EU-Höchstgericht

Asyl für afghanische Frauen: Was stimmt jetzt wirklich?

Ein Urteil, zwei Auslegungen. Mindestens. Der Europäische Gerichtshof legte fest, dass alle afghanischen Frauen ein Asylrecht in der EU haben. Führt das zu einer neuen Flüchtlingswelle? Oder passiert gar nichts? Die Fragen und die Antworten.

Eine afghanische Frau in einer Burka mit ihrem Baby auf einem Vogelmarkt in Kabul – Frauen in Afghanistan werden diskriminiert und haben deshalb ein Asyl-Recht in der EU, hat nun der Europäische Gerichtshof festgestellt
Eine afghanische Frau in einer Burka mit ihrem Baby auf einem Vogelmarkt in Kabul – Frauen in Afghanistan werden diskriminiert und haben deshalb ein Asyl-Recht in der EU, hat nun der Europäische Gerichtshof festgestellt
Ebrahim Noroozi / AP / picturedesk.com
Martin Kubesch
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Nichts emoationalisiert Menschen momentan auch nur annähernd so stark wie das Thema Zuwanderung. Debatten über Asyl und Migration entscheiden Wahlen, spalten Familien, treiben einen Keil in die Europäische Union.

Am 4. Oktober urteilte der Europäische Gerichtshofs, dessen Interpretation zu einem neuerlichen Brandbeschleuniger wurde. Der EuGH erklärte, dass bei Asylanträgen von afghanischen Frauen die sonst übliche und aufwändige Einzelfallprüfung nicht mehr durchgeführt werden muss, sondern es aufgrund der Repressionen für Frauen in Afghanistan künftig ausreicht, Geschlecht und Staatsangehörigkeit festzustellen. De facto steht damit allen afghanischen Frauen pauschal Asyl in der Union zu. Begründet wird dieses "Blanko-Asylrecht" mit der Unterdrückung, die Frauen im von den radikalislamischen Taliban beherrschten Land widerfährt. Es passierte Erwartbares, die Reaktion bewegte sich zwischen Alarmrufen und Rufen, keinen Alarm zu schlagen. Das müssen Sie zur Debatte wissen:

Was besagt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs?
Sinngemäß, dass die Art und Intensität der Diskriminierungen, denen alle Frauen in Afghanistan permanent ausgesetzt sind, so gravierend sind, dass sie als Verfolgung gewertet werden müssen. Weil von dieser Verfolgung alle Frauen in Afghanistan betroffen sind, können die nationalen Behörden laut EuGH künftig auf Einzelfallprüfungen verzichten und allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit Asyl gewähren. Die 27 EU-Länder haben diesem Spruch des Obersten Gerichts der Union zu folgen.

Frauen als Verkäuferinnen auf einem Kleidermarkt im Viertel Jada-e Maiwand in Kabul
Frauen als Verkäuferinnen auf einem Kleidermarkt im Viertel Jada-e Maiwand in Kabul
OMER ABRAR / AFP / picturedesk.com

Was steht im Urteil des EuGH genau?
Unter der Aktenzahl C-608/22 und C609/22 ist folgendes festgehalten: "Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff "Verfolgungshandlung" eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt (…)."

Welche "diskriminierenden Maßnahmen" gegenüber Frauen sind damit gemeint?
Konkret nennt der EuGH das Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, die Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, die Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, das Verbot oder die Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die Verwehrung des Zugangs zu Bildung, das Verbot, Sport auszuüben, und die Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben, wodurch die durchdie Charta der Grundrechte der EU gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigt werde.

Und welchen Schluss zieht der EuGH daraus?
Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.

Nachrichtenmoderatorin Sonia Niazi von afghanischen Sender Tolo News muss auch auf Sendung ihr Gesicht verhüllen
Nachrichtenmoderatorin Sonia Niazi von afghanischen Sender Tolo News muss auch auf Sendung ihr Gesicht verhüllen
WAKIL KOHSAR / AFP / picturedesk.com

Was heißt das?
Es bedeutet, dass Behörden nicht mehr verpflichtet sind, die genauen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen, um Asyl gewähren zu können. Wenn Behörden dennoch ermitteln und herausfinden, dass die konkrete Frau nicht von den Maßnahmen der Taliban betroffen ist, dann können und werden sie den Asylantrag abweisen. So wie bisher auch. Es muss aber nicht zwingend im Einzelfall geprüft werden, ob die Frau in ihrem Herkunftsland verfolgt wird, oder ob ihr Verfolgung droht.

Wie fiel die politische Reaktion in Österreich aus?
Die FPÖ kritisierte das Urteil erwartungsgemäß heftig. Aus der offensichtlichen Unterdrückung von Frauen ein generelles Asylrecht abzuleiten beweise, dass der EuGH "völlig weltfremd" sei, sagte die FP-Europaabgeordnete Petra Steger.

Dabei blieb es aber nicht, oder?
Nein, der Jurist und Europarechts-Experte Walter Obwexer konstatierte in der "Presse": "Die Schlepper müssen nur noch schauen, dass sie Frauen aus Afghanistan in einen EU-Staat bringen. Danach kommen die Mitglieder der Kernfamilie über den Familiennachzug nach."

Voll verschleierte Frau in einer Fußgängerzone in der Münchner Innenstadt
Voll verschleierte Frau in einer Fußgängerzone in der Münchner Innenstadt
Jan Walter / imageBROKER / picturedesk.com

Auch Irmgard Griss sah das so, korrekt?
Die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs gilt bei den NEOS eigentlich als liberales Aushängeschild des bürgerlichen Lagers. In der "Presse" wurde sie nun so zitiert: Die Entscheidung entspreche zwar der EuGH-Rechtsprechung. Aber die Verhältnisse hätten sich im Vergleich zu jener Zeit, in der die Judikatur ihren Ausgang nahm, "gewaltig verändert". Die "Akzeptanz einer Gerichtsentscheidung" in der Gesellschaft dürfe nicht außer Acht gelassen werden. "Man muss schon auch auf die Einstellung in der Bevölkerung eingehen. Sonst werden das Vertrauen in die Rechtsprechung und das Ansehen der Gerichte beschädigt."

Später schwächte sie das ab, oder?
In der Donnerstag-Ausgabe der "Kleinen Zeitung" findet sich ein Kommentar von Griss. Dort schreibt sie: "Die Auswirkung der Entscheidung in der Praxis halte sich in Grenzen."

Was ist die Ausgangslage?
In Afghanistan leben derzeit zwischen 42 und 43 Millionen Menschen. Noch einmal etwa 6 Millionen Afghanen sind in den letzten Jahren vor den Taliban geflüchtet und befinden sich im Ausland, die meisten im Iran oder in Pakistan. Kritiker der EuGH-Entscheidung sagen nun: Das Urteil stellt rund 21 bis 24 Millionen Menschen – eben allen afghanischen Frauen – aus einem der rückständigsten Ländern der Erde einen Freifahrtschein für ein Leben in Europa aus. Das erzeugt Angst vor einem "neuen 2015".

Eine afghanische Familie bei der Ankunft in den USA nach ihrer Flucht aus dem Land in letzter Sekunde vor dem Abzug der US-Streitkräfte
Eine afghanische Familie bei der Ankunft in den USA nach ihrer Flucht aus dem Land in letzter Sekunde vor dem Abzug der US-Streitkräfte
Jose Luis Magana / AP / picturedesk.com

Warum sollen sich die Folgen trotzdem "in Grenzen halten"?
Migrations-Experten sehen kaum Parallelen zur Situation von 2015 und beurteilen die realen Auswirkungen dieses Urteils weit weniger dramatisch. Vor allem aber: Es gibt einige Länder in Europa, die es bereits bisher so gehandhabt haben, wie es nun das EU-Gericht vorschreibt. Dass nämlich jede afghanische Frau, die in der EU Schutz sucht, diesen auch erhält.

Welche Länder sind das?
Dazu gehören Dänemark, Schweden, Finnland – und im Ergebnis auch Österreich. Während in den nordischen Ländern schon seit 2 Jahren allein aufgrund des Geschlechts afghanischen Frauen Asyl zugesprochen wird, wird in Österreich nach wie vor jeder Einzelfall geprüft. Das Ergebnis ist aber dasselbe: Jede afghanische Frau erhält einen Schutzstatus. Und obwohl das seit mindestens drei Jahren bereits so umgesetzt wird, sei kein größerer Zuzug aus Afghanistan zu beobachten, sagen Kenner der Lage.

Aber macht das Urteil nun nicht Reklame für den Zuzug?
Was stimmt: Länder, in denen Afghaninnen schon bisher praktisch ausnahmslos Asyl gewährt wurde, haben das nicht an die große Glocke gehängt. Andererseits lehrt die Erfahrung, dass sich die Asylpraxis einzelner Staaten sehr schnell verbreitet und (potentiellen) Zuwandernden bekannt sein dürfte.

Lukas Gahleitner-Gertz ist Jurist und Sprecher der Asylkoordination Österreich
Lukas Gahleitner-Gertz ist Jurist und Sprecher der Asylkoordination Österreich
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Wie geht Österreich mit dem Urteil um?
Das EuGH-Urteil ist natürlich auch für Österreich insofern bindend, als dass österreichische Behörden nicht mehr verpflichtet sind, den Einzelfall genau zu prüfen. Wenn sie das weiterhin tun wollen, können sie das weiterhin tun. Das Innenministerium hat auch bereits angekündigt, weiter jeden Fall einzeln prüfen zu wollen.

Was heißt das?
Afghaninnen erhalten wie bisher Asyl oder zumindest subsidiären Schutz. Ausnahmen wird es, laut österreichischem Innenministerium, nur für Frauen geben, die ein besonders schweres, nicht politisches Verbrechen begangen haben. Hier besagt die Genfer Flüchtlingskonvention, dass solchen Personen trotz Schutzwürdigkeit kein Asyl zuzuerkennen sei. Allerdings muss es stichhaltige Beweise für ein derartiges Verbrechen geben. Das Innenministerium hat angekündigt, auch künftig alle Asylanträge von Frauen aus Afghanistan auf diese Thematik hin zu überprüfen.

Können diese Frauen ihre Familien nachkommen lassen?
Ja, wie allen anerkannten Asylberechtigten steht auch ihnen das Recht zu, binnen drei Monaten bei der zuständigen österreichischen Botschaft einen Antrag auf Familiennachzug zu stellen. Da Österreich keine Botschaft in Afghanistan unterhält, wären das die Botschaften in Pakistan oder im Iran. Im Jahr 2022 wurden in dem Zusammenhang 434 Einreisegestattungen im Familiennachzug gewährt, davon 161 für Männer und Buben. Im Jahr 2023 waren es 356, davon 138 für Männer und Buben.

Zwei Paare bei einer Massenhochzeit im Jahr 2023 in Kabul
Zwei Paare bei einer Massenhochzeit im Jahr 2023 in Kabul
Ebrahim Noroozi / AP / picturedesk.com

Wer zählt in diesem Fall aller zur Familie?
Diese Regelung gilt für die sogenannte "Kernfamilie", das sind die Ehepartner sowie die gemeinsamen Kinder. Oder, wenn es sich bei den asylberechtigten Frauen um Minderjährige handelt, die noch keinen Ehepartner haben, um deren Eltern.

Was ist mit jenen Frauen, die jetzt bereits ins Ausland geflohen sind und etwa in Pakistan oder im Iran leben?
Auch sie haben ein Anrecht auf Asylstatus in der EU. Es sei denn, sie haben in ihrem aktuellen Aufenthaltsland bereits einen sogenannten Schutztitel erhalten. Das heißt, sie wurden dort bereits offiziell als Flüchtlinge anerkannt und es wurde ihnen Asyl gewährt. Das ist allerdings bei den meisten Geflüchteten weder in Pakistan, noch im Iran der Fall.

Hat Europarechts-Experte Obwexer nun recht oder nicht?
Er mutmaßt, dass durch die neue Rechtslage auch hunderttausende afghanische Familien mittels Familiennachzug in die EU einwandern könnten. Auszuschließen ist dieses Szenario nicht. Es gibt allerdings viele Aspekte, die dagegen sprechen. Die meisten Migrationsexperten sind sich auch darin einig, dass es nicht zu einem Masseneinwanderungs-Szenario kommen wird.

Eine Kleiderpuppe mit verhülltem Gesicht in einem Modegeschäft in Kabul. Die Verhüllung der Puppe ist eine Vorgabe der Taliban
Eine Kleiderpuppe mit verhülltem Gesicht in einem Modegeschäft in Kabul. Die Verhüllung der Puppe ist eine Vorgabe der Taliban
Ebrahim Noroozi / AP / picturedesk.com

Wie viele Frauen aus Afghanistan haben bisher um Asyl in Österreich angesucht?
Die Zahlen schwankten in den vergangenen Jahren stark und gehen tendenziell zurück. Insgesamt gab es zwischen 2014 bis 2023 exakt 16.845 Asylanträge von Afghaninnen in Österreich. Zum Vergleich: Gesamt wurden in diesem Zeitraum in Österreich mehr als 436.000 Asylanträge gestellt.

Was bedeutet das von der Größenordnung her?
Dass in den vergangenen zehn Jahren etwa 3,5 Prozent aller Asylanträge in Österreich von Frauen aus Afghanistan gestellt wurden. Insgesamt sind Asylwerber aus Afghanistan die zweitstärkste Gruppe nach jenen aus Syrien. Und: Zwei Drittel aller afghanischen Asylwerber sind männlich.

Und haben schon bisher alle Frauen aus Afghanistan Asyl in Österreich erhalten?
Auf jeden Fall seit der zweiten Jahreshälfte 2021, nachdem die Taliban erneut die Macht in Afghanistan übernahmen. Aber auch in den Jahren davor wurden die meisten weiblichen Asylwerber aus Afghanistan in Österreich aufgenommen, erhielten also Asyl oder zumindest subsidiären Schutz. Die Zahl der Ablehnungen lag zwischen 2014 und Anfang 2021 (also ehe die Taliban wieder ans Ruder kamen) bei 305 von insgesamt 14.830 Asylanträgen, das waren knapp mehr als 2 Prozent.

Ein afghanisches Frauenfußballteam in Kabul
Ein afghanisches Frauenfußballteam in Kabul
Ebrahim Noroozi / AP / picturedesk.com

Wie viele Frauen haben bisher Asyl und wie viele subsidiären Schutz erhalten?
Die Zahlen schwanken hier von Jahr zu Jahr teilweise recht stark. Aber im Schnitt erhielten bisher etwa 80 bis 85 Prozent der afghanischen Frauen Asyl, der Rest bekam einen subsidiären Schutzstatus zuerkannt.

Was ist der Unterschied zwischen Asyl und subsidiärem Schutz?
Der primäre Unterschied besteht drin, dass Asyl vor allem für jene Menschen gedacht ist, die in ihrem Herkunftsland unter einer Art von Verfolgung, etwa  aufgrund ihrer Religion, ihrer politischen Gesinnung oder etwa ihrem Geschlecht leiden und es nicht abzusehen ist, dass diese Verfolgung in absehbarer Zeit wieder enden wird. Die genauen Umstände für die Gewährung von Asyl sind in der Genfer Flüchtlingskonvention sowie im österreichischen Asylgesetz definiert. Subsidiärer Schutz ist für jene Menschen gedacht, die die Bedingungen für Asyl nicht erfüllen, denen aber bei einer sofortigen Rückkehr in ihr Herkunftsland dennoch eine Form von unmenschlicher Behandlung, Folter oder noch Schlimmeres droht. Er gilt aber zunächst nur für 1 Jahr befristet.

Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien
Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien
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Und wie gestaltet sich das in der Praxis?
Asyl wird laut Gesetz zunächst für drei Jahre zuerkannt, für diese Zeit erhält man eine Aufenthaltsberechtigung. Liegt dann kein Aberkennungsgrund vor bzw. wird das Asyl nicht aberkannt, dann wird das Aufenthaltsrecht unbefristet. Dazu kommt, dass Asylberechtigte österreichischen Staatsbürgern in den meisten Belangen rechtlich gleichgestellt sind und eine größere Chance haben, früher oder später die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Subsidiärer Schutz ist zunächst auf ein Jahr befristet und kann danach immer um zwei Jahre verlängert werden, je nach aktueller Situation im Herkunftsland. Außerdem erhalten Asylberechtigte die Mindestsicherung, während Personen mit subsidiärem Schutzstatus nur das Recht auf eine (finanziell geringer alimentierte) Grundversorgung haben. In Wien können Sie auch als subsidiär Schutzberechtigter die Mindestsicherung beantragen, sofern Sie privat wohnen.

Aber mit dem Spruch der EU gibt es keinen subsidiären Schutz mehr, richtig?
Ja, diese Situation wurde nun mit dem EuGH-Urteil beendet – unter der Voraussetzung, dass die Taliban ihre Repressionen gegen Frauen nicht einstellen. Künftig erhält jede Afghanin in Österreich auf Wunsch Asyl mit allen dazu gehörenden Rechten und Unterstützungen.

Bessere Zeiten: Afghanische Polizistinnen beim Training mit Waffen im November 2022. Inzwischen dürfen die Frauen ihren Dienst nicht mehr ausüben
Bessere Zeiten: Afghanische Polizistinnen beim Training mit Waffen im November 2022. Inzwischen dürfen die Frauen ihren Dienst nicht mehr ausüben
Oliver Weiken / dpa / picturedesk.com

Wie lange darf man mit einem gültigen Asylstatus in Österreich bleiben?
Asylberechtigte Personen erhalten in Österreich vorerst ein befristetes Aufenthaltsrecht auf drei Jahre. Gibt es danach keine Gründe, um ein Aberkennungsverfahren des Asylrechts einzuleiten, erhalten diese Personen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in Österreich. Dieses unbefristete Aufenthaltsrecht gilt, so lange sich die asylberechtigte Person nichts zu Schulden kommen lässt, was eine Aberkennung ihres Asylstatus rechtfertigen würde.

Weshalb geht man davon aus, dass es trotz EU-Urteil keinen Anstieg bei weiblichen Asylwerbern aus Afghanistan geben wird?
Weil die Evidenz dagegen spricht, sagt der Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz von der NGO Asylkoordination, die bei der Beratung und Betreuung von Flüchtlingen unterstützt. "In Österreich ist seit der Machtübernahme der Taliban 2021 kein einziger Schutzantrag einer afghanischen Frau abgelehnt worden und es ist dennoch nicht zu einem Ansteigen der Anträge gekommen", so Gahleitner-Gertz. "Dasselbe sehen wir in Dänemark, Finnland und Schweden."

Auch die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien sieht die Situation ähnlich: "Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern, in denen schon bisher alle Frauen aus Afghanistan Asyl erhalten haben, zeigen, dass es dennoch zu keinem Anstieg der Asylzahlen in dieser speziellen Flüchtlingsgruppe kommt."

Ein Talibankämpfer bewacht Frauen, die um Nahrungsmittelrationen anstehen. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt
Ein Talibankämpfer bewacht Frauen, die um Nahrungsmittelrationen anstehen. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt
Ebrahim Noroozi / AP / picturedesk.com

Wie viele Frauen aus Afghanistan haben heuer bereits um Asyl in Österreich angesucht?
Heuer haben bisher 7.200 Frauen einen Asylantrag in Österreich gestellt, davon waren 253 aus Afghanistan. Das sind etwa 3,5 Prozent aller Fälle. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2023 haben 895 Frauen aus Afghanistan einen Asylantrag in Österreich gestellt und erhalten. Die Asyl-Zahlen bei afghanischen Frauen gehen derzeit also eher zurück, als dass sie steigen.

Weshalb ergreifen seit der Machtübernahme der Taliban im Herbst 2021 nicht mehr Frauen die Flucht?
"Weil Migration oft anders funktioniert, als wir uns das vorstellen", so Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination. Es habe seit der Rückkehr der Taliban schon eine Fluchtbewegung gegeben, aber diese sei primär in die Nachbarländer Pakistan und Iran erfolgt. In der EU gab es einen moderaten Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Afghanistan. Und auch Migrationsforscherin Judith Kohlenberger beurteilt die Lage ähnlich: "Die primäre Frage hier ist ja: Gelingt den Frauen überhaupt die Flucht mach Europa?"

Flüchten überhaupt Frauen alleine aus Afghanistan?
Nein, das komme so gut wie nicht vor, sagt Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz: "Das ist die Ausnahme, denn für so eine Flucht braucht man oft Schlepper, und die kosten sehr viel Geld. Da legen dann oft ganze Dörfer zusammen und da schickt man keine Frau weg, sondern es werden meist junge Männer weggeschickt, weil die Flucht auch sehr gefährlich und physisch wahnsinnig anstrengend ist. Frauen sind in der Vergangenheit vor allem im Familienverband nach Österreich gekommen."

Darf man Asylsuchende, egal ob Mann oder Frau, in jenes EU-Land zurückschicken, wo sie erstmals EU-Boden betreten haben?
Grundsätzlich ja – allerdings ist das in der Realität kaum möglich. Denn viele der klassischen Erst-Einreiseländer, also Staaten an der östlichen oder südlichen Außengrenze der EU, behandeln Flüchtlinge so schlecht, dass keine Asylsuchenden mehr dorthin zurückgeführt werden dürfen, so Asylrechtsexperte Gahleitner-Gertz. "Österreich kann etwa seit 13 Jahren keinen einzigen Asylwerber mehr nach Griechenland und seit 7 Jahren keinen nach Ungarn zurückschicken, weil die Menschen dort so schlecht behandelt werden, dass es als menschenunwürdig gilt. Und solange Griechenland und Ungarn dafür nicht sanktioniert werden, wird sich auch nichts ändern."

Journalistinnen bei einer Pressekonferenz in Kabul
Journalistinnen bei einer Pressekonferenz in Kabul
WAKIL KOHSAR / AFP / picturedesk.com

Und weshalb werden die Asylsuchenden nicht gleichmäßig auf die gesamte EU verteilt?
Weil es in der EU nach wie vor keinen von allen Staaten akzeptierten Verteil-Mechanismus für Asylsuchende gibt. Weshalb einige Staaten wie Österreich oder Deutschland überproportional viele Flüchtlinge beherbergen und andere wie etwa Ungarn kaum welche.

Was wurde aus dem EU-Asyl- und Migrationspakt, der erst vor wenigen Monaten beschlossen wurde?
Der kommt jetzt in die Implementierungsphase, das heißt, alle EU-Staaten haben nun zwei Jahre Zeit, um die Regelungen national umzusetzen. Allerdings haben jetzt bereits mehrere Mitgliedsstaaten angekündigt, diesen nur teilweise oder gar nicht umzusetzen. Und es ist zu erwarten, dass noch weitere Länder auf den Verweigerungs-Zug aufspringen werden. Für den kommenden EU-Migrationskommissar, Österreichs Noch-Finanzminister Magnus Brunner, stellt der Asyl- und Migrationspakt jedenfalls gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine gewaltige Herausforderung dar.

Könnte der EU-Spruch zur Frauendiskriminierung in Afghanistan auch auf andere Länder ausgeweitet werden?
Theoretisch ist das natürlich möglich, in weiten Teilen Asiens und Afrikas steht es um die Frauenrechte nicht besonders gut, Unterdrückung und Diskriminierung sind oft an der Tagesordnung, oft erleiden Frauen auch physische Übergriffe – Stichwort weibliche Genitalbeschneidung in Afrika. Dennoch glaubt Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination nicht, dass er EuGH nochmals diesen Weg einschlagen wird: "Das Ausmaß der Unterdrückung von Frauen durch die Taliban hat eine Intensität erreicht, die nur schwer mit anderen Ländern vergleichbar ist."

Talibankämpfer auf einem von den US-Truppen zurückgelassenen HUMVEE
Talibankämpfer auf einem von den US-Truppen zurückgelassenen HUMVEE
OMER ABRAR / AFP / picturedesk.com

Zweites EuGH-Urteil sorgt ebenfalls für Aufsehen

Neben dem Urteil zum Asylrecht für alle afghanischen Frauen, traf der EuGH noch eine weitere, nicht minder brisante Entscheidung. Die obersten EU-Richter hielten in einem zweiten Urteil fest, dass ein EU-Staat einen Drittstaat nur dann als sicheres Herkunftsland definieren darf, wenn das gesamte Staatsgebiet dieses Drittstaates als sicher einzustufen ist.

Was bedeutet dieser Spruch des EuGH?
Im Grunde stellt er ebenfalls eine juristische Festschreibung eines Status quo dar. Denn das einzige Land, über dessen Sicherheits-Status zuletzt immer wieder diskutiert wurde, ist die Ukraine, da hier weite Teile des Landes nicht von den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland betroffen sind. Weshalb immer wieder die Idee auftaucht, die Ukraine als sicheres Drittland einzustufen, in das abgelehnte Asylwerber rückgeführt werden können.

Ist diese Idee realistisch?
Nun, in Österreich wird jedenfalls nicht davon ausgegangen. Hier wurde die Ukraine bereits im März 2022, also kurz nach Beginn von Russlands Eroberungsfeldzug, von der Liste der sicheren Drittstaaten gestrichen – und daran hat sich seither auch nichts geändert. Das Urteil des EuGH ist somit eine Bestätigung der österreichischen Position. Und schiebt entsprechenden Überlegungen in anderen EU-Staaten vehement einen Riegel vor.

Und wie ist die Situation im Nahen Osten – Stichwort Syrien?
Der gesamte Raum gleicht heute mehr denn je einem Pulverfass, die Eskalation der Auseinandersetzung zwischen Israel auf der einen und der Hisbollah bzw. dem Iran auf der anderen Seite kann jederzeit auf weitere Länder in der Region übergreifen. Syrien liegt mitten im Geschehen, derzeit kehren zigtausende syrische Flüchtlinge aus dem Libanon in ihre alte Heimat zurück, der Iran hat unzählige militärische Stellungen in dem Land, das somit ein Nummer-1-Ziel für israelische Angriffe darstellt. Ehe irgendein Land in der Region wieder als "sicheres Herkunftsland" eingestuft werden kann, wird noch viel Zeit vergehen.

Akt. Uhr
#Menschenwelt
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