Clan-kriminalität

"Ich weiß, Mitglieder meiner Familie können überall lauern"

Geschlagen, gefoltert, mit Benzin übergossen: Die Deutsch-Türkin Latife Arab wurde in einen kriminellen Clan hineingeboren. Über ihre Flucht aus diesem Leben hat sie einen Bestseller geschrieben. Nun holten sie die Schatten ihrer Vergangenheit ein.

Von den Frauen in der Großfamilie wird erwartet, dass sie sich den Männern vollkommen unterwerfen, sie bedienen – und dass sie möglichst viele Kinder bekommen, sagt Clan-Aussteigerin Latife Arab (Symbolbild)
Von den Frauen in der Großfamilie wird erwartet, dass sie sich den Männern vollkommen unterwerfen, sie bedienen – und dass sie möglichst viele Kinder bekommen, sagt Clan-Aussteigerin Latife Arab (Symbolbild)
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Newsflix Redaktion
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Sie hatte es kommen sehen.

In einem Interview mit dem deutschen Magazin "Spiegel" war die deutsch-türkische Clan-Aussteigerin und Buchautorin Latife Arab – der Name ist ein Pseudonym – vergangenen März gefragt worden, wann sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, sich von Ihrer Familie gelöst zu haben, frei zu sein? Ihre Antwort: "Dieses Gefühl hatte ich noch nie."

Und als die "Spiegel"-Journalisten nachhakten: "Sie fühlen sich bis heute verfolgt?", antwortete Latife Arab: "Ich weiß, dass Mitglieder meiner Familie überall lauern können, in jedem Café, in dem ich mit einer Freundin sitze. Es könnte in jeder Sekunde ein Cousin kommen und sagen: So, jetzt kommst du mit. Ich denke, ich habe ein anderes Verständnis von Freiheit als viele andere in diesem Land."

Blutergüsse, Brandwunden Nun wurden die Befürchtungen der 44-jährigen offenbar traurige Gewissheit. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin mitteilte, wurde im September "eine 'Clan-Aussteigerin' angegriffen" – nähere Informationen würden zum Schutz der laufenden Ermittlungen keine gemacht. Doch Berliner Zeitungen berichteten, dass Latife Arab offenbar mit Blutergüssen und Brandwunden übersät in einem Krankenhaus in der deutschen Hauptstadt behandelt worden ist. Auch soll sie mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen worden sein. Offenbar wurde sie doch noch von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Im Unfallkrankenhaus Berlin im Osten der deutschen Hauptstadt wurde die Autorin Latife Arab nach dem Überfall auf sie medizinisch versorgt
Im Unfallkrankenhaus Berlin im Osten der deutschen Hauptstadt wurde die Autorin Latife Arab nach dem Überfall auf sie medizinisch versorgt
Unfallkrankenhaus Berlin

Wer ist Latife Arab? Der Name ist das Pseudonym einer heute 44-jährigen Deutschen mit türkischen Wurzeln, die in einen berüchtigten türkisch-arabischen Clan in Deutschland hineingeboren wurde und der Außergewöhnliches gelungen ist: Nicht nur, dass sie es geschafft hat, ihre Familie und das kriminelle Umfeld hinter sich zu lassen, hat sie über ihren Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung auch ein Buch geschrieben. "Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan" erschien vergangenen März und sorgte für großes Aufsehen.

Insider-Bericht über eine Parallelwelt Denn das 256 Seiten starke Buch ist nicht nur eine bewegende Geschichte über einen scheinbar aussichtslosen Kampf, und ein Blick auf die Strukturen der Clan-Kriminalität, sondern es ist vor allem ein Insider-Bericht über eine Parallelwelt, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland (und wohl auch in anderen Ländern) etabliert hat.

Packend und detailreich schildert Latife Arab, wie sie von frühester Kindheit an in die kriminellen Machenschaften ihrer Großfamilie eingebunden worden ist, wie sie als Braut verkauft wurde – im wahrsten Sinne des Wortes – und wie sie sich letztlich aus ihrer Gefangenschaft befreien konnte. Was Sie über das Buch von Latife Arab wissen müssen:

Woher stammt Latife Arabs Familie?
Latife Arabs Mutter kommt ursprünglich aus dem Libanon, doch in den Wirren des Bürgerkriegs in den 1970er-Jahren floh ihre Familie in den Südosten der Türkei, nach Anatolien. Dort wurde sie mit einem Türken verheiratet und bekam mit 14 Jahren ihr erstes Kind – Latife. Das war 1980. Als Latife 5 Jahre war, reiste die Familie mit gefälschten Ausweisen nach Deutschland, vernichtete die falschen Pässe und beantragte Asyl. Die nächsten Jahre stellte der Vater immer neue Asylanträge unter verschiedenen Namen in mehreren Bundesländern.

Die historische Stadt Mardin in Südostanatolien – von hier aus der Nähe stammt die Familie von Latife Arab ursprünglich
Die historische Stadt Mardin in Südostanatolien – von hier aus der Nähe stammt die Familie von Latife Arab ursprünglich
Leo G. Linder / akg-images / picturedesk.com

Wie alt ist Latife genau?
Das weiß sie nicht. Ihre Geburt wurde – zusammen mit allen anderen der letzten Monate – von einem Mitglied der Dorfgemeinschaft pauschal in der nächsten Verwaltungsstadt im Südosten der Türkei gemeldet. Für alle Babys wurde der selbe Geburtstag – der Tag des Eintrags –angenommen.

Womit ihre Familie ihr Geld verdient?
Sie verdient kein Geld, sondern wird offenbar seit Jahrzehnten durch Sozialleistungen des deutschen Staates erhalten. Deshalb ist es in dieser Community auch so wichtig, möglichst viele Kinder zu bekommen – weil das mehr Geld von der Sozialhilfe bedeutet, schreibt Latife Arab in ihrem Buch. Mit dem Geld werden illegale Einreisen von Verwandten aus der Türkei finanziert, die dann ebenfalls in das Asyl-System Deutschlands eingegliedert werden. So wuchs ihre "Familie" in Deutschland binnen kürzester Zeit massiv und ist heute in allen größeren Städten des Landes präsent.

Was ist das mit der Clan-Kriminalität?
Der Begriff Clan selbst ist in Deutschland politisch umstritten. Bezeichnet werden damit Großfamilien mit oft mehreren hundert Mitgliedern, in denen alle untereinander verwandt oder verschwägert sind. Diese Clans, die meistens aus der Türkei oder dem Nahen Osten stammen, sind in nahezu allen kriminellen Bereichen aktiv. Auch die Familie von Latife Arab ist demnach in den Bereichen Raub, Einbruch, Diebstahl, Hehlerei, Suchtgifthandel und Schlepperei tätig. Die dabei erzielten Gewinne werden unter anderem in Immobilien in der Türkei angelegt.

Wie heißt der Clan, aus dem Latife Arab stammt?
Darüber spricht sie nicht, aber nach ihren Angaben ist es ein sehr bekannter Clan, dessen Name sogar dafür sorgt, dass "die Kinder in der Schule die Kings sind".

Wurde sie selbst auch in die kriminellen Aktivitäten ihrer Familie verwickelt?
Ja, nach eigenen Angaben war sie bereits als Kind als Geldbotin unterwegs. Dafür wurden ihr Geldbündel mit Klebeband an die Hände oder an den Bauch geklebt, damit sie diese auch ja nicht verliert. Später wurden ihre Habseligkeiten bei unzähligen Razzien und Hausdurchsuchungen immer wieder von der Polizei durchwühlt, weil es regelmäßig Spuren zu ihrer Familie gab.

Hochzeitsfeier in Südostanatolien: Braut und Bräutigam kennen sich vorher, wenn überhaupt, nur flüchtig, für die Braut wird ein Preis ausgehandelt
Hochzeitsfeier in Südostanatolien: Braut und Bräutigam kennen sich vorher, wenn überhaupt, nur flüchtig, für die Braut wird ein Preis ausgehandelt
Rolf Nobel / Visum / picturedesk.com

Die Einstellung ihrer Familie zu Deutschland und den Deutschen
Laut Latife Arab verachtet ihre Familie die Deutschen, hält diese für schwach und machte sich von Anfang an darüber lustig, dass sie mit der deutschen Sozialhilfe ihr Familien-Netzwerk aufbauten. Auch haben weder ihr Vater, noch ihre Mutter je Deutsch gelernt und können die Sprache bis heute nicht. Als ältestes Kind musste sie immer zu Amtsterminen mitkommen und dolmetschen.

Die Rolle der Frauen im Clan
Mädchen und Frauen sind laut Latife Arab vor allem eine Handelsware, die verschachert wird wie Vieh. Sie selbst habe ihren Eltern 50.000 Mark (früher umgerechnet 25.000 Euro) plus nochmals 15.000 Mark (7.600 Euro) in Goldschmuck eingebracht, als sie an ihren Bräutigam – den Sohn der Tante ihrer Mutter – "verkauft" wurde. Da war sie 17 Jahre alt. Das war seinerzeit ein Spitzenwert - auch weil sie nachweislich noch Jungfrau war. Damit wechselte sie in die Familie ihres Bräutigams und wurde dort wie eine Dienstbotin behandelt.

Wie die Sache mit der Jungfernschaft kontrolliert wird
Latife musste ein Laken, dass ihr ihre neue Schwiegermutter gab, in der Hochzeitsnacht ins Bett legen. War das Laken am nächsten Morgen blutig, gilt das als Beweis der Jungfräulichkeit. Dieses Laken musste Latife ihrer Schwiegermutter am nächsten Tag überbringen, die es daraufhin mehrere Wochen lang mit sich führte und jedem in der Community unter die Augen hielt.

Spezialkommando der Berliner Polizei bei einer Razzia in einer Villa im Bezirk Neukölln, die einem arabischen Verbrecherclan gehört
Spezialkommando der Berliner Polizei bei einer Razzia in einer Villa im Bezirk Neukölln, die einem arabischen Verbrecherclan gehört
Christoph Soeder / dpa / picturedesk.com

Was von den Frauen erwartet wird
Dass sie sich den Männern vollkommen unterwerfen und sie bedienen, dass sie den gesamten Haushalt führen – und dass sie möglichst viele Kinder bekommen. Als Latifes Ehemann in der Türkei beim Militär war, wurde ihr eine Reise zu ihm finanziert, damit sie möglichst rasch wieder schwanger werden konnte. Insgesamt hat sie von ihrem – mittlerweile Ex-Mann - drei Kinder, mehrere Fehlgeburten und zwei Abtreibungen, die sie ohne Wissen ihres Mannes vornehmen ließ und von denen sie in ihrem Buch nun berichtet.

Die alltägliche Gegenwart von Gewalt
Gewalt ist in der Großfamilie immer und überall, vor allem Frauen würden andauernd geschlagen, schreibt Latife Arab. Sie selbst sei von ihren Eltern ständig verprügelt worden, wenn sie sich in deren Augen unbotmäßig verhielt, aber auch ihr Ehemann habe sie regelmäßig geschlagen. Und so gut wie alle männlichen Mitglieder der Familie seien bereits für diverse Delikte im Gefängnis gewesen.

Ob es auch zu Todesfällen gekommen sei
Eine ihrer Cousinen sei einem Ehrenmord zum Opfer gefallen, schreibt Latife Arab in ihrem Buch, weil sie sich gegen das ihr zugedachte Schicksal als Ehefrau und "Gebärmaschine" aufgelehnt hatte. denn sie habe damit "die Ehre" der Familie beschmutzt.

Was es mit dem Ehr-Begriff in diesem Umfeld auf sich hat
"Ein Mann, der nicht die volle Kontrolle über seien Familie hat, gilt im Islam als schwach", schreibt Latife Arab. "Im Haus ist es seine Frau, die diese Kontrolle für ihn ausübt, während sie natürlich ihrerseits seiner Kontrolle untersteht. Es gibt nur oben oder unten, und du musst oben stehen, um dein ansehen, deine 'Ehre' und damit gleichzeitig die 'Ehre' der Familie zu erhalten."

Wie sie den Absprung aus ihrer Familie geschafft hat
Mit Hilfe einiger deutscher Freundinnen, die sie nach und nach gefunden hat – und mit insgesamt sieben Aufenthalten in diversen Frauenhäusern. Heute ist Latife Arab mit einem Deutschen zusammen und hat mit ihm ein Kind - ihr viertes. Mit ihrer Familie hat sie vollkommen gebrochen, auch mit ihren insgesamt acht Geschwistern, obwohl sie sich als Älteste nach wie vor für sie verantwortlich fühlt. Doch ihr war auch vor dem nun erfolgten Angriff auf sie bereits bewusst, dass ihr die Familie ihr Verhalten nicht vergeben wird.

Das Cover des Buches, es ist seit März auf dem Markt
Das Cover des Buches, es ist seit März auf dem Markt
Heyne Verlag

Ob sie die Rache ihres Clans fürchtet
Latife Arabs Buch beginnt mit einer Schilderung eines Überfalls durch einen Abgesandten ihrer Familie im Jahr 2015. Damals wurde sie von einem ihr Unbekannten aufgelauert und in einem Waldstück brutal zusammengeschlagen und misshandelt. Nur mit viel Glück konnte sie dem Angreifer damals entkommen. Es war der bis zum Erscheinen ihres Buches letzte derartige Zwischenfall. Nur scheint es so, als hätte sie ihre Familie wieder aufgespürt – trotz Pseudonym und neuem Leben im Umland von Berlin.

Wie geht es Latife Arab nach dem jüngsten Angriff?
Sie hat die Klinik mittlerweile wieder verlassen, laut einem Zeitungsbericht habe sie Polizeischutz abgelehnt. Es wird auch berichtet, dass sie nur wenige Angaben über den oder die Angreifer gemacht habe. Die Staatsanwaltschaft teilte nur mit, dass die Ermittlungen laufen würden. Wo sich Latife Arab zur Zeit aufhält und wie es ihr konkret geht ist unbekannt.

Latife Arab "Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan", Heyne Verlag, 256 Seiten, € 22,70

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