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"Kaos": Die Götter müssen wirklich verrückt sein
Die Sagen und Mythen des antiken Griechenland bieten viel Stoff für Adaptionen aller Art. Die neue Netflix-Serie "Kaos" verlegt die Geschehnisse um Zeus, Hera, Dionysos und Co. in die Gegenwart. Bemüht. Trotz ein bisschen Jeff Goldblum.
Hinter der Adaption steht die britische Drehbuchautorin Charlie Covell (die inzwischen im Englischen mit den Pronomen "they/them" angesprochen werden will, wofür es im Deutschen keine wirklich passende Entsprechung gibt). Covell ist vor allem bekannt als Schöpferin der Serie "The End of the F***ing World" (2017-2019). Sie verwebt in "Kaos" die griechischen Götter- und Heldensagen zu einer zeitgemäßen schwarzen Komödie mit mythologischen Aspekten und gesellschaftspolitischen Implikationen.
"Zeus" Jeff Goldblum "Kaos" war sechs Jahre lang im Entwicklungsstadium. Ursprünglich sollte Hugh Grant die Rolle von Göttervater Zeus übernehmen, er sagte aber letztlich aufgrund von Terminkollisionen ab. Für ihn sprang Jeff Goldblum (u.a. "Jurassic Park") ein, der als das "Gesicht" der Serie präsentiert wird, obwohl er letzten Endes eher eine Nebenrolle hat.
Dekadentes Götterleben Der moderne Zeus herrscht in einem prunkvollen Palast über der Insel Kreta, der von Poolboys in knappen Shorts gepflegt wird. Ab und zu ist auch Zeus' nörgelnde Gattin Hera ( Janet McTeer) zugegen, die eine von Zeus' Affären in eine Biene verwandelte und nebenbei gerne Honig isst. Wenn Zeus wütend ist, geht er nicht nur Tontauben-Schießen, sondern auch Poolboy-Schießen: Adrett aufgereiht müssen die jungen Burschen dann auf göttlichen Befehl hin von einer meterhohen Mauer springen, der Göttervater versucht sie dabei mit seinem Gewehr zu treffen (ist eh egal, tot sind sie danach so und so).
Kaos pur Zeus, stets im legeren, aber stylischen Trainingsanzug unterwegs, sorgt sich aber auch um seine menschlichen Untertanen – oder zumindest um deren zunehmend mangelnde Ehrfurcht. Ein Vorfall bei der Feier von Olympia zu Ehren der Götter (ein Denkmal wird mit Kot beschmiert) bestätigt ihm, dass die Menschen langsam den Respekt vor den Göttern verlieren. Hinzu kommen dubiose Vorahnungen und Prophezeiungen, die Zeus in Unruhe versetzen. Als er auf seiner Stirn eine Falte entdeckt, vermutet er eine bevorstehende Revolution, den Zerfall seines Imperiums und darauf folgend den Ausbruch des titelgebenden Kaos.
Überladen Ausgehend von dieser Exposition, spinnt Drehbuchautorin Covell diverse mythische Erzählungen weiter, etwa Orpheus' Trip in die Unterwelt. Dabei offenbart sich der größte Schwachpunkt der Serie: Sie wirkt völlig überladen, ausufernd und wenig stringent. Die Schöpferin hat sich wohl etwas zu viel zugemutet, denn obwohl gerade die Sequenzen mit dem Goldblum-Zeus stets unterhaltsam sind und eindeutig zum Besten der Serie zählen, verliert man bei den diversen Nebenhandlungen schnell das Interesse.
Überambitioniert Covell und ihr Team hätten sich besser auf zwei bis drei Charaktere konzentriert und deren Geschichten exploriert, als zu versuchen, die gesamte griechische Mythologie in eine 8-teilige Serie zu packen. Wenn Homer hunderte Seiten brauchte, um seine Odyssee zu erzählen, erscheint das Ansinnen der Serienmacher doch etwas überambitioniert. Und schadet am Ende dem ganzen Projekt.
Postmoderne Antike Als größtenteils gelungen muss man hingegen den Versuch bezeichnen, die antike Sagenwelt in die Postmoderne zu transportieren. Natürlich ist einiges gewöhnungsbedürftig, wenn antike Eigenarten auf postmoderne Errungenschaften treffen und miteinander verschmelzen. Trotzdem fühlt sich das Update meist organisch an. Teil des Updates ist - wie zu erwarten war - auch, dass der Cast äußerst divers ist, Götterfiguren wie menschliche Protagonisten nicht zwingend wie klassische Hellenen aussehen. Leider weniger gelungen ist die visuelle und ästhetische Umsetzung von "Kaos": Zu brav, zu glatt und sauber wirken die Bilder. Gerade bei einer existenziellen Geschichte über Leben und Tod mit einigen morbiden Aspekten hätte auch die Ästhetik etwas düsterer sein können.
Gesellschaftskritik Wie auch die literarischen Vorlagen, bietet die Serie vielfältige Möglichkeiten zur Interpretation: Gelangweilte, allmächtige Götter im Überfluss auf der einen, teils unterdrückte, leidende und arme Menschen auf der anderen Seite - da muss man nicht sonderlich kreativ sein, um "Kaos" auch als Kritik an herrschenden Zuständen, an den Reichen und Mächtigen, den "Eliten" oder allgemein dem Kapitalismus zu lesen.
Spaltung durch Angst Insbesondere Zeus als eitler, eingebildeter und rachsüchtiger Alleinherrscher dient hier als Blaupause: Seine größte Angst ist, dass sich die Menschen untereinander verbünden und die Angst vor ihm und seinen Götterkollegen verlieren würden. Sein Lösungsansatz: Exempel statuieren, um die Gesellschaft zu spalten, seinen Untertanen wieder das Fürchten zu lehren - und so die alte Ordnung zu bewahren.
Queer Erwähnt werden sollte noch, dass "Kaos" als "queer" par excellence beschrieben werden kann. Die tatsächlich in der griechischen Antike verbreitete (männliche) Homosexualität wird ausgiebig dargestellt, hinzu kommen mehrere Figuren, die sich als weder männlich, noch weiblich (oder beides) einordnen lassen. Teile des Publikums wird das begeistern, andere wird es abschrecken, den meisten wird es vermutlich egal sein. Zur Qualität des Programms tragen diese Aspekte nichts bei, weder positiv, noch negativ.
Fazit Der dreiköpfige Hund der Serie liegt im dramaturgischen Kaos begraben, das einfach zu viele und zu sehr ausufernde Handlungsstränge vorweist, sich manchmal in Details verliert und überladen wirkt. Hier wäre weniger definitiv doch mehr gewesen.
"Kaos", Großbritannien 2024, 8 Folgen à ca. 50 Minuten, ab sofort auf Netflix