experte Niki Glattauer
Eine für alle – alle in eine: Kommt die Gesamtschule?
"Gleichmacherei“(FPÖ), „Nivellierung nach unten" (ÖVP)? Oder erster Schritt aus dem Bildungsdilemma? Die neue Bildungsministerin* wird um die Frage einer "gemeinsamen Pflichtschule für alle" nicht herumkommen. Eine Bestandsaufnahme – so parteiisch, wie geboten.
Sie ist der Gottseibeiuns des Bildungsbürgertums, das Schreckensgespenst der AHS-Lehrerinnengewerkschaft und in Österreich nach jahrelanger erfolgreicher Verunglimpfung durch konservative Politiker derart stigmatisiert, dass sich nicht einmal die Roten trauen, sie zum Wahlkampfthema zu machen, obwohl sie bei denen sogar im Parteiprogramm steht: eine gemeinsame Schule bis 12, 14 oder gar 15. Genau, wir sprechen von der Gesamtschule.
Die eine für den Pöbel Der steht unser sogenanntes "gegliedertes Schulsystem" gegenüber, das historisch auf die Trennung in "Elementarschule" (für den Pöbel) und "Lateinschule" (für höhere Töchter und Söhne) in Mittelalter und später Renaissance zurückgeht, und von seinen Verfechtern als "leistungseffizienter" angepriesen wird. Ein Mythos.
Die andere für die höheren Töchter und Söhne Denn längst ist es evident: Die österreichische Spezialität, Schulkinder mit 10 Jahren auseinanderzudividieren, ist ein Rohrkrepierer. Sie bringt den einen nur Nachteile und den anderen keine Vorteile. So konstatierte der österreichische Erziehungswissenschaftler und langjährige Juror zum "Deutschen Schulpreis", Michael Schratz, unlängst im "Standard" eher sehr nüchtern: "Ein Vergleich des selektiven österreichischen Schulsystems zu erfolgreichen Ländern mit gemeinsamer Schule lässt ablesen, dass unsere für das Gymnasium ausgewählten akademisch bevorzugten Schüler keine besseren Ergebnisse zeigen – eher schwächere."
Warum also trennen wir? Es wäre ja müßig, über die Gesamtschule (oder wie man sie sonst nennen mag) zu diskutieren, wenn es nur eine einzige vernünftige Antwort auf die Frage gäbe, welchen Sinn es machte, Kinder nach nicht einmal vier Jahren Volksschule mit neuneinhalb Jahren auf Grund von ein paar Noten in Rechnen, Schreiben und Lesen für den Rest ihres Lebens auf verschiedene Gleise zu stellen. Kennen Sie eine vernünftige Antwort auf diese Frage? Ich nicht.
Estland macht es uns vor Vernünftige Antworten gibt es nämlich nur auf die Frage, warum sie keinen Sinn macht. Zuletzt war eine solche hier auf newsflix.at zu lesen. Zitiert wurde die estnische Bildungsministerin Kristina Kallas (aus einem Interview mit der „FAZ“). Hintergrund: Estland hat sich im letzten Jahrzehnt still und leise zur führenden Bildungsnation Europas entwickelt (und damit Finnland abgelöst). Zuletzt bei PISA** in Mathe Platz 1 vor der Schweiz, in den Naturwissenschaften Platz 1 vor Finnland, in Lesen Platz 2 hinter Irland. Nur die asiatischen Dauerabonnenten auf die vordersten Plätze, wie Singapur, Taiwan oder Südkorea liegen aktuell vor Estland. Österreich? Platz 21 (hier mehr dazu lesen).
44 von 47 Ländern trennen nicht Da meinte also Kristina Kallas, die übrigens nicht einer linken, sondern der dort den NEOS vergleichbaren Partei angehört: „Das ist eine unserer Stärken, dass wir die Kinder in keiner Form trennen. Das ist wichtig, weil sich die akademischen Fähigkeiten der Kinder in sehr unterschiedlichen Stadien ihres Lebens entwickeln." Genauso sieht man das übrigens in 44 von 47 europäischen Ländern: Außer in Österreich werden Kinder nur noch in Ungarn und Deutschland nach vier Jahren Grundschule getrennt.
Rot wie die Mao-Bibel Vier Jahre "gegliederte" Sekundarstufe 1 – und am Ende können 42 Prozent unserer Kinder nicht gut genug rechnen, 45 Prozent nicht "sinnerfassend" lesen – und vom Schreiben reden wir besser gar nicht. Die Schularbeitsaufsätze von 14-Jährigen in Wiener, Grazer, Linzer oder Bregenzer Mittelschulen – aber auch AHS – wollen Sie nicht sehen, glauben Sie mir, weder bevor noch nachdem sie die Lehrerin korrigiert hat – vorher nicht zu dekodieren, danach rot wie die Mao-Bibel.
Weltrekord im Ungleichgewicht Dafür zementiert die separierende Schule die soziale Ungleichheit ein. Die jüngsten Daten der Statistik Austria belegen, dass in Österreich nur 9,4 Prozent der Kinder von Eltern mit maximal Pflichtschulabschuss ein Universitätsstudium erfolgreich absolvieren, während es bei Kindern von Akademikerinnen satte 61,3 Prozent sind. In keinem anderen Land der EU ist dieses Ungleichgewicht größer.
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Mit Folgewirkung Immer noch haben nur knapp 36 Prozent der Österreicher zwischen 25 und 64 Jahren einen "Tertiärabschluss", sprich Hochschul-, Werkmeister- oder Meisterabschluss, Reife- oder Diplomprüfung, womit Österreich unter 22 europäischen OECD-Ländern auf Platz 15 rangiert. In Schweden z. B. hat jede zweite einen solchen Abschluss. All das schlägt sich in der "Erwerbsbeteiligung" nieder: 2022 hatten 53 Prozent der Österreicher mit nur Pflichtschulabschluss (Hauptschule, NMS, MS) keinen Job. Mit abgeschlossenem Studium nach AHS und BHS waren das nur 17 Prozent.
Hauptschule, KMS, NMS, MS Was einen näheren Blick auf den B-Zug unseres Schulsystems verlangt – die Mittelschule, MS genannt. In meiner Jugend war sie noch die "Hauptschule", danach wurde sie in manchen Teilen des Landes zur Kooperativen Mittelschule (in einer KMS in Wien begann ich meine Lehrertätigkeit), später zur Neuen Mittelschule (NMS). Inzwischen ist sie zur "Mittelschule" geworden, ein Terminus, der – welch Ironie der österreichischen Bildungsgeschichte – früher dem Gymnasium gegolten hatte…
Reiner Etikettenschwindel Konservative Politiker und Medien in deren Fahrwasser erklären die MS seit Jahren – mit viel Kalkül und Seitenblicken auf die Wählerklientel – zum Schwachpunkt unseres Systems. Seit Jahren wird daher an ihr herumgedoktert, im Gesamtergebnis völlig erfolglos. Warum erfolglos? Weil die MS gar nicht der Schwachpunkt im System ist – und schon gar nicht die Lehrerinnen dort –, weil sich, zweitens, an ihrem Output so lange nichts ändern wird, solange sich an ihrer Funktion nichts ändert, nämlich jener, Auffangbecken für die schwierigsten Schüler des Landes zu sein mit all deren Problemen von Migrationsvordergrund bis elterlicher Bildungsferne – und weil, drittens, in der Hauptschule unter dem Namen "Reform" nie wirklich sinnvoll reformier. Es wurden (siehe oben) Etiketten getauscht, und es wurde eingespart.
Tops und Flops Symptomatisch der krasse Fehlbefund im "Kurier" Ende Juni zu Schulschuss. Da wurde unter dem Titel "Die Tops und Flops im Bildungssystem" (auch) die Mittelschule kritisiert, und zwar groteskerweise unter „Gemeinsame Schule“ – als hätten die beiden auch nur irgendetwas miteinander zu tun. Da hieß es dann: "Mit der Einführung der neuen Mittelschule versuchte man die frühe Trennung der Schüler zu überwinden. Deshalb wurde viel Geld in das System gesteckt – allerdings mit mäßigem Erfolg: Mittelschulen sind teuer, brachten aber nur unwesentliche Verbesserungen der Schülerleistungen. Fazit: So macht man keine Werbung für eine gemeinsame Schule."
Mit Händen, Füßen und der "Krone" Wahr ist: Mit der Schaffung der "Neuen Mittelschule" bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der AHS in der so genannten "Langform", also mit Unterstufe, wurde die Zweigleisigkeit einzementiert. Was das Land a) der AHS-Lehrerinnengewerkschaft, b) der Kronen Zeitung und c) der pädagogischen "Tea-Party-Bewegung" in den damals rot-schwarzen Regierungen Gusenbauer und Faymann verdankt (den Ausdruck Tea-Party-Bewegung verwendete Bildungsministerin Claudia Schmied mir gegenüber wörtlich). Die ÖVP hatte sich hinter den Kulissen mit Händen, Füßen und der "Krone" gegen eine gemeinsame Schule gewehrt. Gusenbauer und Faymann war`s wurscht.
Klägliches Ende in der Rundablage Schmieds Versuche, wenigstens Modellregionen einzuführen, wurden von Politik und Gewerkschaft so lange logistisch verunmöglicht, bis sie w.o. gab. Unter den ihr nachfolgenden (SPÖ-)Bildungsministerinnen Gabriele Heinisch-Hosek und Sonja Hammerschmid rutschte die Agenda im Aktenstapel schließlich immer weiter nach unten, bis sie letztlich in der "Rundablage" (so "schuldeutsch" für Papierkorb) verschwand.
Niemals Hauptschule Mit einer gemeinsamen Schule hatte die "Neue Mittelschule" also nie etwas zu tun. Im Gegenteil. Schon vor mehr als 10 Jahren zitierte ich in meinem Buch "Die PISA-Lüge" (Kremayr-Scheriau, 2011) aus einer Glosse der "Presse"-Redaktrice Bettina Eibel-Steiner, die in Beantwortung eines Leserbriefs pointiert darlegte, warum sie ihre eigenen Kinder niemals in eine "Hauptschule" stecken würde. Bitte lesen sie hier (auszugsweise) nach:
Ohne mich zu übergeben "Gesamtschule, Gesamtschule, Gesamtschule. Sehen Sie? Ich kann es! Ich kann das Wort Gesamtschule schreiben, ohne mich umgehend auf die Tastatur zu übergeben. (…) Ich will Sie überhaupt nicht totschweigen. Sollen es alle lesen. Hauptschule dagegen, Frau Sibera, das ist etwas anderes – und Sie haben recht, wenn Sie aus meiner Kolumne über das anstrengende vierte Jahr Volksschule, über dieses Jahr der Selektion und der ,Was ist, wenn mein Kind nicht lauter Einser hat‘-Manie, wenn Sie also daraus herauslesen, dass ich mir gar nicht erst überlegt habe, ob eines meiner Kinder in der Hauptschule nicht besser aufgehoben wäre. Hab ich wirklich nicht! (…) Ich kenne gar kein Kind, das in der Hauptschule besser aufgehoben wäre, tut mir leid (…)"
Und weiter „Das sind natürlich, werden Sie kontern, nur meine Erfahrungen. Erfahrungen mit den eigenen verhätschelten Kindern und denen anderer bildungsbeflissener Eltern, die Säuglinge zum Babyschwimmen schleppen, Zweijährige mit Montessori fördern, Kindergartenkinder mit spanischem Liedgut versorgen und in der 1. Klasse Volksschule immer genau wissen, welcher Buchstabe gerade dran war. Gluckeneltern eben, ja, ja, die aber den unbestreitbaren Vorteil haben, dass sie mit ihren Kindern die Malreihen üben und bei keinem Elternabend fehlen. Die Kinder dieser Eltern schaffen meist auch das Gymnasium, weil das Gymnasium zu schaffen weniger mit dem Intelligenzquotienten zusammenhängt als mit der Frage, ob zu Hause einer etwas von englischer Grammatik versteht. Oder von Bruchrechnen. (…)
Das Gymnasium für nicht alle Und noch einmal Bettina Eibel-Steiner: "In Deutschland wurde untersucht, welche Faktoren die Lese-Rechtschreibleistung legasthener Kinder beeinflussen. Überraschung: Die soziale Herkunft ist es kaum, Intelligenz ebenfalls nicht. Was wirklich zählt, ist der Schultyp. Erklärung: Gymnasiasten werden mehr gefordert. Ich denke, das hat Beatrix Karl mit ihrem ,Gymnasium für alle‘ gemeint. Solange es das nicht gibt, werde ich weiterhin davon ausgehen, dass meine Kinder das ,Gymnasium für nicht alle‘ besuchen. Und ab und an schreibe ich es hin, mit schwindender Hoffnung: Gesamtschule."
Nichts davon hat heute seine Gültigkeit verloren.
Stichwort Beatrix Karl Im Mai 2010 hatte es die damalige Wissenschaftsministerin gewagt, als erste – und bislang einzige – hochrangige ÖVP-Politikerin offen die gemeinsame Schule bis zur 9. Schulstufe zu fordern, sie nannte es "das Gymnasium für alle". Diese sei eine "Frage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit" und "mache nationalökonomisch Sinn". Sie würde Eltern, Schülern und Lehrerinnen "Stress ersparen und die Leistungen der Schüler im Gesamten heben", es käme zu einer "Nivellierung nach oben".
Sahen ihre Partei-"Freunde" anders Sie möge "den Mund halten", so sinngemäß die damalige Vorsitzende der AHS-Lehrerinnengewerkschaft Eva Scholik; ihre Äußerung sei ein "Skandal", so der damalige Chef der Pflichtschullehrerinnengewerkschaft Walter Riegler; es handle sich um die "absolut entbehrliche Privatmeinung" einer Einzelperson, so der damalige Vizekanzler und ÖVP-Chef Michael Spindelegger (um hier ein paar Namen aus der "Tea-Party-Bewegung" genannt zu haben). Dass Claudia Schmied ihrer Kollegin "aus vollem Herzen zu ihrem mutigen Auftritt" gratulierte, half Frau Karl parteipolitisch auch nicht sehr. Wenige Monate später war sie Ex-Ministerin.
Polascheks Salti rückwärts Ein künftiger Ex-Minister macht in dieser Frage sowieso lieber Salti rückwärts. Dabei stellt Martin Polaschek den bestehenden Bildungsnotstand gar nicht in Abrede, der da vereinfachend gesagt lautet: Immer mehr aus unseren Schulen scheidende Jugendliche können immer weniger (so die Meinungslage, ob nachgefragt bei Handel, Gewerbe, Universitäten oder Industrie). Polaschek sieht die Lösung dieses Problems nun in einer weiter "Reform" der, erraten: Mittelschule. Dort sollen’ s "Leistungsgruppen" und die Einführung einer weiteren Prüfung namens "mittlere Reife" richten (steht beides bereits im "Österreich-Plan" von Kanzler Nehammer).
Leistungsgruppen also wieder Eingeführt worden waren diese in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Weiterentwicklung von A- und B-Zug. Sie wurden mangels Effizienz 2015 aber wieder abgeschafft, später durch "Corona-Bildungsminister" Faßmann schulautonom aber wieder erlaubt (was kaum jemand weiß).
A- und B-Zug reloaded Dieses Beurteilungsinstrument aus der pädagogischen Steinzeit soll nun wieder verpflichtend werden, und zwar eingebettet in die ebenso wieder eingeführten A- und B-Züge, die heute nur anders heißen: Beurteilung "Standard" bzw. "Standard-AHS" steht jetzt in den Zeugnissen unserer Mittelschülerinnen. Für Laien kurz erklärt: Wer in unseren (vor allem städtischen) Mittelschulen seine Noten im Leistungsniveau "Standard" bekommt, ist punkto Jobchancen weg vom Fenster. Mit "Sehr gut" und "Gut" auf dem Level "Standard AHS" kann man dieses Fenster hinter einem dicken Vorhang immerhin erahnen…
Die Kinder zahlen drauf Die Bildungs-Kommentatorin des "Falter" und ehemalige AHS-Lehrerin Melisa Erkurt zitierte in einem differenzierten Text zum Thema eine Lehrerin jüngst so: Die nun geplante Wiedereinführung sei lediglich ein Zuckerl für überarbeitete Lehrerinnen, "bei dem die Kinder draufzahlen, weil es die Unterschiede innerhalb der Klasse massiv verschärft." Erkurt schlägt vor, in dem Wort "Leistungsgruppe" die "Leistung" einfach zu streichen, gegen Unterricht in "Gruppen" hätte wohl niemand etwas.
Neue Unterrichts- und Lernformen Wie sie in gut geführten gemeinsamen Schulen europaweit längst Standard sind. Noch einmal Bildungswissenschaftler Schratz: "Die gemeinsame Schule hat im internationalen Vergleich die besseren Voraussetzungen für eine Bildung für ein gutes Leben in einer lebenswerten Welt für alle. (…) Dazu sind jedoch Unterrichts- und Lernformen geeignet, die nicht defizitär angelegt sind und die Schülerinnen damit nicht ständig vor Misserfolge stellen." Gruppe statt Klasse. Heterogenität statt Homogenität.
AMS-CEO macht Vorschlag Mit einem anderen Ansatz brachte sich zuletzt der Vorstandsvorsitzende des Arbeitsmarktservice, Johannes Kopf, in die Bildungsdebatte ein. "Was nützt, was schadet eine Gesamtschule?", fragt Kopf in einem Beitrag in dem Buch "Idee, die geh’n", Edition Kleine Zeitung. Und gibt sogleich die Antwort: anschauen und überprüfen.
Die Balanced Score Card Der erfolgreiche CEO hatte mich nach (zugegeben polemischer) Kritik an einem seiner bildungspolitischen Statements in sein Büro in der Wiener Treustraße eingeladen und mich dort mit einer ungewöhnlichen Idee verblüfft: Ein strategisches Managementsystem, das er für das AMS mit seinen mehr als 100 Geschäftsstellen seit 20 Jahren erfolgreich anwende, die sogenannte "Balanced Score Card", würde es ermöglichen, auch den tatsächlichen Output von Schulen zu messen, zu vergleichen und dort, wo nötig, zu verbessern.
Kopf erklärt Die Statistik Austria sei in Besitz einer Vollerhebung jeder Person, die seit 2008 eine formale (Schul-)Ausbildung begonnen oder abgeschlossen hat. Eine Verknüpfung dieser Daten mit jenen des AMS würde zu wertvollen Erkenntnissen führen, und zwar evidenzbasiert, nicht geraten, geschätzt oder mit ideologischem Hintergrundleuchten. Kopf nennt Beispiele: "Wie viele Maturanten aus dem Gymnasium X brechen ihr Studium ab? Wie viel Prozent der Pflichtschulabsolventen zweier unterschiedlicher Mittelschulen sind nach 18 Monaten arbeitslos, in einer Lehrstelle, in Beschäftigung oder gar nicht am Arbeitsmarkt?" Die Antworten darauf ließen wertvolle Rückschlüsse zu – auch auf die Schulen.
Döbling vs. Floridsdorf Natürlich dürfe man nicht den Fehler begehen, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Indikatoren wie Größe, Standort der Schule innerhalb einer Gemeinde, soziodemographischer Hintergrund ihrer Klientel und viele andere Kriterien müssten berücksichtigt werden. Kopf: "Vielleicht ist ja jenes Döblinger Gymnasium, das so viele ausgezeichnete Studenten hervorbringt, in Wirklichkeit gar nicht besser als jene Floridsdorfer Schule, die mit einem hohen Anteil an Kindern aus bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund noch Unglaublicheres leistet."
Ich bin für "Hauptschule" Fakt ist, dass die nächste Regierung (auch) an einer Bildungsreform gemessen werden wird, die diesen Namen verdient. Dabei stellt sich, wie ich glaube, nicht mehr die Frage, ob eine gemeinsame Schule kommt, sondern – beginnend in Modellregionen – nur in welcher Form und unter welchem Namen.
Ich wäre ja für ein Comeback der guten, alten "Hauptschule". Für alle bis 14. Danach gäbe es ein ebenfalls für alle (!) verpflichtendes "Berufsschuljahr" nach dem Vorbild der Polys, damit auch Kinder, die derzeit bis 18, 19 nur das Gymnasium kennenlernen dürfen, Job-Luft schnuppern können. Diesem Berufsschuljahr würde in meinem Modell ab der 10. Schulstufe eine vierjährigen AHS bzw. BHS folgen, und zwar für jene, die das tatsächlich wollen und auch tatsächlich dafür geeignet sind.
Ausgerechnet die Industrie Einen neuen Fürsprecher für ein Ende der "gegliederten" Schule scheint es bereits zu geben. Ausgerechnet die Leiterin der Bildungsabteilung der Industriellenvereinigung (IV), Gudrun Feucht, ließ mit Sympathie für einen Paradigmenwechsel aufhorchen. In einem "Kurier"-Interview sagte sie: "Die Grundidee der neuen Mittelschule war gut. (…) Ein wesentlicher Baustein wurde aber nicht gesetzt, die Mittelschule ist zwar Regelschule geworden, aber die AHS-Unterstufe besteht weiter." Nachfrage des "Kurier": "Sie plädieren also für eine Gesamtschule bis 14?" Antwort Feucht: "Diese frühe Trennung nach der Volksschule gibt es nur mehr in Ungarn und Deutschland. So bleibt der Bildungserfolg stark vom sozioökonomischen Status und der Bildung des Elternhauses abhängig."
Das nenne ich Zustimmung hinter vorgehaltener Hand. Könnte ausgerechnet unsere Industrie zum Türöffner für eine neue gemeinsame Schule werden? Ich wage es kaum zu hoffen.
* Wie stets, verwende ich die weibliche und männliche Form willkürlich wechselnd, alle anderen sind jeweils freundlich mitgemeint
** PISA ist der wichtigste internationale Vergleichstest zur Bildung in 81 Ländern, es gibt ihn seit 20 Jahren. In Österreich nahmen 2022 302 Schulen mit 6151 Schülerinnen im Alter von 15 Jahren an PISA teil.
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010