Wahl-Kopfnüsse, Folge 6
Die Volkspartei und ihr Tom Cruise von Kagran
Eine Inszenierung wie unter Sebastian Kurz, der Lieblings-Hit der Klitschko-Brüder als Einlaufmusik, eine Video-Idee, geklaut von Olympia. Die Volkspartei inszenierte ihren Start in den Wahlkampf als große Sause. Erlebnisbericht eines Erlebnisses.
Sie stand auf der Bühne und sprach zum wiederholten Mal das Wort aus, das den Tag prägen sollte: "Hope". Am 20. August hielt Michelle Obama auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago eine Rede für die Geschichtsbücher, vor allem für solche mit Kapitelnamen wie Körpersprache, Rhetorik oder Marketing. Jedes Wort passte, jede Geste war stimmig, jeder Gag saß. Das Kleid, der Zopf, der Schmuck, es war ein perfekt gestylter Auftritt, das wusste auch der Redner, der nach ihr kam – Barack Obama, ihr Ehemann. Der gewesene US-Präsident sprach gleich zu Beginn aus, was viele dachten. Er habe heute den härtesten Job der Welt, sagte er, Redner nach Michelle Obama zu sein.
Nix KI: Dieser Podcast wurde von mir selbst eingelesen:
Es war nicht allein, was sie sagte, sondern wie sie es sagte. Jeder Satz stand für sich. Die Pausen gaben den Gedanken Zeit und Raum, Kopf und Herz zu erwandern und dort Zelte aufzuschlagen. "Hope!" Hoffnung machen, das war der Zweck der rund 20 Minuten gleichermaßen langen wie kurzen Rede und das Ziel wurde übererfüllt. So übererfüllt, dass sich viele in den USA dachten, die ehemalige First Lady wäre eigentlich die beste Wahl für die Wahl am 5. November gewesen. Viel besser als Joe Biden, besser als Kamala Harris. Die Nummer 1 aber machte sich auf der Bühne gerade stark für die Nummer 2. Und wie!
Daran musste ich denken, als ich die erste Woche des österreichischen Wahlkampfes auf mich wirken ließ und das als Intensivtäter. Ich habe Stunden damit verbracht, den vier Kandidaten und der einzigen Kandidatin der Parlamentsparteien zuzusehen und vor allem zuzuhören, aber eines ging mir dabei vollkommen ab: "Hope". Vier Buchstaben, ein Donnerhall.
Niemand gibt Hoffnung und wenn jemand Hoffnung geben sollte, dann könnten wir es nicht hören, denn es wird nicht gesprochen, nicht miteinander und schon gar nicht zu uns, sondern es werden Klangteppiche ausgebreitet. In diese hochflorigen Buchstaben-Flokatis werden wir eingerollt und dann ins Eck gestellt, irgendwer wird schon kommen und sich kümmern.
Alle Kandidaten sprechen zu viel, vor allem aber zu schnell, einige viel zu schnell, die anderen nur schnell schnell. Wo ein Satz richtig wäre, geben sie fünf aus. Wo ein Gedanke Inspiration sein könnte, entladen sich über uns Gewitterblitze. Wo Pausen erholsam wären, nimmt uns Lärm die Luft zum Atmen. Wo ein Foto die gesamte Geschichte erzählen könnte, werden zehn Röntgenbilder übereinander gelegt, in der Erwartung, dass so die Brüche besser zu sehen sind.
Niemand spricht in Bildern, dabei sind sie die einzigen Mittler zwischen der Welt da draußen und unseren Herzen und Hirnen. Nicht die Parteiprogramme nehmen uns an der Hand. Nicht die Slogans auf den Plakaten holen uns ab. Nicht die herausgebrüllten Ideen, wie man Österreich in eine blühende Landschaft verwandeln könnte, gehen ein Stück des Weges mit uns. Bilder müssen das herbeizaubern. Sie schaffen Vertrauen, sie vermitteln Kompetenz, sie können Hoffnung geben. "Hope" eben.
Was wir in den Interviews und Duellen bisher präsentiert bekamen, waren Menschen, die Probleme bei uns abladen. Sie malten uns eine Zukunft voller Sorgen, Ängste und Schwierigkeiten aus. Sie lobten nicht das Erreichte, sondern forderten neue Anstrengungen ein. Schon vor der Gegenwart sollen wir uns fürchten, aber gegen das, was kommt, sei sie ein Honigschlecken. Dieser ganze Trübsinn wird der Wählerschaft auf den Buckel gebunden und dann wird gehofft, dass diese Wählerschaft frohgemut zur Wahlurne schreitet und den Optimismus ankreuzt.
Die Sprache in diesem Fernseh-Wahlkampf rauscht über uns hinweg, nichts verfängt sich. Als Barack Obama am Nominierungs-Kongress der Demokraten über Donald Trump sprach, da nannte er ihn nicht den Verrückten, den Staatsgefährder, den Wahlbetrüger den Kongress-Stürmer. Nein, er sagte: Donald Trump ist der Nachbar, der den ganzen Tag über den Laubbläser unter ihrem Fenster eingeschaltet lässt. Was für ein Bild! Es setzt sich fest im Kopf und geht dort nie mehr weg.
Als Michelle Obama die Nöte der Menschen im Alltag ansprechen wollte, da erzählte sie von ihrer Mutter, ihren Anstrengungen, der Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Das schafft sprachlich Bindung, auch das ist etwas, was "Hope" vermittelt.
Die Menschen kommen raus aus Corona, aus der galoppierenden Inflation, sie stecken in Kriegsängsten und Zukunftsängsten fest. Wer denkt, ihre Herzen sind mit noch mehr Panik, noch mehr Furchterregung, noch mehr negativen Gedanken erreichbar, wird scheitern. Wenn das alle machen, wird es nicht weiter auffallen. Aber der Erste, der Zuversicht verbreitet, der das vermeintlich Unschaffbare schaffbar erscheinen lässt, der Hoffnung vermittelt, wird die Herzen gewinnen und Stimmen. Give me hope!
Als die Olympischen Spiele von Paris zu Ende gingen, fingen die Olympischen Spiele von Los Angeles an. Tom Cruise seilte sich vom Dach des Stade de France ab, lief auf die Bühne, nahm die Fahne mit den fünf Ringen darauf in die Hand, setzte sich auf ein Motorrad, raste durch Paris und hinein in den Bauch eines Flugzeugs. Über Los Angeles sprang er mit dem Fallschirm ab und landete in der Nähe des Hollywood-Zeichens. Großes Kino! So ähnlich war es am Samstag auch in Wien, als der Tom Cruise von Kagran in seine Olympischen Spiele startete. In seinen ersten Kanzler-Wahlkampf.
Karl Nehammer seilte sich nicht ab, sondern er ging die Treppen im Kanzleramt hinunter, das aber gefährlich zügig. Er sprang auch nicht mit dem Fallschirm ab, um zur Steffl-Arena zu gelangen, er nahm das Dienstauto, auch riskant, aber er fuhr nicht selbst. Sonst allerdings erinnerte vieles im Video, das den eigentlichen Beginn der Show in der Eishalle markierte, an die Schlussfeier von Olympia in Paris.
Es war eine spontane Idee, sie soll erst am Freitag entstanden sein und die Planungen für den Wahlkampfauftakt über den Haufen geworfen haben. Warum nicht so etwas machen wie Tom Cruise? Also wurde flugs im Kanzleramt ein Video gedreht, es zeigt Karl Cruise im Kreiskyzimmer. Er blickt nachdenklich aus dem Fenster, richtet sich Krawatte und Manschettenknöpfe, schaut inniglich das Porträt von Leopold Figl an, das an der Wand hängt, klemmt sich eine Mappe unter den Arm, Abendlektüre, mutmaßlich der "Österreich-Plan", dann dreht er das Licht ab. Fünf Jahre Leonore Gewessler an der Seite entfalten ihre Wirkung.
Schnitt, der Kanzler im Stiegenhaus, er steigt in die Dienstlimo ein, der Sound wechselt. "Eye of the Tiger" von Survivor ist zu hören, der Ohrwurm aus "Rocky IV", die Einlaufmusik vieler Boxer, der Lieblingstitel der Klitschko-Brüder, denen Nehammer schon das Blut aus der Hand gedrückt hat und sie ihm. Der Regler im Auto wird auf ganz laut gestellt, der nächste Schnitt und Nehammer taucht live in der Halle auf, mitten im Publikum, im Auge des Tigers also. Zur wummernden Musik schreitet er die Treppen hinunter, verbeugt sich, herzt, busselt und umarmt dann die erste Reihe der Ehrentribüne, es gibt kein Entkommen.
Der Auftritt war am Vorabend geprobt worden, von Nehammer selbst. An diesem Tag sollte nichts dem Zufall überlassen werden, auch Geld spielte offenkundig keine Rolle. Koste es, was es wolle! Die Inszenierung reichte nahe heran an die Weihemessen eines Sebastian Kurz, der, statt sich selbst, ein Video von sich selbst vorbeischickte und toi toi toi wünschte. Eine Drohnenkamera flog an der Decke hin und her, es war laut und intensiv und alle waren von einer solch unbändigen Fröhlichkeit erfasst, als hätte man ihnen vorher etwas in den Himbeersaft gemischt. Am meisten Spaß hat die ÖVP momentan eindeutig mit sich selbst.
Verteidigungsministerin Klaudia Tanner und Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner tanzten, der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer groovte sich weg, die Ehrentribüne machte Party, als stünde sie auf einem LKW der "Vienna Pride". Sogar Martin Kocher, den rechten Arm nach einem Bergunfall im Gips, tat mit einer Pfote mit. Statt wie früher Peter L. Eppinger gab diesmal Harry Prünster den Einpeitscher. Mehrfach ließ er das geneigte Publikum die Stadionhymne "Sweet Caroline" proben, dann fand er das Geschehene "sensationell".
Die Musikwahl erfüllte den offenkundigen Bedarf nach einer gewissen gesellschaftlichen Breite. Eine Blaskapelle spielte auf, dann war "I am from Austria" zu hören, allerdings ohne Töchterstrophe. Moderatorin Sandra Thier begrüßte den halben Saal, der Bogen reichte vom Generalanwalt des Österreichischen Raiffeisenverbandes bis zum Chorespiskopus der Syrisch-Orthodoxen Kirche.
Dann hatten viele eine Fahne. Die Kandidatinnen und Kandidaten für die Nationalratswahlen zogen ein, streng nach Bundesländern getrennt. Von allen Seiten kamen sie daher, angekündigt von den ÖVP-Landeschefs, nicht alle hatten den Weg nach Wien gefunden, einige ihn gar nicht gesucht. Der steirische Landeshauptmann Christopher Drexler blieb wahlkämpfend daheim, Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner beging das 100-jährige Jubiläum des Blasmusikverbandes. Wer bei so etwas fehlt, geht bei einer Wahl gern mit Pauken und Trompeten unter.
Also musste für Vorarlberg Noch-Finanzminister Magnus Brunner allein einziehen. "Auf die Größe kommt es nicht an", sagte er. Das hätte Brunner seiner ÖVP früher mitteilen sollen, dann hätte sie das Wahlplakat, das außen an der Steffl-Arena angebracht worden war, vielleicht etwas dezenter gestaltet. So reichte es von Kagran gefühlt etwa bis Triest.
Innen in der Halle dampfte und stampfte es da längst. 3.000 oder 3.500 oder über 3.500 Menschen waren von überall aus Österreich angereist, es galt, sie mit dem Wahlkampfvirus anzustecken, damit sie ab sofort für die ÖVP "laufen, laufen, laufen", wie es ihnen EU-Mandatar Reinhold Lopatka mit auf den Weg gab. Die Volkspartei spürt ein Momentum, oder sie redet zumindest ein Momentum herbei. Sie träumt plötzlich von Platz 1, auch wenn in diesen Träumen Voodoo-Umfragen die Hauptrolle spielen.
In dieser Situation vertraut und misstraut die ÖVP Umfragen, sie hält sie innerhalb weniger Atemzüge für falsch und richtig gleichermaßen. Im Publikum wurden am Samstag Balkendiagramme wie schlüpfrige Fotos herumgereicht, sie wiesen die ÖVP in Schlagweite zur FPÖ aus. Wenige Momente später stand Reinhold Lopatka auf der Bühne und erinnerte an die Meinungsforschung vor der EU-Wahl. Die ÖVP sei in die Grube umgefragt worden, dann war sie plötzlich ganz nah den Freiheitlichen dran, nur acht Stimmen pro Gemeinde hätten im Schnitt gefehlt. Die könnten am 29. September dazu gewonnen werden. Oder auch nicht.
Von einem Kontrahenten fühlt man sich befreit. Das herbeigesehnte Duell Karl Nehammer gegen Herbert Kickl will die ÖVP nicht mehr zum Triell erweitert wissen. Andreas Babler sei ein "Kommunist", er solle "seine kommunistische Mottenkiste eingraben," sagte Klubchef August Wöginger. Bei der politischen Konkurrenz habe man "am rechten Rand einen Hetzer und am linken einen Träumer", assistierte Generalsekretär Christian Stocker.
Die Frage wird sein, mit wem man nach der Wahl lieber eine Koalition eingehen will, mit einem "rechten Hetzer" oder mit einem "linken Träumer"? Auf den Titel des Regierungs-Programmes bin ich jedenfalls schon gespannt. Die besten Träume aus beiden Welten?
Schließlich redete Karl Nehammer, 45 Minuten lang, mit immer lauter werdender Stimme, er schwitzte dabei zwei Taschentücher voll. "Wir haben extra eine Eishalle für mich gebucht, aber es nutzt nix", sprach er den Wasser-Öxit selbst an. Geboten wurde etwas Poesie ("wenn ein Sturm herrscht, dann schau nicht auf die Äste, schau nicht auf die Zweige, sondern schau auf den Stamm"), dazu politische Arzneimittel-Versorgung aus dem hauseigenen Apothekerschrank: "Stabilität statt Chaos", "Klimaschutz mit Hausverstand", "Runter mit Steuern und Überbürokratisierung", zu verteilen gebe es nur, "was vorher erarbeitet wurde". Der Neuigkeitswert konnte mit der Applausstärke nicht mithalten.
Herbert Kickl feierte am Samstag ebenfalls Wahlkampfauftakt, damit beschäftige ich mich eventuell morgen. Der Vorteil des Wahlkampfes ist ja: es läuft einem keiner davon.
Ich wünsche einen wunderbaren Sonntag. Schön, dass Sie bis hierher durchgehalten haben. Meiner KI habe ich heute freigegeben, die Kopfnüsse lese ich Anfang der Woche selbst ein. Meine Künstliche Intelligenz ist nämlich ein bisschen ein Weichei, sie schafft nicht mehr als 7.500 Zeichen am Stück und das hier ist eindeutig länger. Dafür kann sie sieben Sprachen, ich klinge auf arabisch ganz lustig. Vielleicht machen meine KI und ich demnächst eine Shisha-Bar auf. Wir könnten sie "Hope" nennen.