oberst markus reisner
"Russland und China wollen, dass Konflikt weiter eskaliert"
Der Raketenangriff vom Iran auf Israel heizt die Kriegsgefahr an. Wie die Situation einzuschätzen ist, wer davon profitiert und was Österreich daraus lernen kann, erklärt Bundesheer-Experte Oberst Markus Reisner.
Bald 1.000 Tage Krieg in der Ukraine, ein Jahr offener Konflikt zwischen Israel und den radikalislamischen Terrororganisationen Hamas und Hisbollah, die beide vom Iran, der Israel vernichten will, unterstützt werden – es gibt viel zu erklären für Markus Reisner, promovierter Historiker, Rechtswissenschafter, Oberst des Österreichischen Bundesheeres und TV-Experte Nummer 1 in allen militärischen Angelegenheiten. Seit 1. März 2024 leitet er das Institut für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Er hat Auslandseinsätze in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan, im Tschad, im Irak und in der Zentralafrikanischen Republik absolviert, war aus Studiengründen mehrmals in Moskau und hat zahlreiche Fachbücher geschrieben.
Der "Hugo Portisch des Kriegshandwerks" Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Reisner durch seine zahlreichen TV-Auftritte in Österreich und Deutschland sowie durch seine Interviews in anderen Medien. Mit seiner klaren und aufgeräumten Art kann er auch komplizierte Sachverhalte einfach vermitteln, seine Analysen und Schlussfolgerungen basieren auf militärischen Erkenntnissen und dem Wissen um Taktik und Strategien statt auf politischen Wünschen. Manchen gilt der 46-jährige Niederösterreicher bereits als "Hugo Portisch des Kriegshandwerks". Mit Newsflix sprach Markus Reisner über den jüngsten Raketenangriff des Iran auf Israel, die möglichen weiteren Entwicklungen des Nahost-Konfliktes und die Notwendigkeit einer Luftverteidigung für Österreich.
Wie ist der Raketenangriff des Iran auf Israel einzuordnen?
Wir sehen, dass die Spirale der Gewalt kein Ende findet, auf jede Aktion folgt eine Reaktion, das ist auf beiden Seiten so. Denken Sie nur an den ersten Angriff des Iran auf Israel mit über 300 Drohnen im vergangenen April. Und auch jetzt ist es so, dass der Iran auf die Tötung des Hisbollah-Führers Nasrallah reagiert. Gleichzeitig ist Israel mit Truppen in den Südlibanon einmarschiert. Der jetzige Angriff wurde mit etwa 200 ballistischen Raketen ausgeführt, von denen die meisten abgeschossen worden sind. Ob einige wenige auch Ziele getroffen haben, werden wir erst in den nächsten Tagen erfahren.
Stichwort Raketenabwehr: Hat "Iron Dome", das vielgelobte Luftverteidigungssystem der Israelis, funktioniert?
Da muss man unterscheiden. Es gibt eigentlich drei Abwehrsysteme. Sie nennen sich "Iron Dome", "David's Sling" und „Arrow 3". Warum sind das drei verschiedene Systeme? Weil sie gegen unterschiedliche Raketentypen eingesetzt werden. "Iron Dome" wird gegen Raketen, abgefeuert aus dem unmittelbaren Nahbereich eingesetzt. Also wenn etwa aus dem Gaza-Streifen oder aus dem Südlibanon Raketen mit einem Durchmesser von etwa 107 bis 122 mm abgefeuert werden.
Und darüber hinaus?
Raketen, die aus größerer Entfernung abgeschossen werden, also etwa aus Syrien oder eben aus dem Iran, sind Aufgabe von "David's Sling" und "Arrow", die diese Raketen zum Teil auch außerhalb der Erdatmosphäre abfangen. Die Herausforderung bei all diesen Systemen ist, ausreichend Abwehrmunition verfügbar zu haben. Wenn es dem Gegner gelingt, einen sogenannten saturierenden Effekt zu erzielen, also wenn er einfach zu viele Raketen abfeuert und das System nicht mehr jede anfliegende Rakete abschießen kann, dann können einzelne Raketen tatsächlich durch dieses Schutzschild kommen und Einschlagen. Ob sie auch ihr Ziel treffen, ist eine andere Frage. Die Raketen aus dem Iran etwa kommen öfters vom Kurs ab und landen dann irgendwo. (Anm.: Im Video unten ist der Start dutzender iranischer Raketen aus einem Passagierflugzeug im Anflug auf den Flughafen von Dubai zu sehen)
Wie war das beim Angriff am 1. Oktober?
Was nun geschehen ist und wie viele Prozent der Raketen tatsächlich durchgekommen sind, kann man jetzt noch nicht sagen. Es gibt viele Bilder in den sozialen Netzwerken, auf denen zu erkennen ist, dass Raketen eingeschlagen haben. Es gibt auch Bilder von Kratern, etwa eine ganze Serie von Einschlägen auf einer israelischen Militärbasis. Das muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Basis beschädigt wurde. Israel hat verkündet, ist, dass es nur einen Toten und zwei Verletzte gegeben hat. Es ist grundsätzlich ein gutes Zeichen, dass es zumindest zu keinem Einschlagen von Raketen in zivilen Vierteln gekommen ist. Aber wie gut die Luftverteidigung letztlich gearbeitet hat, lässt sich noch nicht sicher feststellen.
Auf vielen Videos ist zu sehen, dass die anfliegenden Raketen getroffen werden und dann zu Boden stürzen, wo es oft noch zu Explosionen kommt …
Oft explodieren die Raketentrümmer, z. B. die triebwerke oder der Sprengkopf, beim Aufschlagen auf dem Boden dennoch, andere stürzen einfach ab. Dabei verursachen sie unweigerlich Schaden, das lässt sich leider nicht verhindern. So ist auch der Mann in der West Bank ums Leben gekommen, er wurde vom herabstürzenden Booster einer Rakete erschlagen. Und ob diese herabstürzenden Trümmer noch explodieren oder nicht, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und hängt vom Treffer ab, den die Abwehrrakete erzielt.
Wenn die Abwehrrakete zum Beispiel in der Nähe des angreifenden Geschoßes explodiert und das dazu führt, dass das Geschoß von seiner Flugbahn abkommt und wo anders einschlägt, kann die Rakete natürlich dennoch explodieren. Es kann aber auch sein, dass bereits der Nahtreffer einer Abwehrrakete dazu führt, dass der Sprengkopf in der Luft detoniert und damit die Rakete fast zur Gänze in der Luft zerstört wird und nur mehr kleinere Teile zu Boden stürzen. Und es kann auch die Abwehrrakete ihr Ziel verfehlen und irgendwo einschlagen, aber der Prozentanteil, wo das passiert, ist sehr, sehr gering. Das wissen wir aus den Erfahrungen der israelischen Streitkräfte mit ihren Systemen und auch aus der Ukraine. (Anm.: Im Video unten sieht man, wie eine iranische Rakete außerhalb der Erdatmosphäre zerstört wird)
Wie ähnlich ist das israelische Abwehrsystem dem geplanten "Sky Shield"-Projekt, an dem sich ja auch Österreich beteiligt?
"Sky Shield" konzentriert sich vor allem auf jenen Bereich, den die Israelis mit "David’s Sling" und "Arrow 3" abdecken, also auf jene ballistischen Raketen, die zum Teil außerhalb der Erdatmosphäre anfliegen. Wir müssen leider erkennen, dass der Einsatz von ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen mittlerweile ein wesentliches Mittel der Kriegsführung geworden ist und dass es daher auch notwendig ist, den Schutz der dritten Dimension, also des Himmels, nachhaltig herzustellen.
Und das "Sky Shield"-System versucht, durch die Integration der einzelnen Fähigkeiten aller daran beteiligten Länder genau das sicherzustellen. Allein ist so etwas für ein Land nicht zu leisten, außer für eine Supermacht wie die USA. Es geht darum, eine sinnvolle Abschreckungskapazität gegenüber möglichen Angriffen zu erreichen. Das System ist auch nicht dazu da, Angriffe auszuführen, sondern hat reinen Verteidigungscharakter.
Sich alleine zu verteidigen halten Sie für aussichtslos?
Wir sehen es am Beispiel von Israel. Das Land hat sich massiv vorbereitet für eine solche Auseinandersetzung, wie sie gerade geschieht. Aber auch Israel braucht jede Unterstützung seiner Verbündeten. Und wie damals im April, ist es auch nun wieder so gewesen, dass die USA und Großbritannien das Land unterstützt haben bei der Abwehr dieser einfliegenden Raketen.
Welche militärischen Antworten Israels sind jetzt zu erwarten?
Das ist die entscheidende Frage. Wir sehen, dass der Iran so argumentiert, dass dieser Angriff nach Artikel 51 der UN-Charta im Rahmen der Selbstverteidigung erfolgt ist. Vergessen sie dabei aber nicht, die Hisbollah ist ein Terrororganisation. Und der Iran hat versucht zu signalisieren, dass er gerade einen Vergeltungsschlag durchgeführt und damit eine Antwort gegeben hat auf die Tötung von Hisbollah-Führer Nasrallah. Israel hingegen hat schon in Aussicht gestellt, dass sie sich vorzubehalten, einen Gegenschlag durchzuführen, der in seinem Ausmaß ein großer sein wird.
Und welche Gegenschläge wären überhaupt zielführend?
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten. Einerseits dass man versucht, eine der wichtigsten Einnahmequellen des Iran zu unterbrechen, das sind die Erdöl-Förderanlagen und die Erdöl-Beladestationen. Das zweite sind Kommunikationspunkte, vor allem der Revolutionsgarden, also Stützpunkte, Kasernen, Führungszentralen, die man angreifen kann. Und ganz oben auf der Prioritätenliste der israelischen Streitkräfte steht das iranische Atomprogramm, da Israel auf jeden Fall verhindern möchten, dass der Iran Atomwaffen bekommt.
Was erwarten Sie?
Man muss das große Ganze betrachten. Im Südlibanon ist es den israelischen Streitkräften gelungen, die Hisbollah zu schwächen, nicht nur durch diese Pager-Angriffe, sondern auch durch das Eliminieren der Führungskader. Jetzt haben wir die Situation, dass die Hisbollah in ihrer Führung geschwächt ist und Israel durch den Einmarsch versucht, auch ihr militärisches Potenzial zu zerstören. Gleichzeitig versucht man den Iran zu treffen. Es bleibt abzuwarten, ob es zu diesem Schlag der Israelis kommt oder nicht. Wenn es dazu kommt, ist die Frage, ob das zu einer weiteren Eskalation führt. Hier sind interessante Stimmen aus den USA zu hören, die versuchen, den Konflikt zu moderieren. Denn Amerika hat kein Interesse an einer Eskalation. Aber wenn notwendig, wird es an der Seite Israels stehen.
In der Vergangenheit hat Israel bei Attacken auf den Iran immer auf seine Luftwaffe zurückgegriffen. Wäre diese Möglichkeit derzeit gegeben? Oder würden israelische Flugzeuge von den benachbarten Staaten gar keine Überflugerlaubnis bekommen?
Hier darf man nicht nur den direkten Weg in Betracht ziehen. Einer der Gründe, warum die israelischen Streitkräfte Tankflugzeuge haben, ist natürlich, um die Reichweite ihrer Kampfflugzeuge zu verlängern. So, dass man sich zum Beispiel vorstellen kann, dass Israel den Iran aus dem Norden über Aserbaidschan und das Kaspische Meer anfliegt, quasi durch die Hintertür angreift. In diesem Zusammenhang muss man auch die Unterstützung der israelischen Rüstungsindustrie für die aserbaidschanischen Streitkräfte im Krieg um Berg Karabach mit bedenken.
Wie wahrscheinlich wäre es, dass Israel – eventuell gemeinsam mit den USA – die iranischen Atomanlagen wirklich so zerstört, dass sie nachhaltig geschädigt sind?
Die Schläge gegen die Führungsstruktur der Hisbollah zeigen, dass der israelische Militärnachrichtendienst und auch der Geheimdienst Mossad ein sehr, sehr gutes Lagebild haben. Man kann davon ausgehen, dass dieses Lagebild auch über den Iran vorhanden ist. Der Iran ist sich dessen natürlich auch bewusst und versucht alles, um dem entgegenzuwirken. Man hat versucht, sich aus dem Cyberraum zurückzuziehen, also nicht online angreifbar zu sein. Man hat versucht, alle Anlagen des Atomprogramms in Bunker möglichst tief unter die Erde zu verlagern, wo auch die Drohnen- und Raketenproduktion stattfindet. Man möchte den Israelis kein Ziel geben, das diese angreifen könnten. Es wird im Wesentlichen von den Aufklärungsergebnissen der Israelis abhängen, ob sie diese Ziele angreifen können.
Wo steht Saudi-Arabien aktuell in diesem Konflikt?
Vor der Eskalation des 7. Oktober war es so, dass die Zeichen zwischen einzelnen Staaten der Region und Israel auf Aussöhnung standen. Aber das liegt jetzt auf Eis. Es herrscht Zurückhaltung bis zu den nächsten Maßnahmen, jeder wartet ab, wie dieser Schlagabtausch weitergeht. Und man sieht auch, dass sich einige Staaten sehr zurückhalten in der Kommentierung der Situation.
Ist die Lage inzwischen völlig außer Kontrolle, oder kann man das immer noch einfangen?
Hier ist absolut relevant zu betrachten, was die USA tun. Und die USA versuchen nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Nahen Osten, diese Konflikte so gut wie möglich zu moderieren, also nicht überkochen zu lassen. Wir haben das jetzt sehr gut gesehen am Beispiel der Ergebnisse der Reise vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj in die USA. Er hat nicht die Zusagen bekommen, die er sich eigentlich erwartet hatte. Und US-Medien berichteten, dass die Amerikaner von den Ukrainern verlangen, sich realistische Ziele zu setzen. Ähnlich ist die Situation auch gegenüber Israel. Man sagt natürlich, wir stehen euch zur Seite. Man sagt aber auch, wir wollen nicht, dass es zu einer Eskalation kommt. Weil das möglicherweise einen Flächenbrand auslösen kann.
Und weshalb ist das so relevant für die USA?
Weil auch die amerikanische Rüstungsindustrie nach 951 Tagen Krieg in der Ukraine und wiederholten Auseinandersetzungen in Israel massiv gefordert ist. Und auch die Frage zu stellen ist, ob noch genügend Material vorhanden ist, um diese zwei Konflikte bewirtschaften zu können. Und – das ist das Entscheidende – wir haben noch gar nicht über die Situation in Taiwan gesprochen. Wo sich China derzeit zurückhält und zuschaut, was sonst alles passiert und wie die Amerikaner gefordert sind. Dazu kommt, dass die USA im Moment auch innerlich zerrissen sind. Die haben weder eine starke Führungspersönlichkeit – Stichwort Joe Biden –, noch ist die amerikanische Innenpolitik konsolidiert, weil alles auf die Wahl und die Frage, wer wird nächster Präsident, ausgerichtet ist.
Wie wirkt sich das aus?
Es gibt eine Reihe von Spekulationen, was das Verhalten eines möglichen Präsidenten Trump, aber auch einer möglichen Präsidentin Harris betrifft. Ich denke, man kann als gegeben annehmen, dass im Zentrum jeder zukünftigen Außenpolitik weiterhin die amerikanische Vormachtstellung steht. Und das gilt einerseits für die Ukraine, für das Verhältnis Europas zu den USA, aber auch für die Situation im Nahen Osten und den indopazifischen Raum, Stichwort China.
Was ist von der militärischen Operation Israels im Südlibanon zu halten? Sind das die Vorboten einer großen Invasion, oder ist das nur der Versuch, die Hisbollah zurückzudrängen?
Hier wissen wir, dass israelische Spezialkräfte schon lange vor dieser Offensive im Einsatz waren und versucht haben, in Kommandoaktionen militärische Depots und Ähnliches auszuschalten. Und die Beteiligung von konventionellen Streitkräften in einem sehr hohen Umfang zeigt jetzt eindeutig, dass die Israelis mehr vorhaben, als nur einen temporären Vorstoß durchzuführen. Ein Zurückdrängen der Hisbollah hinter den Fluss Litani wäre durchaus ein denkbares Ziel. Man erkennt das auch an den Evakuierungsaufrufen an die lokale Bevölkerung. Ziel der Israelis wird es sein, die Gefährdung für die Siedler im Norden Israels auszuschalten. Hier mussten 60.000 Menschen ihre Häuser verlassen aufgrund der dauernden Raketenangriffe der Hisbollah.
Im Südlibanon sind derzeit auch etwa 160 österreichische Soldaten im Rahmen der UNO-Mission UNIFIL stationiert. Sind diese akut in Gefahr?
Es sind mehrere tausend Soldaten im Rahmen dieser Mission eingesetzt und ich kann versichern, dass UNIFIL eine Reihe von Maßnahmen getroffen hat, um die Sicherheit ihrer Soldaten sicherzustellen. Man sieht auch sehr gut, dass hier eine enge Abstimmung stattfindet, unter anderem mit den israelischen Streitkräften. Diese informieren das UNO-Kommando wo notwendig vorab, was ihre nächsten Züge und Truppenbewegungen sind.
Wäre es denkbar, dass es tatsächlich zu einer dauerhaften Schutzzone im Südlibanon kommt, vergleichbar der Situation auf den Golanhöhen?
Ich denke, das ist sicher eine Option, die der israelische Generalstab auf dem Tisch hat. Das wird aber letztlich vom politischen Willen abhängen, ob man das erreichen möchte. Auch eine weitere UNO-Mission ist grundsätzlich vorstellbar – aber mit einer Einschränkung: Das würde voraussetzen, dass es einen entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates gibt. Und fraglich ist, ob in der zerstrittenen Situation, in der sich der UN-Sicherheitsrat aktuell befindet, mit den Bruchlinien, die aufgrund des Ukraine-Krieges entstanden sind, vor allem zwischen den westlichen Staaten sowie Russland und China, es zu einem gemeinsamen Beschluss kommen kann.
Wie ist es erklärbar, dass Israels militärische Aufklärung gegenüber der Hisbollah im Südlibanon so gut funktioniert hat, worauf die Erfolge der letzten Wochen schließen lassen, und gleichzeitig die Hamas im Gazastreifen so sträflich vernachlässigt wurde?
Der Überfall der Hamas und die lange Reaktionszeit der Israelis war auf eine Verkettung von Ereignissen zurückzuführen. Vor allem auf die Art und Weise, wie die Hamas diesen Überfall vorgetragen hat, nämlich mit dem Unterbrechen der Kommunikationslinien und der Videoübertragung. Aber natürlich, ja, es war ein Versagen der israelischen Nachrichten- und Geheimdienste, das haben sie auch ganz offen eingestanden.
Umso mehr haben sie natürlich jetzt versucht, ihre Anstrengungen zu erhöhen, nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Südlibanon. Israel ist spätestens seit dem 7. Oktober 2023 in einer permanenten Anspannung, man versucht sämtliche möglichen Mittel zur Aufklärung zum Einsatz zu bringen und wenn man eine Möglichkeit sieht, wird erbarmungslos zugeschlagen. Weil man vermeiden möchte, dass es noch einmal zu einem ähnlichen Vorfall wie am 7. Oktober kommt.
Sind Israels Kriegsziele im Gazastreifen überhaupt erreichbar?
Das wurde intensiv diskutiert und wird von einer Reihe von Faktoren abhängen. Man versucht hier die palästinensische Bevölkerung weg von der Hamas auf seine Seite zu ziehen. Israel braucht hier einen Plan, um aus dem Gazastreifen einen blühenden, prosperierenden Raum zu machen. Dann könnte man sagen, hier gibt es ein Gegenmodell zur Hamas.
Aber das ist natürlich etwas, das noch weit in der Zukunft liegt. Momentan ist es so, dass alle noch im Schockzustand sind und versuchen, sich zur Wehr zu setzen: Israel gegenüber der Hamas im Gazastreifen, gegenüber der Hisbollah im Südlibanon und gegenüber dem Iran. Da geht es ums Überleben und das Lösen der einzelnen militärischen Herausforderungen von Tag zu Tag. Politische Absichten sind sicher theoretisch am Tisch, aber momentan nicht aktuell, weil Israel schlicht darum kämpft, hier nicht unter die Räder zu kommen.
Gibt es in diesem Konflikt Parteien, die ein Interesse daran haben, dass die Eskalation weiter zunimmt?
Natürlich gibt es die. Wenn wir die Situation aus der Vogelperspektive betrachten, dann fällt auf, dass wir hier auch eine Bruchlinie des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden sehen, mit den bekannten Spielern. Nehmen wir nur zwei konkrete Beispiele, Russland und China. China hat ein Interesse daran, dass die USA immer mehr in verschiedenen Konflikträumen gebunden werden, nicht nur durch die Präsenz von Truppen, sondern vor allem durch den Ressourcenbedarf. Das sind dann alles militärische Ressourcen, die theoretisch nicht gegen China einsetzbar sind.
Auf der anderen Seite steht Russland, das ein Interesse daran hat, dass Israel von den USA weiterhin unterstützt wird, weil sich das dann auch auf die Waffenlieferungen an die Ukraine auswirkt. Es geht hier um militärische Ressourcen, die die USA verteilen müssen, die diese ja auch nicht unbegrenzt haben. Daraus kann man herleiten, dass Staaten wie Russland oder China hier ein Interesse daran haben, dass die Konflikte weiter geschürt werden.
Was wird als nächstes passieren, was ist am wahrscheinlichsten?
Israel hat angekündigt, einen Gegenschlag durchzuführen. Es wird vom Umfang dieses Gegenschlags abhängen, wie dann der Iran möglicherweise wieder darauf reagiert. Ist der Gegenschlag moderat und beide Seiten haben ihr Gesicht gewahrt, oder ist er massiv und fügt dem Iran schwere Schäden zu. Im schlimmsten Fall könnte es tatsächlich zu einem regionalen Konflikt kommen, der sich auf mehrere Staaten erstreckt, zusätzlich zur Situation, die wir bereits mit der Ukraine haben.
Im besten Fall könnte es dazu kommen, dass man es dabei belässt, der Iran hat für sich und für seine verbündeten Staaten in der Region gezeigt, dass er in der Lage ist, Stärke zu zeigen, Israel hat das entgegengenommen und es kommt zu keinem oder eben einem begrenzten Gegenschlag. Aber das bleibt wie gesagt Spekulation, das werden wir erst in den nächsten Tagen sehen.