Bildungs-Reform
Soll Schule erst um 9 Uhr starten (und bis 17 Uhr gehen)?
Mehr echte Lebensvorbereitung, mehr Digitalisierung, mehr Ganztagsschulen: Welche Aufgaben bei der Bildung auf die neue Regierung warten, sagt Bildungsexperte Niki Glattauer in Teil 2 seiner Analyse.
Es gibt viel zu tun für die neue Bildungsministerin (oder den neuen Bildungsminister)*, wann auch immer feststehen wird, wem diese Ehre zufällt. Damit sich allfällige Kandidaten schon einmal ein Bild über die drängendsten Probleme machen können, haben die drei in Bildungsfragen versierten "Falter"-Journalistinnen Nina Horaczek, Katharina Kropshofer und Barbara Tóth die besten Ideen für eine neue Schule aus den Parteiprogrammen und Think Tanks zusammengesucht.
Mit KI-Stimme Illy: Beide Teile der Serie als Podcast
Diese habe ich, remixed und gesampelt, in eine "To-do-Liste" (in 2 mal 8 Punkten und kursiver Schrift) gepackt und meinen persönlichen Senf dazugegeben. In Teil 1 geht es u. a. um den Chancenindex, die tägliche Turnstunde und einen gemeinsamen ReligionEN-Unterricht für alle Schüler. Hier nun die Punkte 9 bis 16 dieser Checkliste und was ich davon für wirklich dringlich erachte.
9. Schulbeginn erst um 9 Uhr
Statt um acht soll die Schule um neun Uhr anfangen. Predigt der talentierte Herr Salcher seit Jahren. Zumindest bei Teenagern habe dies positive Auswirkungen auf Psyche und Gesundheit, weil es deren Aktivitätsrhythmus besser entspräche. Dänemark probiert das an 20 Schulen gerade aus. Angebliches Zwischenergebnis: Teenies sind munterer, weniger gestresst und aufnahmefähiger.
Meine Meinung: Nine to Five, naja De facto ist das Schulhaus ja auch "Parkplatz" für den "Fortpflanz" arbeitender Eltern (© Angelika Hager). Was sollen Eltern mit ihren Kindern tun, wenn sie um 7 oder 8 Uhr mit dem Tagwerk beginnen (müssen)? Eben. Die Schule 9 to 5 hilft also primär Bobos und anderen Grün- und Pink-Wählern.
"Einschleif-Stunden" am Morgen Allerdings könnte der tägliche Unterricht ab, sagen wir 7.30 Uhr, mit ein, zwei "Einschleif-Stunden" beginnen, in denen die Kinder den Stoff vom Vortag, die nicht gemachten HÜ oder das zuhause nicht konsumierte Frühstück nachholen. Details müssten schulautonom erfolgen. Der neue Bildungsminister kann aber gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen.
10. Muttersprach-Unterricht für fremdsprachige Schüler
Wer seine Erstsprache gut beherrscht, tut sich mit Deutsch und allen weiteren Sprachen viel leichter. Deshalb braucht es Mehrsprachigkeit ab dem Kindergarten und mehr Sprachenvielfalt auf dem Lehrplan. Beispiel Hamburg: Dort kann man nicht nur in Chinesisch, Latein, Polnisch, Russisch das Abi machen, sondern auch in Arabisch und Farsi.
Meine Meinung: Man spricht deutsh Ich habe das, was man aus obiger These ableitet – nämlich dass die Schule ein Kind auch in seiner Muttersprache stärken muss –, nie verstanden. Oder noch deutlicher: Ich halte es für falsch. Meiner Erfahrung und Beobachtung nach lernt ein Kind Deutsch, indem es Deutsch spricht und man ihm parallel dazu das Regelwerk beibringt. Das Kind, das in Österreich zugewandert ist, sollte in der Schule also nicht Erstsprachenkompetenz erwerben, es sollte in der Schule Deutsch lernen.
Hochsyrisch mit dem Privatlehrer Seine Erstsprache praktiziert es (zuhause) ohnehin. Wie gut oder schlecht, kann uns eigentlich egal sein, und wenn engagierte, sagen wir polnische, türkische oder syrische Eltern wollen, dass ihr Kind perfekt Hochpolnisch, Hochtürkisch oder Hochsyrisch lernt, ist es ihnen unbenommen, sich einen Privatlehrer zu nehmen.
11. Leistbare Sportwochen für alle
Schafft bessere Rahmenbedingungen für Winter- und Sommerreisewochen, macht sie verpflichtend und leistbar. Führt neben Sportwochen Winterwander- oder Naturwochen ein – auch mit dem Fokus auf Ökologie!
Meine Meinung: Ins Land einischaun – Volltreffer! In Wien reicht der Horizont vieler, vieler Kinder, zumal solcher mit Migrationsvordergrund, genau bis zum Hof, dem Park, dem Käfig und dem nächsten Handyshop. Umgekehrt hat so manches Landei (doch, doch, Landeier gibt es) vielleicht Lust zu erfahren, wie es ist, sich des Lebens nicht nur hart- oder weichgekocht, sondern "sunny side up" oder "im Glas" zu erfreuen.
Stichwort Horizonterweiterung Will heißen: Stadtkinder sollten das Land kennenlernen, Landkinder die Städte. Winter-, Sommer-, Auslands-, Sport-, Natur- , Kultur- und Sonstwas-Wochen erweitern die Horizonte. Ich habe seinerzeit als Klassenvorstand zwei Mal eine 4. Mittelschul-Klasse zu Spanien-Wochen vergattert. Die Kinder reden jetzt noch von Dalí und Gaudí – von Caesar oder Pythagoras nicht.
12. Mehr Ganztagsschulen
Österreich braucht mehr verschränkten Unterricht – nicht bloß Nachmittagsbetreuung. Derzeit besuchen nur drei von zehn Schülerinnen und Schülern eine ganztägige Schulform.
Meine Meinung: Mehr Plätze und Schätze Sagen wir so: Es wäre schon super, wenn sich Österreich endlich dazu aufraffen könnte, zwei Drittel unserer Schulen nicht mehr zu Mittag zuzumachen, "verschränkter Unterricht" hin oder her. Für die flächendeckende Ganztagsschule – ob nun mit verschränktem Unterricht oder "nur" betreut bei Lern- und Freizeit – bräuchte es aber mehr Räume, mehr Plätze, mehr Schätze. Sprich ein Konzept, ein paar Tischtennistische und den politischen Willen.
Einstürzende Schulbauten Nämlich nichts anderes zu tun, als Kinder künftig neun statt fünf Stunden in denkmalgeschützten Häusern aus vorigen Jahrhunderten festzuhalten, hilft niemandem. 1 m² pro Kind, 1,5 m² für den Lehrer an seinem Katheder, Pult oder Lehrertisch (der auch nicht mehr ist als eine Platte auf vier Beinen und wenn's hochkommt zwei Laden), vorn die grüne Tafel, im Eck daneben ein einst weiß gewesenes Waschbecken für das Auswringen des Schwamms. So sieht es in den meisten Schulklassen immer noch aus.
Zwei am Micky-Maus-Tisch Verbunden sind diese Klassen in 90 Prozent aller Schulen durch Gänge und Stiegen, die mehr Raum einnehmen als alle Klassen zusammen. Solche Gebäude gehörten abgerissen oder umgewidmet. Die kann der beste Baumeister nicht schülergerecht machen. Eine Lehrerin wird nicht müde mir zu sagen: Wenn unsere Klassen doppelt so große wären oder halb so voll, bräuchten wir keine Gewaltschutzkonzepte schreiben.
Ist schon wahr: Inzwischen sitzt jede Autofahrerin in einem Gefährt von der Größe eines Tiny-Hauses, aber unsere Schulkinder setzen sie zu zweit an Micky-Maus-Tische wie vor 100 Jahren. Hier bräuchte es eine echte Revolution: Geld für Hunderte von Schulneu- und ausbauten, Geld für Tausende Freizeitpädagoginnen und Hunderttausende für das Gratis-Mittagessen.
Mittagessen bitte nicht gratis Das meiner Meinung nach so gratis gar nicht sein sollte. Denn würde die bestellten und ausgegebenen Speisen die Eltern auch nur einen Euro im Jahr kosten, gingen sie in ihren Besitz über und sie könnten sich über Elternvereine und Schulgemeinschaftsausschüsse Alternativen zum Wegwerfen von tonnenweise übrig gebliebenem Essen einfallen lassen.
Und nicht in den Mistkübel Allein in Wien landet derzeit Schulessen im Wert von 45.000 Euro im Mistkübel. Täglich! Hier schreibe ich, weshalb das so ist. Ach ja: Und die Schulwarte sollten behördlich dazu angehalten werden, weggeworfenes Mittagessen oder Jausen nicht in den Mülltonnen im Schulhof oder Stiegenhaus zu entsorgen, wie das gefühlt vier von drei Schulwarten tun.
13. Reizthema Gemeinsame Schule
Die gemeinsame Schule. Muss man dazu wirklich noch viel sagen? Nein. Alle außer der FPÖ, der ÖVP und ein paar Lehrergewerkschaftern, Abteilung Gymnasium, sehen im gemeinsamen Unterricht aller bis 14 die Bildungszukunft. Mit flexibler Schuleingangsphase in den ersten beiden Jahren und so gestaltet, dass Kinder mit Behinderung dabei sind.
Meine Meinung: Senf überflüssig Dazu muss man wirklich nichts mehr sagen. Zur Argumentationshilfe gegen FPÖler, ÖVPler und Lehrergewerkschafterinnen, Abteilung Gymnasium, eventuell noch meinen Text zum Thema lesen.
14. Verpflichtende Schwimmkurse
Ertrinken ist die zweithäufigste Todesursache in der Gruppe der Fünf- bis 14-Jährigen. Es bräuchte bereits im Kindergarten oder spätestens bei Taferlklasslern verpflichtende kostenlose Schwimmkurse.
Meine Meinung: Pack die Badehose ein D'accord! Schwimmen ist wichtig, und Schulschwimmkurse sollte es daher auch endlich wieder flächendeckend geben. Verpflichtend wären sie ja bereits in den Volksschulen. Nur wird dieser Verpflichtung mangels Schwimmlehrerinnen, Schwimmhallen und Freibädern immer weniger nachgekommen. Mancherorts auch wegen schwindender Klientel – Stichwort Klassen mit vielen Kopftuchmädchen, die sich scheuen, ins Bad zu gehen bzw., wenn sie es tun, in ihren Burkinis ausgelacht werden. Meine Gedanken zum Thema Schulsport finden Sie hier.
Pflichtgegenstand "Rausgehen" Darüber hinaus muss die Schule unsere Kinder so oft wie möglich ins "richtige Leben" hinausführen. Dem Lehrer brav lauschend die Bank drücken – das ging, als der Schultag noch drei, vier Stunden dauerte. Inzwischen ist es Folter, tägliche Unterrichtszeit von bis zu acht Stunden im wahrsten Sinn des Wortes "absitzen" zu müssen.
In Betriebe, in den Wald, auf den Mond Auf die Straße, zu Veranstaltungen, in Betriebe, auf Grünflächen, in den Wald, ins Land, ins Ausland, auf den Mond, wenn das ginge. Neuer Pflichtgegenstand: "Rausgehen". Auch nicht unwichtiger als "Kochen" oder "Demokratie".
15. Digitalisierungs-Turbo zünden
In Sachen Digitalisierung kann sich Österreich viel von Estland abschauen. Wer ein Kind bekommt, kriegt alle Unterstützungen sofort und digital, ohne sie extra beantragen zu müssen. Sogar die Heirat geht in diesem 1,3-Millionen-Einwohner-Staat bereits digital. Krankenakten, Unternehmensgründung, Wählen, Schulnoten – alles ist dort online möglich.
Meine Meinung: Der digitale Turbo Auch dazu habe ich etwas zum Nachlesen und Vertiefen geschrieben. Kurz zusammengefasst: Statt Overhead-Projektor das Smartboard; statt Tafel und Heft Laptop und Handy; statt AHS- oder BHS-Schüler z. B. Tage, Wochen und Monate lang für die Matura mit dem Neuerfinden alter Räder zu quälen, kontrollierter Einsatz von ChatGPT und Algorithmen; statt eines Buchs aus dem Jahre Schnee, tagesaktueller Content, mittels Scrawler aus dem Netz gesaugt, im Nu im Klassenzimmer, vom Lehrer in passenden Häppchen jedem Kind individuell verabreicht.
Die Lehrer als Regisseurin An all dem führt kein Weg vorbei. "IT wird die Rolle des Lehrers nicht obsolet machen, sie nicht einmal schwächen, sondern im Gegenteil deutlich stärken", prophezeit der Unternehmer im Bereich Digitalisierung, Michael Rossipal. Jede KI sei nur so gut, wie die Lehrer, die sie anwenden. Sie bekämen die Rolle von Regisseuren. Rossipal: Was Kindern in den Klassen unterrichtet wird, müsse von ihren eigenen Lehrpersonen kommen, nicht von einem Buch, das ein Lehrer mit viel Tagesfreizeit und Kontakten zu einem Schulbuchverlag vor 15 Jahren für eine Million Kinder geschrieben habe.
16. Bildung und Integration vereinen
Ressorts sollen sich ergänzen und nicht gegenseitig blockieren. Bildung und Integration gehören zusammengeführt, genauso wie Klima, Verkehr und Landwirtschaft.
Meine Meinung: "Bildung & Integration" Mein Lieblingspunkt auf der „To-do-Liste der Kolleginnen Horaczek, Kropshofer und Tóth. Richtig. Bildung und Integration gehören in Österreich zusammengeführt. Ein solches Mega-Ministerium würde vielleicht auch NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger reizen, die sich – meine persönliche Meinung – Bildung allein wohl nicht antun würde.
Kein pädagogischer Salto rückwärts mehr Und dass das Bildungsressort nach all den Jahren gerade in Zeiten wie diesen bitte NICHT wieder von einem Verwaltungs- und Bewahrungsminister geführt werden sollte, der sich hin und wieder durch einen pädagogischen Salto rückwärts auszeichnet, meine ich jetzt mehr als persönlich. Was das Blockieren angeht: Da wird man's wohl sowieso wieder mit den üblichen 10 Hauptfeinden zu tun kriegen: dem Finanzminister und den Landeshauptleuten …
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Und das sind die weiteren Themen für "die Neue" im Amt
Schauma mal Die Liste ließe sich natürlich fortsetzen, verlängern, vertiefen. Das Abschaffen der "Reife"-Prüfungen in der jetzigen Form (nicht der Matura an sich) oder das Umwandeln der Bildungsdirektionen in Sekretariate mit Service-Charakter für die knapp 6.000 Schulen, die es landesweit gibt, fänden sich ebenfalls in meiner persönlichen To-do-Liste.
Genauso wie die Einführung einer "normalen" 38-Stunden-Woche für Lehrpersonal – Schluss mit der dämlichen "Lehrverpflichtung" von 21 oder 22 Stunden. Oder die ganzjährig geöffnete Schule (minus zwei Wochen im Sommer, in denen sie der Schulwart durchputzt). Schauen wir halt einmal, welche Partei den Bildungsminister stellen wird. Dann werden wir eh schnell sehen …
* Wie stets, verwende ich die weibliche und männliche Form willkürlich wechselnd, alle anderen sind jeweils freundlich mitgemeint
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010