Eugen Freund

"Warum ich plötzlich in den USA wählen gehen sollte"

In der nächsten Woche schaut die ganze Welt Richtung USA: Experte Eugen Freund über "vorläufig" abgegebene Stimmen (ja, das gibt's), wie riskant Wahlhelfer leben und was ihm zwei Mal selbst passiert ist.

Eugen Freund war Moderator der ZiB 1, lebte von 1979 bis 1984 in New York und war von 1995 bis 2001 in Washington als ORF-Korrespondent tätig.
Eugen Freund war Moderator der ZiB 1, lebte von 1979 bis 1984 in New York und war von 1995 bis 2001 in Washington als ORF-Korrespondent tätig.
Denise Auer, Picturedesk (Montage)
Eugen Freund
Akt. Uhr
Teilen

Die Zahl ist eindrucksvoll: 46 Millionen 219.035 Amerikaner gaben bis zum 29. Oktober schon ihre Stimme ab. Über 46 Millionen von den rund 240 Millionen Wahlberechtigten, also fast ein Fünftel.

Sie alle haben sich entweder in ein bereits geöffnetes Wahllokal begeben, oder ihren Wahlzettel per Post abgeschickt. Einer der prominentesten Briefwähler war heuer der 100-jährige Jimmy Carter, ein Ex-Präsident, der seine Stimme unbedingt noch abgeben wollte.

Viele Millionen werden vor dem 5. November noch dazu kommen. Bei der vergangenen Präsidentenwahl wählten über 100 Millionen vorzeitig (schon damals ein neuer Rekord), heuer könnten es durchaus noch mehr werden. Denn Donald Trump hat in diesem Wahlkampf nicht mehr so gegen das frühe Wählen gewettert wie vor vier Jahren. Diesmal will er selbst zu jenen gehören, die sich das Schlange-Stehen vor dem Wahllokal ersparen wollen. Sollte ein gefährdeter Ex-Präsident überhaupt irgendwo warten müssen …

Kamala Harris wird die Wahl hauchdünn gewinnen – oder verlieren
Kamala Harris wird die Wahl hauchdünn gewinnen – oder verlieren
Picturedesk

Warum am Dienstag gewählt wird

Gewählt wird in den USA immer am ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November. Sonntag kam für das religiös eingestellte Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts nicht in Frage. Weil Wahllokale oft auch weit entfernt lagen, musste ein Reisetag eingeplant werden. Mittwoch war in vielen Gegenden der mehrheitlich bäuerlich zusammen gesetzten Bevölkerung wegen des Markttages nicht zumutbar.

Also einigte man sich auf den Dienstag im November, nach der Ernte, aber doch noch bei relativ milden Temperaturen. Ursprünglich wurde an diesem Tag nur der Präsident gewählt, erst später kamen auch die Kongressabgeordneten dazu.

Bei aller Konzentration auf die jeweiligen präsidentiellen Spitzenkandidaten darf nicht übersehen werden, dass jedes Mal auch das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren neu bestimmt werden. Ganz abgesehen von lokalen Wahlen, bis hin zum Sheriff und zum jeweiligen Staatsanwalt. Der Aufenthalt in der Wahlzelle kann sich durchaus hinziehen, bis alle Blätter durchgesehen und alle Kandidaten angekreuzt sind.

Donald Trump wird die Wahl hauchdünn gewinnen – oder verlieren
Donald Trump wird die Wahl hauchdünn gewinnen – oder verlieren
Picturedesk

Wieso man "vorläufig" wählen kann

Eine Bekannte, die als Anwältin in Washington arbeitet, und schon mehrfach als Wahlbeobachterin teilnahm, beschrieb mir im Detail, welche Hindernisse es geben kann:

"In einigen Bundesstaaten dürfen Amerikaner auch v o r l ä u f i g ihre Stimme abgeben - entweder am Wahltag oder eben per Briefwahl. Diese Stimme wird aber erst dann gezählt, wenn Wähler beweisen können, dass sie tatsächlich in dem Bundesstaat wohnen." Der "Beweis" ist freilich fragwürdig: oft genügt eine Rechnung des Stromlieferanten oder der Telefonfirma, wenn auf dem Kuvert Name und Adresse des Wählers/der Wählerin mit jenen auf dem Führerschein übereinstimmen.

Das gilt vor allem für jene, die sich nicht rechtzeitig registriert (also in die Wählerliste) eingeschrieben hatten und sich dann doch entschieden haben, an der Wahl teilzunehmen. Daher die "vorläufige" Stimmabgabe. "Dieser Stimmzettel wird gezählt, anschließend hat der Wahlsprengel Zeit, sich anzusehen, ob der Wähler oder die Wählerin tatsächlich wahlberechtigt war."

Lange Schlangen vor einem Vorwahllokal in Doylestown, Pennsylvania
Lange Schlangen vor einem Vorwahllokal in Doylestown, Pennsylvania
Picturedesk

Und weiter: "Wir haben ganz offensichtlich die schlimmste Wahlbeobachtung der Welt. Ich war als Anwalt seit 24 Jahren in Wahllokalen, um sicher zu stellen, dass alle, egal ob Republikaner oder Demokraten, die wahlberechtigt sind, auch daran teilnehmen dürfen, ohne eingeschüchtert zu werden."

Donald Trump hat ja nach der verlorenen Wahl von 2020 immer wieder behauptet, dass ihm die Wahl "gestohlen" worden war. Welche "Probleme" es tatsächlich geben kann beschreibt die Anwältin anhand von zwei Beispielen: "Im Jahr 2004 war ich in Allentown im Bundesstaat Pennsylvania, da hat man mein Auto angefahren, nur weil ich darauf bestanden habe, dass niemand diskriminiert werden darf."

"Im Jahr 2008 wurde ich nach Richmond, Virginia, beordert, wo ich die Polizei rufen musste, damit die einen Republikanischen Wahlhelfer entfernt, weil dieser jeden einzelnen Wähler der vorwiegend schwarzen Bevölkerung an der Wahl hindern wollte."

Durchschnitt Wahlumfragen Harris gegen Trump, Stand 28. Oktober
Durchschnitt Wahlumfragen Harris gegen Trump, Stand 28. Oktober
Picturedesk

Weshalb Minderheiten benachteiligt sind

Die Beispiele zeigen, dass die "älteste Demokratie der Welt" auch ihre Schwächen hat. Das werden heuer in besonderem Ausmaß die Minoritäten, Latinos und die schwarzen US-Amerikaner, zu spüren bekommen. Donald Trump und sein Vize, JD Vance, trommeln seit Monaten, speziell in den letzten Wochen, gegen Einwanderer aus Mittel- und Südamerika, denen sie nicht nur vorwerfen, alles Mörder, Vergewaltiger oder Irre zu sein, sondern vor allem auch, sich ins Wahlregister zu schwindeln und damit das Ergebnis am 5. November zu verfälschen.

Weil es auch kein zentrales Melderegister gibt und Amerikaner nicht so seßhaft sind, wie wir das aus Europa gewohnt sind, kann es passieren, dass die Unterlagen, die Wähler und Wählerinnen vorlegen, nicht immer mit ihrem Wohnort übereinstimmen (siehe oben).

Selbst die Staatsbürgerschaft ist nicht immer ausschlaggebend. Sowohl meine Kollegin Hannelore Veit als auch ich haben jeweils vor den Wahlen 2000 bzw. 2016 eine Aufforderung bekommen, die Stimme abzugeben. Wir haben es nicht getan - und auch nicht ausprobiert, wie weit wir damals gekommen wären.

US-Präsident Joe Biden in Baltimore: für Kamala Harris war er im Wahlkampf ein Hemmschuh
US-Präsident Joe Biden in Baltimore: für Kamala Harris war er im Wahlkampf ein Hemmschuh
Picturedesk

Ob es die "letzten freien Wahlen" sind

Ein wesentlicher Unterschied zwischen meiner Zeit als ORF-Korrespondent und heute besteht dennoch. Als vor 24 Jahren in der Wahlnacht das Ergebnis nicht feststand, weil es in Florida Unstimmigkeiten über einzelne, abgegebene Stimmen gab, verließen sich die beiden Kandidaten, George W. Bush und Al Gore, auf den demokratischen Prozess. Der bestand - von keiner Seite widersprochen - darin, erst einmal die zuständigen Gerichte arbeiten zu lassen.

Was freilich nicht heißt, dass nicht die Anwälte der republikanischen und demokratischen Seite alles unternahmen, um Stimmung für die jeweilige Seite zu machen. Schließlich entschied der Oberste Gerichtshof in Washington, dass Bush den Sieg davongetragen hatte. Alles ging zivilisiert über die Bühne, auch wenn es bis Mitte Dezember 2000 dauerte.

Vorwahl-Zelle in Reno, Nevada: ein Fünftel der Amerikaner hat schon gewählt
Vorwahl-Zelle in Reno, Nevada: ein Fünftel der Amerikaner hat schon gewählt
Picturedesk

Die Vorfälle vom Jänner 2021, als eine Meute das Capitol stürmte, um den verfassungsgemäßen Prozess zu stören und Donald Trump doch noch zum Präsidenten erklären zu lassen, sind erst der erste Schritt der Rechten, die Wahlen zu diskreditieren. So soll nach einem Bericht der "New York Times"  eine konservative Anwältin ein Netzwerk gebildet haben, deren Aufgabe darin besteht, "das Land vor der radikalen Linken zu retten".

Konkret werden Pläne entwickelt, eine eventuelle Wahlniederlage von Donald Trump mit allen Mitteln zu bekämpfen. Schließlich steht auf der anderen Seite jemand, den der Ex-Präsident in doppelter Hinsicht zum Feind erklärt hat: eine Frau und eine Farbige. Trump kündigte schon an: sollte er nicht gewählt werden, würden das die "letzten freien Wahlen" in den USA werden.

Eugen Freund war Moderator der ZiB 1, lebte von 1979 bis 1984 in New York und war von 1995 bis 2001 in Washington als ORF-Korrespondent tätig. Er war Teil der SPÖ-Delegation im Europa-Parlament und ebendort Mitglied der USA-Delegation (2014-2019)

Akt. Uhr
#Expertise
Newsletter
Werden Sie ein BesserWisser!
Wissen, was ist: Der Newsletter von Newsflix mit allen relevanten Themen des Tages und den Hintergründen dazu.