gibt Länder, die viel weniger Flüchtlinge aufgenommen haben als Deutschland, etwa Großbritannien. Es hat fast überhaupt keine Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, hat aber trotzdem ein viel größeres Terrorismus-Problem als Deutschland. Anderes Beispiel: In Deutschland sind in den letzten 10 Jahren 20 Menschen durch Dschihadisten gestorben, in Frankreich 200. Aber Frankreich hat praktisch überhaupt keine Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufgenommen. Doch das bedeutet nicht, dass sie keine Probleme mit Terrorismus haben, sie haben andere Probleme.

Wie ist die Situation in Ländern wie Australien, das sich abzuschotten versucht?
Australien hat in der letzten Dekade ein riesiges Problem gehabt mit dschihadistischem Terrorismus. Gemessen an der allgemeinen Bevölkerungszahl und an der Zahl der Muslime im Land, gab es mehr Ausreisen aus Australien in den Islamischen Staat als aus Deutschland.

Etwa 250 Israelis wurden bei dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen entführt. Etwa die hälfte von ihnen könnte noch am Leben sein, einige von ihnen wurden von der Armee befreit oder gegen Palästinenser ausgetauscht, alle andere sind mittlerweile tot
Etwa 250 Israelis wurden bei dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen entführt. Etwa die hälfte von ihnen könnte noch am Leben sein, einige von ihnen wurden von der Armee befreit oder gegen Palästinenser ausgetauscht, alle andere sind mittlerweile tot
Olaf Schülke / SZ-Photo / picturedesk.com

Und Ungarn, das einen strikten Kurs fährt?
Was Ungarn angeht, die haben es natürlich leicht, weil die winken die Leute einfach durch. Wenn Ungarn das konsequent tun würde, wozu es nach europäischen Recht verpflichtet ist, nämlich die Leute zurückzuschicken ins erste Einreiseland in die EU, dann hätte auch Deutschland weniger Flüchtlinge. Die Politik in Ungarn ist sehr opportunistisch. Zudem: Die meisten Flüchtlinge wollen ja nicht nach Ungarn, die wollen nach Österreich, Deutschland oder Schweden.

Ungarns Regierungschef Viktor Orban stilisiert sich so zum Retter des Abendlandes …
So wie es ist, tut er sich Herr Orban leicht, zu sagen, er sei der große konservative Held, der dafür sorgt, dass kein Terrorismus existiert. Das trifft übrigens auch auf Herrn Putin in Russland zu: Der hat keine Flüchtlinge aus Syrien, weil die nicht nach Russland wollen. Was er allerdings schon hat, sind viele Arbeitsmigranten aus Zentralasien, die auch terroristisch auffallen. Das Problem stellt sich in jedem Land etwas anders dar.

Ist der Islam grundsätzlich ein Problem?
Ich werde sicher nicht sagen, wenn es keine Muslime in einem Land gibt, gibt es keine Probleme. 50 Prozent der Muslime in Deutschland haben türkische Wurzeln, in Österreich vermute ich ähnliche Zahlen, ohne sie genau zu kennen. Die sind in dschihadistischen Terrornetzwerken total unauffällig. In den letzten 10 Jahren waren in Deutschland bei 100 Festnahmen wegen Terrorismus nur eine Handvoll Menschen mit türkischen Wurzeln dabei. Die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung in Deutschland ist, was Terrorismus angeht, völlig unauffällig. Auch in Österreich sind nur ganz wenige Muslime mit türkischen Wurzeln in dschihadistischen Netzwerken aktiv. Aktiv sind vor allem Leute mit dem Hintergrund Balkan und Tschetschenien.

Die weltweiten Proteste gegen Israels Vorgehen in Gaza kulminierten im Sommer 2024
Die weltweiten Proteste gegen Israels Vorgehen in Gaza kulminierten im Sommer 2024
Vuk Valcic / Zuma / picturedesk.com

Vor wenigen Wochen sind angebliche Anschlagspläne gegen ein Taylor-Swift-Konzert in Wien aufgeflogen. Die beiden Verdächtigen sind einerseits sehr jung (19 und 17) und von der Herkunft entsprechen sie ebenfalls dem Bild, das Sie gerade beschrieben haben. Wie schätzen Sie das Bedrohungspotenzial in diesem Fall ein?
So ein Teenager ist ja oft inkompetent. Ich habe schon viele Chat-Verläufe wie in diesem Fall gesehen. Da schreiben 14-Jährige, sie wollen einen Terroranschlag verüben wie am 11. September 2001. Das ist natürlich totale Spinnerei und man kann davon ausgehen, dass das Meiste, was von solchen Leuten irgendwann versucht wird, scheitern würde. Aber man kann sich eben nicht darauf verlassen. Im Fall Taylor Swift waren die Planungen bereits relativ weit vorangeschritten und deswegen war es absolut richtig, von behördlicher Seite zu sagen, wir müssen diese Verhaftungen machen, wir können dieses Risiko, das ja größer als Null ist, nicht eingehen.

Gibt es Beispiele für Jugendliche, die wirklich Attentate verübt haben?
Grundsätzlich gilt, je jünger die Verdächtigen, desto unwahrscheinlicher, dass sie in der Lage sind, die grandiosen Pläne, die sie teilweise haben, auch durchzuführen. Obwohl wenn man es nicht ausschließen kann. Und wir hatten auch schon solche Täter, etwa einen 15-jährigen Schweizer, der auf offener Straße einen orthodoxen Juden niedergestochen hat.

Taylor Swift-Fans in Wien nach der Terror-bedingten Absage der drei Konzerte Anfang August:"Es war richtig, die Verdächtigen zu verhaften", sagt Terror-Forscher Peter R. Neumann
Taylor Swift-Fans in Wien nach der Terror-bedingten Absage der drei Konzerte Anfang August:"Es war richtig, die Verdächtigen zu verhaften", sagt Terror-Forscher Peter R. Neumann
Starpix / picturedesk.com

Es kann so oder so ausgehen?
Das ist das große Problem: Weil wir diese Tätergruppe nicht genau kennen und nicht wissen, wie die im Kopf funktionieren, haben wir schlechtere Erfahrungswerte, ab welchem Punkt ein geplanter Terroranschlag wirklich gefährlich wird. Deswegen sage ich, wir müssen diese Tätergruppe viel besser studieren und verstehen, so dass wir präventiv einwirken können, aber auch damit wir wissen, ab welchem Punkt sie wirklich eine Gefahr sind.

Wie konkret ist Ihrer Einschätzung nach die Gefahr, dass in den nächsten Monaten in Österreich oder generell in Mitteleuropa ein großer Anschlag passiert?
Es ist schwer, das einzuschätzen, aber ich kann definitiv sagen, die Gefahr ist höher als vor einem Jahr. Seit dem 7. Oktober 2023, also in den letzten elf Monaten, hatten wir 30 versuchte oder durchgeführte dschihadistische Anschläge in Westeuropa. Wenn man das vergleicht, im ganzen Jahr 2022 hat Europol 6 versuchte oder durchgeführte Anschläge in ganz Europa aufgezeichnet. Das ist eine Erhöhung um das Fünffache. Deswegen ist die Gefahr eines mittleren oder großen Anschlags definitiv stark angewachsen.

Welche Konsequenz sollte sich daraus für jeden ableiten? Menschenansammlungen meiden, oder sich nicht verrückt machen?
Das ist eine schwierige Frage. Einerseits ist das Ziel von Terror, eine Gesellschaft in Angst zu versetzen. Wenn man sich im Extremfall daheim einschließt und nicht mehr raus geht, dann erreichen die Terroristen damit ihr Ziel. Ich würde daher meinen, es ist am klügsten, sich nicht daheim einzusperren, aber gleichzeitig wachsam zu sein. Wachsam in rationaler Art und Weise.

Definieren Sie in diesem Zusammenhang bitte rational.
Also nicht so, dass man jeden, der fremdartig aussieht, sofort verdächtigt, Terrorist zu sein. Terroristen gibt es sehr, sehr wenige und die Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden, ist nach wie vor gering, auch wenn sie jetzt gestiegen ist. Wenn ich irgendwo einen herrenlosen Koffer herumstehen sehe, sollte ich das melden. Aber im Großen und Ganzen bedeutet Wachsamkeit nicht, dass man ständig den Gedanken daran im Kopf hat. Das ist auch für die Gesellschaft nicht gut. Wachsamkeit ja, Panik und Rückzug aus der Gesellschaft absolut nein.

Akt. Uhr
#Menschenwelt
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