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"The Veil": Katz-und-Maus-Spiel zweier starker Frauen
Der Spionage-Sechsteiler jongliert gekonnt mit den Versatzstücken des Genres, Hauptdarstellerin Elisabeth Moss ist formidabel. Ab sofort auf Disney+.
"Bei meiner nächsten Aufgabe will ich Imogen heißen", sagt die blonde Agentin ins Mobiltelefon, während hinter ihr für ihren letzten Auftrag gerade die Handschellen klicken. Rasch wird klar: Imogen – oder wie auch immer sie wirklich heißt – ist ein "Agent Provocateur", eine Agentin für den britischen Auslandsnachrichtendienst MI6. Sie infiltriert sinistre Kreise, um Feinde des Staates aufzuspüren und zu Fehlern zu verleiten. Doch ihr nächster Auftrag, der bereits auf sie wartet, könnte sie an die Grenzen ihrer Agentenkunst führen.
Kleine, knackige Agentenserie "The Veil", übersetzt "Der Schleier", heißt jene kleine, von keinem Marketing-Getöse begleitete Serie, der seit einigen Tagen auf der Streaming-Plattform Disney+ bereits komplett abrufbar ist. Offenbar verspricht man sich in den USA keine großen Erfolge, zu spröde und zu europäisch kommt der vom Briten Steven Knight erdachte Sechsteiler daher. Dabei ist "The Veil" eine Perle, ein wahrer Schatz, nicht nur für die Freunde gepflegter Agentenfilme und -serien, sondern vor allem für Fans starker Frauenfiguren. Denn davon hat die Serie gleich zwei zu bieten. Aber was für welche.
Worum geht es in "The Veil"? Imogen Salter (Elisabeth Moss) ist so etwas wie die Wunderwaffe des MI6. Ihre Kunst besteht darin, hinter die Fassade von Menschen zu blicken und zu erkennen, ob diese eine böse Absicht verbergen. Deshalb wird sie beauftragt, aus einem Flüchtlingslager im syrisch-türkischen Grenzgebiet eine Französin mit maghrebinischen Wurzeln zu evakuieren und festzustellen, ob diese nur eine verwirrte Frau ist, die den Anwerbern des IS auf den Leim gegangen ist und jetzt wieder in ihre gesicherte Alltagsexistenz und zu ihrer Tochter zurückkehren möchte. Oder ob sie in Wahrheit der "Dschinn von Raqqah" ist, eine geheimnisvolle und skrupellose IS-Kommandeurin, die nach Europa gelangen möchte, um dort einen verheerenden Anschlag auszuführen.
Roadtrip ins Ungewisse Imogen holt also Adilah El Idrissi (Yumna Marwan), wie sich die Frau nennt, aus dem Lager und geht mit ihr auf eine mehr als 1.000 Kilometer lange Autofahrt durch die Türkei bis nach Istanbul – elektronisch immer überwacht von den Geheimdienstkollegen der französischen DGSE, dem Auslandsdienst der Grande Nation, die hier mit den Briten gemeinsame Sache macht. Dabei versucht sie einerseits, Adilah zu durchschauen. Und andererseits, immer einen Schritt vor der amerikanischen CIA zu sein. Denn auch die hat ein Auge auf Adilah El Idrissi geworfen und schickt dafür einen ihrer besten Mitarbeiter nach Paris …
Katz-und-Maus-Spiel Scheinen am Beginn der Reise von Imogen und Adilah die Rollen zwischen den beiden Frauen noch klar verteilt zu sein – hier die coole, ketterauchende Geheimdienstlerin, da die angsterfüllte und verletzte Adilah (sie hat im Lager eine Stichwunde davongetragen, als man sie da für eine IS-Kämpferin hielt), so beginnt sich das Verhältnis zwischen den beiden sukzessive zu wandeln. Adilah erscheint stärker und selbstbewusster, je weiter sie vom Lager wegkommen. Gleichzeitig entwickelt Imogen Sympathie für die Frau, während sie immer weniger versteht, mit wem sie es da eigentlich zu tun hat. Ein Dschinn ist im arabischen ein Formenwandler – und man könnte durchaus meinen, dass sich Adilah laufend verwandelt, je weiter die Reise nach Westen führt.
Einser-Ware vom Serien-Altmeister Erdacht und verfasst wurde "The Veil" von Steven Knight, einem bald 65-jährigen Veteranen der gehobenen britischen Kino- und TV-Unterhaltung. Auf sein Konto gehen u.a. die gefeierten Serien "Peaky Blinders" (über die Unterwelt von Birmingham in den 1920er-Jahren), "Taboo" (mit Tom Hardy als Abenteurer im viktorianischen England) und "SAS Rogue Heroes" (über die Entstehung der britischen Militärspezialeinheit im Zweiten Weltkrieg). Dazu kommen zahlreiche Filmdrehbücher, etwa für den Feelgood-Film "Madame Mallory und der Duft von Curry" mit Helen Mirren oder "Bauernopfer" über das Jahrhundert-Schachduell zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski in den 1970er-Jahren.
Gute Agenten-Unterhaltung Dem Briten ist eine ausgewogene Mischung aus Agentendrama und Charakterstudie gelungen, bei der einerseits die Hetzjagd der beiden Frauen durch halb Europa im Mittelpunkt steht, gehetzt von den eigenen Leuten ebenso wie von mysteriösen Schattenmännern. Und andererseits das gegenseitige Abtasten und Manipulieren der Frauen, bei dem man sich niemals sicher sein kann, welche Absichten wirklich hinter dieser oder jener Handlung stehen. Beginnt Imogen ihre Begleiterin wirklich zu mögen, oder errichtet sie nur eine heimtückische Falle, um sie zu enttarnen? Und ist Adilahs Blick, der permanent zwischen verängstigtem Rehlein und zorniger Rachegöttin changiert, zu trauen? Oder wetzt sie bereits das Messer, um Imogen loszuwerden?
Der Star der Show So gut und abwechslungsreich das Drehbuch auch ist, getragen wird die Serie nahezu im Alleingang von Elisabeth Moss. Die 42-jährige Charakterdarstellerin aus Los Angeles, die durch ihre Serienrollen in "West Wing", "Mad Men" und vor allem als Titelfigur June in der Serienverfilmung von Margaret Atwoods dystopischem Buch "The Handmaid's Tale – Der Report der Magd" bekannt geworden ist, spielt Imogen so vielschichtig und bravourös, dass man nur den Schlapphut ziehen kann. Dazu kommt, dass sie eben kein zurecht geschnitztes Hollywood-Puppengesicht hat, sondern ein echter Mensch mit einer Geschichte ist.
Shakespeares "Was ihr wollt" Dazu gehört auch, dass sie immer wieder für sich selbst Zitate aus Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" einstreut, was zunächst vollkommen unverständlich erscheint und erst mit der Zeit offenbart, welche private Geschichte Imogen mit sich herumträgt. Bestimmt kein Zufall, dass auch Adilah gleich zu Beginn erklärt, dass sie Shakespeare liebt. Und auf gar keinen Fall ein Zufall, dass sich in "Was ihr wollt" Frauen als Männer verkleiden, um die Männer in der Geschichte zu manipulieren. Und nichts anderes tun die beiden Protagonistinnen: Täuschen und tarnen, um in einer nach wie vor von Männern dominierten Welt zu überleben.
Apropos Männer Die spielen in "The Veil" kaum eine Rolle. Gleich ob Franzosen, Amerikaner, Briten oder Türken – sie bleiben alle blass, stereotyp und vorhersehbar. Ob von Serienschöpfer Steven Knight so als Kommentar gewollt, oder schlicht aus Angst vor Überfrachtung so umgesetzt, ist dabei eigentlich gleichgültig. die eine oder andere starke Männerrolle hätte der Serie schon gut getan. Aber das ist jammern auf hohem Niveau.
Fazit: "The Veil" ist ein vielschichtiges Katz-und-Maus-Spiel auf zahlreichen Ebenen, und wer die Katze und wer die Maus ist, wechselt dabei mehrfach. Hauptdarstellerin Elisabeth Moss beim Spielen zuzusehen ist eine Freude, der kurzweiligen und dynamisch erzählten Story zu folgen ebenso. Gut auch, dass sich die Serienmacher mit sechs Teilen zufrieden gegeben haben. Die Tendenz, Serien auf mindestens acht oder gar zehn Teile zu strecken, die bei den großen Streaming-Anbietern nach wie vor hoch im Kurs steht, tut den wenigsten Geschichten gut. Lieber ein bisschen kürzer und knackiger. Empfehlung!
"The Veil", USA 2024, 6 Folgen à ca. 40 Minuten, auf Disney+