Schul-Experte

Wörthersee gegen Ottakring: Warum Kinder nicht überall gleich viel wert sind

Gleiche Chancen für unsere Schulen hieße ungleiche Finanzierung. Dafür wurde sogar eine Formel entwickelt. Ergebnis: Zwei Drittel der Wiener Volks- und alle 116 Wiener Mittelschulen müssten doppelt so viel Geld kriegen wie bisher. Niki Glattauer klärt auf.

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Gebrauchen wir das salbungsvolle Wording des Johannes-Evangeliums.
Im Anfang war die Formel:

Sieht kompliziert aus, ist es auch: die mathematische Formel hinter dem Chancenindex
Sieht kompliziert aus, ist es auch: die mathematische Formel hinter dem Chancenindex
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Dann war das Wort: Chancenindex.
Im Anfang war das Wort nur bei der Arbeiterkammer und deren Bildungsabteilung.

Inzwischen gibt es kaum eine Bildungsexpertin*, die daran zweifelt, dass nur ein Paradigmenwechsel bei der Ressourcenausstattung unserer Schulen "Licht in die Finsternis" der österreichischen Bildungslandschaft bringen kann. Eine Ressourcenausstattung errechnet nach einer mathematischen Formel.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Geld mit X und Y Diese Formel im Detail zu erklären, ist kompliziert (weiter unten gibt es einen Link). Versuchen kann man es so:
X1 und X2 stehen für den Bildungsstand von Vater und Mutter
Y steht für die Umgangssprache der Schülerin

Je höher der Indexwert nach dieser Formel, desto größer die Benachteiligung der Kinder – und als Folge davon der Schulen mit einer Mehrheit solcherart benachteiligter Kinder. Conclusio der AK (Bereichsleiterin Bildung: Ilkim Erdost): Schulen, deren errechneter Indexwert besonders hoch ist, sollten – abgestuft nach sieben Indexstufen – mehr Geld bekommen als Schulen, deren Indexwert niedrig liegt. Eine Revolution.

Der pinke Index-Fan Es war der pinke Her- und Vorzeigestadtrat Christoph Wiederkehr, der mir anlässlich seiner Buchpräsentation ("Schule schaffen – wie gelingt es, dass Kinder wieder gern in die Schule gehen?", Goldegg Verlag) die drei seiner Meinung nach wichtigsten Reformvorhaben so aufzählte: Erstens ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, zweitens mehr Ganztagsschulen und drittens: die Einführung des "Chancenindex‘". Aha?

Kriegt Kärnten mehr als Wien? Es sei im wahrsten Sinne des Wortes not-wendiger Pragmatismus, so der Wiener Bildungsstadtrat, dass Schulen mit schwierigeren Rahmenbedingungen mehr Geld bekämen, um mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden, als Schulen, die solche gar nicht haben. Und dann machte Wiederkehr eine interessante Bemerkung: "Ich find's ungerecht", sagte er, "dass eine Schule am Wörthersee um 2.000 Euro mehr fürs Personal bekommt als eine Schule in Ottakring." 2.000 Euro mehr? Wie denn, was denn? Diese Aussage veranlasste mich zu einem Faktencheck.

Denn kriegen Lehrer streng nach Tabelle nicht überall das gleiche Gehalt?

So sieht die höhere Ausstattung mit Geldmitteln für Schulen nach dem Chancenindex-Modell der AK aus
So sieht die höhere Ausstattung mit Geldmitteln für Schulen nach dem Chancenindex-Modell der AK aus
AK

Wörthersee vs. Ottakring Nun, die durchschnittlichen Kosten für das Lehrpersonal (für die ja vom Bund und nicht von den Ländern aufgekommen wird) sind pro Schüler gerechnet tatsächlich von Bundesland zu Bundesland verschieden. Warum? Volks- und Mittelschulen in Ballungszentren haben im Regelfall mehr Schüler und sind damit pro Kopf "günstiger" als auf dem Land, mit weniger Schülern und kleineren Klassen. Eine Rolle spielen auch Überstunden (bei Personalmangel) und die unterschiedliche Altersstruktur der Lehrer – ältere Pädagogen sind teurer als jüngere. So weit, so scheinbar normal.

Ja, Kärnten kriegt mehr als Wien Die letzten öffentlich gemachten Zahlen stammen aus 2020 (Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage durch die NEOS). Damals betrug an den AHS-Unterstufen der Unterschied zwischen dem günstigsten Bundesland und dem teuersten 1.800 Euro (Niederösterreich € 5.100,–, Salzburg € 6.900,–). An den Oberstufen kaum anders: (in Vorarlberg € 7.200,–, in Kärnten € 8.900,–). Unterschied also 1.700 Euro.

Und der Vergleich Wien-Kärnten? Der fällt an den Mittel- und Volksschulen am deutlichsten aus. Schon vor vier Jahren wurden den Kärntner MS im Schnitt € 8.500,– pro Schüler an Personalkosten zugewiesen, den Wiener MS aber nur € 7.300,–.  In den Volksschulen bekamen die Kärntner € 5.900,–, die Wiener € 4.900,–. Der Unterschied betrug also nicht € 2.000,– pro Jahr, wie von Wiederkehr behautet, sondern "nur" € 1.000,–. Dennoch hat Wiederkehr das Problem fast noch untertrieben.

Volksschule in Ossiach: Kärntens Volks- und Mittelschulen erhalten durchschnittlich mehr Geld …
Volksschule in Ossiach: Kärntens Volks- und Mittelschulen erhalten durchschnittlich mehr Geld …
Raimund Linke / imageBROKER / picturedesk.com

Gleich ist unfair Dass es sich um Personalkosten pro Schüler (!) handelt, bedeutet nämlich, dass in Kärnten, dem Salzkammergut oder Salzburg jede einzelne Lehrerin zwar das gleiche Gehalt bekommt wie ihre Kollegin in einer Wiener Brennpunktschule, aber halt für ungleich bessere Arbeitsbedingungen, sprich für kleinere Klassen mit weniger Schülern. Und ungleich einfacheren.

Oder anders rum: Schulen, in denen die Lehrerinnen mit widrigsten Umständen zu kämpfen haben – bildungsferne Eltern, bis zu 100 Prozent Migrationshinter- und vordergrund, Familiennachzügler aus aller Herren Länder, Kultur-Clash, Gewalterfahrung durch Krieg und Vertreibung, zig Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf – kriegen derzeit keinen Cent mehr als Schulen, in denen die Lehrer nichts anderes tun müssen, als konsequent den Lehrplan abzuarbeiten. (Dass es natürlich auch in diesen Schulen nicht immer ohne Brösel abgeht, ist eine andere Geschichte.)

Sagt auch die Armutskonferenz Genau hier, so nicht nur Wiederkehr, brauche es einen neuen Modus. Schulen sollten ein Budget zur Verfügung haben, das nicht mehr nur nach dem Gießkannenprinzip pro Schülerkopf berechnet wird, sondern zusätzlich nach dem Schweregrad der Herausforderung. So verlangte jüngst auch die Armutskonferenz "die sofortige Umsetzung eines 'Chancenindex',  über welchen Schulen mit besonderen Herausforderungen mehr Ressourcen bekommen" (O-Ton Martin Schenk, der Sozialexperte der Diakonie, bei einer Pressekonferenz zum Thema).

… als jene in Wien – hier eine in Containern untergebrachte Klasse in Wien Favoriten
… als jene in Wien – hier eine in Containern untergebrachte Klasse in Wien Favoriten
JOE KLAMAR / AFP / picturedesk.com

Schule gratis – von wegen Schenk erläuternd: "Es heißt, die Schule ist hierzulande gratis, aber das ist falsch: Von Heften, Handarbeitszeug und Malfarben bis zu Kopierkosten, Milchgeld und Wandertagen belaufen sich die Ausgaben der Eltern pro Kind und Jahr in der Volksschule auf 1.400 Euro. In der Oberstufe auf 1.690 Euro." Die aktuellen Ergebnisse des AK-Nachhilfebarometers zeigen, dass im Schuljahr 2023/24 nahezu jedes zweite Kind Nachhilfe benötigte. Insgesamt gaben Familien 168 Millionen Euro für private Nachhilfe aus, womit die Gesamtausgaben im Vergleich zum Jahr davor um 46 Millionen angestiegen sind.

200.000 benachteiligte Kinder Nur: In 40 Prozent aller Fälle, in denen sich Eltern Nachhilfe für ihre Kinder wünschen, scheitert der Plan an den finanziellen Möglichkeiten. Was rund 200.000 Schüler betraf, oder besser: benachteilige. Auch hier könnte ein "Chancenindex" greifen. Schenk: "An sämtlichen Schulen sollen Einkommen und Bildungsniveau der Eltern erfasst werden. Je schwieriger die Lage, desto mehr Geld muss zu fließen – zum Beispiel für Nachhilfeunterricht."

Damit noch einmal zurück zu der Formel:

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Gebildete Eltern für alle! Das "leichteste Spiel" haben Schulen dann, wenn sich ihre Klientel aus Kindern zusammensetzt, deren Eltern Hochschul- bzw. Akademieabschluss haben und die Familiensprache Deutsch ist (Indexwert 100). Von "maximaler Benachteiligung" kann gesprochen werden, wenn beide Elternteile höchstens einen Pflichtschulabschluss haben und Deutsch nicht die Umgangssprache ist (Indexwert 180). Die Indexe für jeden Schulstandort ergeben sich aus dem Mittelwert der Schülerwerte in sieben Index-Stufen (siehe hier – scrollen Sie zu der Formel auf Seite 17).

Index 7 – 100 Prozent mehr Geld Verkürzt gesagt: Einer Schule in Indexstufe 7 stehen zusätzliche Mittel zu 100 Prozent zur Verfügung. Ein Schulstandort in Indexstufe 6 erhält 75 Prozent der Maximalsumme, während Schulstandorte in Stufe 3 und Stufe 2 einen niedrigeren Anteil zusätzlich erhalten (12,5 Prozent bzw. 6,25 Prozent). Schulen der Stufe 1 werden keine zusätzlichen Mittel zugeteilt, da die Basisfinanzierung als ausreichend einstuft wird.

1000 Schulen betroffen Martin Schenk unter Berufung auf die Statistik Austria: "17 Prozent der Pflichtschulen haben hohen und sehr hohen Bedarf!" Das wären mehr als 1.000 Schulen. Auch kein Lercherl …

Ganz arg in Wien, no na Dass die Situation in Wien – no na – besonders dramatisch ist, zeigt die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage durch die Wiener Grünen (hier finden Sie Wiederkehrs Anfragebeantwortung). Fazit: Sortiere man die 259 Wiener Volksschulen nach den Gemeindebezirken, erkenne man, dass sich bereits in sieben Bezirken (Margareten, Favoriten, Simmering, Meidling, Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Brigittenau) der überwiegende Teil der Volksschulen in der höchsten (!) Indexstufe befinde. Umgekehrt gebe es eine niedrige Indexstufe in der Mehrheit der Volksschulen nur noch in den Bezirken Wieden, Neubau, Hietzing, Währing und Josefstadt.

Hat in Wien den Chancenindex im Mini-Format quasi durch die Hintertür bereits eingeführt: Wiens NEOS-Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr
Hat in Wien den Chancenindex im Mini-Format quasi durch die Hintertür bereits eingeführt: Wiens NEOS-Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr
Isabelle Ouvrard / SEPA.Media / picturedesk.com

Am ärgsten in den Mittelschulen Noch krasser in den Mittelschulen – Wiens Sammelbecken für die Kinder der zweiten Gesellschaftsklasse. Die MS werden nämlich sogar in jenen Bezirken, in denen es Volksschulen mit niedrigen Indexwerten gibt, von hohen Indexwerten dominiert – also auch in der Josefstadt, in Alsergrund, in Hernals. Von Favoriten, Simmering, Ottakring & Co. ganz zu schweigen. Einzige Ausnahme in Wien ist Döbling mit einigermaßen ausgewogenen Werten. Insgesamt fallen aber fast alle 116 Mittelschulen Wiens in die höchsten Index-Kategorien.

Mini-Chancenindex Das in Sachen Bildung pink-rote Wien hat durch die Hintertür einen "Mini-Chancenindex" bereits eingeführt: Jene Schulen, die besonders viele Kinder mit "sozialen Belastungen" besuchen, bekamen nun bereits im vierten Jahr (auch) heuer (wieder) überdurchschnittlich viele Lehrkräfte zugeteilt – zum Ärger und Verdruss jener Schulen übrigens, deren "Chancenindex" bei 100 liegt; nicht wenige Direktorinnen klagen mir per Mail ihr Leid …

Die Grünen wollten eh, aber … Für die Wiener Grünen nicht genug. Dem "Standard" klagte deren Wiener Bildungssprecher Felix Stadler: Frei nach Wiederkehr bekämen Schulen, die in die höchste Kategorie fallen, "von der Bildungsdirektion gerade einmal 0,95 zusätzliche Vollzeitäquivalente – nicht einmal einen ganzen Lehrerposten mehr. Stadler: „Das reicht bei weitem nicht aus, um die massiven Herausforderungen an diesen Schulen zu stemmen." Der "Standard" fragte freilich frech nach: Hätten die Grünen, die seit fünf Jahren im Bund regieren, den Chancenindex nicht längst umsetzen können? Stadler: Nein, die ÖVP habe dieses Ansinnen in der Koalition stets blockiert.

Keine Freunde des Chancenindex auf Bundesebene: Bildungsminister Martin Polaschek und Integrations- und Frauenministerin Susanne Raab, beide ÖVP, bei einer Pressekonfrerenz zum Thema "Vorhaben der Volkspartei im Bereich Bildung und Integration"
Keine Freunde des Chancenindex auf Bundesebene: Bildungsminister Martin Polaschek und Integrations- und Frauenministerin Susanne Raab, beide ÖVP, bei einer Pressekonfrerenz zum Thema "Vorhaben der Volkspartei im Bereich Bildung und Integration"
Martin Juen / SEPA.Media / picturedesk.com

In Deutschland wird geklotzt Dabei zeigen Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern (z. B. in Hamburg oder Kantonen in der Schweiz) mit so genannter bedarfsorientierter Mittelverteilung, wie der "Chancenindex" jenseits unserer Grenzen heißt, dass die Schulleistungen von sozial schwächeren SchülerInnen dadurch nachweislich verbessert werden – ohne dass die Leistungen der chancenmäßig besser aufgestellten Mitschüler sinken. In Deutschland hat man sich daher dazu entschlossen, beginnend mit dem heurigen Schuljahr rund 20 Milliarden Euro in ein Startchancen-Programm zu investieren. Über einen Zeitraum von 10 Jahren sollen 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil "sozial benachteiligter Schüler:innen" finanziell gestärkt werden – mit starkem Fokus auf den Grundschulen (Volksschulen), 60 Prozent des Budgets soll dorthin gehen.

Eine halbe Mille pro Schule Die 4.000 Schulen entsprechen 12 Prozent der deutschen Schullandschaft. 20 Milliarden Euro, aufgeteilt auf 10 Jahre, heißt 2 Milliarden Euro pro Jahr. Damit stünden jedem Standort im Schnitt 500.000 Euro pro Jahr zusätzlich zur Verfügung.

Startchancen-Programm: Der Vergleich zu Deutschland fällt beschämend aus
Startchancen-Programm: Der Vergleich zu Deutschland fällt beschämend aus
iStock

Bei uns wird gekleckert Und Österreich? Da gibt es das türkis-grüne Projekt "Hundert Schulen, tausend Chancen" (hier eine wissenschaftliche Analyse). Der Vergleich zu Deutschland fällt beschämend aus. Um das Niveau von "Startchancen" zu erreichen, müsste eine künftige Bildungsministerin (vielleicht wird's ja diesmal wieder eine Frau) die Zahl der teilnehmenden Schulen verfünffachen, das Investitionsvolumen verzehnfachen und die Förderlänge um sechs Jahre verlängern. Und von langfristig auch keine Rede. "Hundert Schulen, tausend Chancen" fällt in die Kategorie „Pilotprojekt“…

Diakonie-Sozialexperte Martin Schenk trocken: "Ich glaube, wir brauchen keine Pilotprojekte mehr." Nachsatz: "Man sollte den Chancenindex einfach einführen."

Im Anfang war das Wort. (…) Und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. So heißt es bei Johannes …

Wird der neuen Bildungsminister ein Machtwort sprechen? "Chancenindex" zum Beispiel?

* Wie immer wechsle ich willkürlich zwischen weiblicher und männlicher Form.

Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010

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