Gesundheits-Experte

Spitals-Sperren: "In Niederösterreich würden 8 Kliniken genügen"

Wir haben zu viele, aber dafür häufig die falschen Krankenhäuser. Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer über den Reformbedarf in der heimischen Spitalslandschaft. Und warum die Politik auch diesmal daran scheitern wird.

Österreichs Spitalslandschaft benötigt dringend eine Reform, sagt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. Die umstrittenen Schließungspläne in Niederösterreich sind dafür ein erstes Indiz
Österreichs Spitalslandschaft benötigt dringend eine Reform, sagt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. Die umstrittenen Schließungspläne in Niederösterreich sind dafür ein erstes Indiz
Science Photo Library / picturedesk.com
Martin Kubesch
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Ein Krankenhaus zu schließen, so eine Grundregel, so was überlebt man als Politiker nicht. In Niederösterreich sollen jetzt gleich vier Spitäler zusperren. Für Teile der Bevölkerung – und die Oppositionsparteien – gleicht das einem Super-GAU. Entsprechend gingen auch die Wogen hoch, nachdem vergangene Woche die Pläne der Landesgesundheitsagentur im VP-FP-geführten Land publik wurden.

Die Politik reagierte erwartbar "Planspiele", "Arbeitsunterlagen", "nichts ist fix" – so argumentierte von Gesundheitslandesrat Ludwig Schleritzko abwärts die regierende ÖVP. Die Landes-SPÖ schrie indes ganz laut Alarm und machte sich zum Kämpfer für Niederösterreichs Kliniken. SP-Landesgeschäftsführer Sven Hergovich, selbst studierter Volkswirt, sprach sich lautstark gegen die Schließungen aus und forderte eine "wohnortnahe Akutversorgung für alle Niederösterreicher". So weit so erwartbar.

Was wird in Niederösterreich überlegt? Das geleakte Papier sieht eine Bündelung von Kapazitäten vor, um Ressourcen zu sparen. Konkret ist davon die Rede, die drei Kliniken Korneuburg, Stockerau und Hollabrunn (die drei Krankenhäuser liegen nur 15 bzw. 25 Kilometer auseinander) zu schließen und ein neues Krankenhaus "Weinviertel Süd-West" zu errichten. Außerdem würde demnach die Klinik Gänserndorf in ein Primärversorgungszentrum umgewandelt und in den Kliniken Melk, Klosterneuburg, Gmünd und Waidhofen an der Thaya die Akutversorgung geschlossen werden.

Landesklinikum Stockerau: Eine Schließung steht im Raum, ebenso wie für die benachbarten Kliniken in Hollabrunn und Korneuburg
Landesklinikum Stockerau: Eine Schließung steht im Raum, ebenso wie für die benachbarten Kliniken in Hollabrunn und Korneuburg
Ernst Weingartner / Weingartner-Foto / picturedesk.com

Verbesserung oder Verschlechterung? Ob die ins Auge gefassten Maßnahmen unter dem Strich eine Verbesserung oder eine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung bedeuten, darüber wird seit vergangener Woche gestritten. Und das zumeist von Menschen, die auf Neudeutsch "ge-bias-t", also aus verschiedenen Gründen voreingenommen sind, sei es aus politischen, wirtschaftlichen oder emotionalen Gründen. Wie so oft tritt die Objektivität bei derartigen Debatten in den Hintergrund.

"In Niederösterreich würden 8 Kliniken genügen" Einer, der seit vielen Jahren einen ungetrübten Blick auf das heimische Gesundheitssystem hat, ist der Gesundheitsökonom der MedUni Innsbruck, Ernest Pichlbauer. Er weist immer wieder auf die Schwachstellen im System hin und weiß auch, wo man hinschauen müsste, um sich Anregungen zu holen, wie es besser ginge. Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer über:

Schließungen in Niederösterreich, wer hat Recht, Bewahrer oder Reformer?
Recht haben die Experten. Ich kenne nur, was in den Medien präsentiert wurde, aber das deutet auf eine Expertenmeinung hin und die sieht die Spitalslandschaft in Niederösterreich sehr kritisch, und das nicht erst seit gestern, sondern seit 20 Jahren.

"Es wird bei uns viel zu viel im Spital behandelt", sagt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer
"Es wird bei uns viel zu viel im Spital behandelt", sagt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer
FOLTIN Jindrich / WirtschaftsBlatt / picturedesk.com

Was war vor 20 Jahren?
Ich persönlich bin seit 20 Jahren in dem Geschäft, ich wurde damals vom Land Niederösterreich beauftragt, dass wir die Spitalsreform umsetzen. Dann hat sich allerdings die Politik geändert, die Spitäler sind zu 100 Prozent ans Land gegangen und dann war es mit der Spitalsreform wieder vorbei. Aber dass Niederösterreich eine Spitalsreform braucht, ist also wirklich uralt.

Ist Niederösterreich ein Einzelfall?
Alle Bundesländer brauchen Spitalsreformen. Bereits 1969 hat die WHO festgehalten, dass Spitäler nicht Teil eines allumfassenden Gesundheitsplans sind und damit kein diesbezügliches Weisungsrecht des Bundes gegenüber den Ländern existiert. 1969. Also wir wissen seit 55 Jahren, dass eine Spitalsreform ansteht. Und genauso lange wurde sie missachtet und wir flicken nur die Löcher zu.

Weshalb bricht der Reformbedarf gerade jetzt auf?
Ich habe im Jahr 2007 in einem Buch vorausgesagt, dass mit der demografischen Entwicklung, die ab 2020 eintritt, dieses Spiel nicht mehr weiter geht und man sich darauf vorbereiten sollte. Aber man hat sich nicht darauf vorbereitet und jetzt ist das Ende der Fahnenstange erreicht.

Österreich wird in einigen Jahrzehnten 10 Millionen Einwohner haben. Bräuchten wir da nicht mehr statt weniger Spitäler?
Wir haben in Österreich  eine Spitalslastigkeit, die um 60 Prozent über dem europäischen Schnitt liegt. Das heißt, dass wir viel zu viel im Spital behandelt werden und viel zu wenig ambulant.

Woran liegt das?
Weil wir eben die Spitäler um jeden Preis erhalten wollen und dazu auslasten müssen. Das ist die logische Konsequenz. Dementsprechend sind Krankenhausschließungen immer superpolitisch.

Könnte nach den aktuellen Plänen seine Akutversorgung zusperren müssen: das Landesklinikum Waldviertel - Waidhofen/Thaya
Könnte nach den aktuellen Plänen seine Akutversorgung zusperren müssen: das Landesklinikum Waldviertel - Waidhofen/Thaya
Ernst Weingartner / Weingartner-Foto / picturedesk.com

Hat die Politik die falsche Perspektive?
Ein Beispiel: Es sterben jährlich mehrere hundert Menschen an Krankenhauskeimen, die sie nur deswegen gekriegt haben, weil sie unnötigerweise im Krankenhaus aufgenommen wurden. Das führt aber zu keinem Aufschrei, seit Jahrzehnten nicht. Aber eine Standortschließung führt zu einem Aufschrei.

Was ist mit dem Argument, dass weniger Spitäler längere Anfahrtswege bedeuten?
Das ist alles falsch. Der medizinische Fortschritt arbeitet darauf hin, möglichst viel präventiv abzufangen und möglichst viel ambulant zu machen. Selbst wenn wir als Gesellschaft wachsen, heißt das ja nicht, dass die Spitäler mitwachsen müssen. Ganz im Gegenteil. Wenn wir Länder mit Vorbildwirkung anschauen wie die Niederlande, die haben weniger als die Hälfte der Spitalsaufnahmen pro Kopf als wir.

Was ist das Problem mit den kleineren Spitälern?
Die sind zu klein. Die Medizin spezialisiert sich zunehmend. Ein Beispiel: Früher gab es den Internisten. Der hat sich vom Herzen bis zur Niere überall ausgekannt. Das ist vorbei. Die Innere Medizin zerfällt in 20, 25 Sub-Spezialitäten. Und wenn Sie so ein breites Fach aufbauen wollen, brauchen Sie riesige Abteilungen, mit Nierenspezialisten, Herzspezialisten etc. Die Abteilungen werden so groß, dass sie automatisch wieder zerfallen, in Nephrologie, in Kardiologie usw. Das kriegen Sie alles in einem kleinen Krankenhaus nicht unter.

Gilt das auch für andere Fachbereiche?
Das Gleiche gilt für Chirurgie, für Orthopädie, für Unfallchirurgie. Es gilt für alles. Das medizinische Wissen verdoppelt sich alle sieben Jahre. Bedeutet, dass die Spezialisierung laufend voranschreitet. Und um das auf den Boden zu bringen, brauchen Sie entsprechende Strukturen. Das kann eben nicht eine Abteilung sein, die so klein ist, dass sie gerade mal die Dienstpläne füllen kann. Das geht nicht.

Seit Bekanntwerden der Spitalsreformpläne unter Beschuss: Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und Gesundheitslandesrat Ludwig Schleritzko (beide ÖVP), hier bei der Konstituierenden Sitzung des Niederösterreichischen Landtages am Donnerstag, 23. März 2023 in St. Pölten
Seit Bekanntwerden der Spitalsreformpläne unter Beschuss: Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und Gesundheitslandesrat Ludwig Schleritzko (beide ÖVP), hier bei der Konstituierenden Sitzung des Niederösterreichischen Landtages am Donnerstag, 23. März 2023 in St. Pölten
HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com

Kleine Spitäler können die benötigten Leistungen also nicht mehr erbringen
Wir können auch auf einem Niveau arbeiten, das irgendwo in den 1980er-Jahren stecken geblieben ist, aber dann dürften wir nicht mehr von der besten Versorgung sprechen, die möglich ist. Entweder arbeitet man auf dem Niveau der 1980er-Jahre-Medizin mit allen Konsequenzen, dann kann man diesen Standort-Fleckerlteppich weiterführen. Oder man bringt moderne Medizin auf den Boden und dann ist das vorbei. Was eben nicht geht, ist dieses typisch österreichische sowohl als auch.

Weshalb wird das aber nicht gesehen?
Es wird ja gesehen. Ich habe schon vor 15 Jahren vorausgesagt, dass das System an der Realität scheitern wird. Und das ist auch so, wenn man sich anschaut, wo die Ärzte arbeiten wollen. Die meiden diese kleinen Spitäler. Die muss man zwingen, dass sie dort überhaupt hingehen. Und die Ärzte sind nun einmal die Reifen, die die Kraft auf den Boden bringen.

Warum muss man die Ärzte zwingen?
Weil dort keine moderne Medizin betrieben wird. Wenn man auf einer Internen ist und den Facharzt für Innere Medizin macht und praktisch nichts sieht, was die innere Medizin heute ausmacht, dann will man dort nicht hin. Deshalb gibt es ja auch den Zwang, dass die jungen Ärzte nach der Ausbildung in einem Spital arbeiten. Fünf Jahre müssen sie das bereits tun, mittlerweile gibt es die Phantasie, das auf zehn Jahre zu verlängern. Denn nur mit Zwang bringen wir die Leute überhaupt dorthin.

Wie sieht das in der Praxis aus?
Ein Beispiel: Ein Krankenhaus, das 400, 500 Geburten pro Jahr macht, hat mindestens sechs Fachärzte dafür. Da hast du pro Kopf etwa zwei Geburten in der Woche. Wenn dann aber eine ernsthafte Notsituation eintritt, dann ist man mangels Routine völlig überfordert. Und weil die Ärzte das wissen, gehen sie dort nicht mehr hin.

Analysen zeigen: Den meisten Patienten ist die Qualität der medizinischen Versorgung wichtiger als ein möglichst kurzer Anfahrtsweg in Krankenhaus
Analysen zeigen: Den meisten Patienten ist die Qualität der medizinischen Versorgung wichtiger als ein möglichst kurzer Anfahrtsweg in Krankenhaus
Weingartner-Foto / picturedesk.com

Müsste dann nicht eigentlich das heimische Spitalswesen vollkommen neu aufgebaut werden?
Ja natürlich. Als ich noch für das Land Niederösterreich gearbeitet habe, haben wir uns mit der strategischen Spitalsplanung unter dem Blickpunkt der Erreichbarkeit beschäftigt. Wenn man neue Spitäler mitten auf die grüne Wiese stellt, wie das zum Beispiel die Dänen machen, könnte man die Zahl in Niederösterreich auf acht Standorte reduzieren. Das sind dann große Einheiten, die irgendwo stehen und tatsächlich die benötigte fachliche Expertise liefern können. Aber in diesen kleinen Spitälern wird man keine moderne Medizin finden.

Weiß man, was den Patienten wichtiger ist – moderne Medizin oder kürzerer Anfahrtsweg?
Wir haben bereits vor 15 Jahren Patientenstromanalysen gemacht und gesehen, dass viele Patienten das zu ihnen nächstgelegene Krankenhaus umfahren und lieber weitere Wege in Kauf nehmen, wenn es ihnen zu klein erscheint. Die Patienten wollen Qualität, das ist in hunderten Studien untersucht worden.

Welche Länder würden Sie der neuen Regierung als Vorbild empfehlen für eine moderne Planung des Gesundheitssystems?
Seit Jahrzehnten gilt Dänemark als Paradebeispiel dafür, wie man Reformen machen kann. Die haben eine ähnliche Ausgangssituation gehabt wie Österreich: Hochgradig fragmentiert mit unglaublichen Zuständigkeiten, politischem Einfluss etc. und haben die moderne Medizin immer weniger auf den Boden gebracht. Dort haben die Regionen, also die Bundesländer, zusammengefunden und definiert, was notwenig wäre: Was dezentral geht, dezentral machen und was zentraler sein muss, zentraler planen.

Könnte Vorbild in Sachen strategischer Planung sein: Dänemarks Gesundheitswesen – hier das Reichshospital in Kopenhagen
Könnte Vorbild in Sachen strategischer Planung sein: Dänemarks Gesundheitswesen – hier das Reichshospital in Kopenhagen
IDA MARIE ODGAARD / AFP / picturedesk.com

Über die Bundesländer-, sprich Regionengrenzen hinweg?
Ja, die gibt es nämlich nach der gesetzlichen Planung auch in Österreich  gar nicht mehr. Es gibt auch bei uns Versorgungsregionen, die sind größenmäßig unterhalb der Bundesländer, und dann gibt es darüber liegende Versorgungszonen, die sich bundesländerübergreifend. Da gehört zum Beispiel Wien, Niederösterreich und das Nordburgenland zur Versorgungszone Ost. Diese Gastpatienten-Diskussion (zwischen Wien, NÖ und dem Burgenland, Anm.) ist deshalb auch absurd, weil eigentlich seit 20 Jahren die Spitalsplanung in dieser Region überregional stattfinden müsste.

Wird mit Niederösterreich jetzt der gordische Knoten durchschlagen und eine neue Struktur auf den Weg gebracht?
Nein, das glaube ich nicht. Ich beobachte das alles schon sehr lange. Das Problem ist, die Politik wird sich alle möglichen Tricks einfallen lassen, um diese gewaltigen Strukturprobleme noch länger zu kaschieren. Und die Patienten werden darauf antworten mit einer immer stärkeren Privatisierung. Ich glaube nicht, dass diese Politik in der jetzigen Verfassung die geringste Chance hat, hier zu reformieren.

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