"Shrinking"
Wie Harrison Ford seine Altersrolle gefunden hat
Als ungleiches Psychotherapeuten-Duo balancieren Jason Segel ("How I Met Your Mother") und der Ex-Indiana Jones zwischen Comedy und Drama. Staffel 2 ist ab sofort auf Apple TV+ zu sehen.
Bill Lawrence schuf vor gut 20 Jahren mit "Scrubs" eine der prägenden Comedy-Serien der letzten Jahrzehnte. Damals war es noch üblich, Sitcoms im "Single Camera"-Modus zu drehen. Die Serie um einen tollpatschigen Arzt in Ausbildung und seinen Krankenhaus-Alltag war eine der ersten, die das änderte und mit mehreren Kameras arbeitete. Und zudem auf Lacher "aus der Dose" verzichtete. Was damals die Ausnahme war, ist heute längst Norm im Serien-Geschäft – auch dank der "Pionierarbeit" von Bill Lawrence.
Sitcom mit Tiefe Der Serienschöpfer revolutionierte die TV-Landschaft aber nicht nur in technischer Hinsicht, sondern sorgte auch für einen neuen Ton: "Scrubs" ist eine Mischung aus Drama und Comedy - auch "Dramedy" genannt - und vereint lustige und ernste Momente. Das Komische bekam dadurch eine für Comedy-Serien ungewohnte Tiefe, mit den Scrubs – das Wort bezeichnet die OP-Kleidung von medizinischem Personal und meint die Spitalsbelegschaft – konnte man lachen und weinen gleichermaßen.
Erfolgreiches Duo Bill Lawrence + Apple TV+ Trotz der nach "Scrubs" halbwegs erfolgreichen Serie "Cougar Town" dauerte es bis 2020, ehe Lawrence seinen nächsten Hit landen konnte. Der hieß "Ted Lasso" und wurde von Fachleuten als "wichtigste Comedy-Serie des Streaming-Zeitalters" bezeichnet. Und Apple TV+ und Bill Lawrence blieben sich treu. Letztes Jahr feierte "Shrinking" Premiere, heuer die Krimi-Serie "Bad Monkey". Alle kamen bzw. kommen unverkennbar aus Lawrences Feder und der Erfolg gibt Schöpfer wie Auftraggeber Recht.
Psychotherapeut in der Krise Gerade mit "Shrinking" ist Bill Lawrence eine echte Perle gelungen, die den von allen geliebten "Ted Lasso", dem in der 3. Staffel leider die Luft ausging, noch übertrifft. Die Serie – hier bleibt Lawrence seinem Lieblingsgenre Dramedy treu - handelt von einem Psychotherapeuten (in den USA umgangssprachlich auch "Shrink" für Seelenklempner genannt) in der Krise, gespielt von Jason Segel ("How I Met Your Mother"), der auch Co-Creator ist.
Darum geht's in "Shrinking" Jimmy Laird ist ein Therapeut mit Therapiebedarf. Er hat seine geliebte Frau bei einem tragischen Autounfall verloren und vertreibt sich seither seine Zeit in erster Linie mit Alkohol, Drogen und Prostituierten, um seinen Schmerz zu betäuben. Problem dabei: Er hat eine jugendliche Tocher, Alice (Lukita Maxwell), die ihren Vater bräuchte. Und Klienten, die seine Aufmerksamkeit als Therapeut brauchen. Was schwer geht, wenn der Therapeut selbst dringend Therapie bräuchte.
Mentor und Protegé Laird ist in einer Gemeinschaftspraxis angestellt, die Paul Rhodes (Harrison Ford) gehört. Rhodes, ein Therapeut alter Schule, privat stets mürrisch, distanziert und emotional eher ein Flatliner, ist so etwas wie Jimmys Mentor. Auch hier bleibt sich Lawrence treu, die Beziehung der beiden weist etliche Parallelen zur Beziehung zwischen John "JD" Dorian und Dr. Cox in "Scrubs" auf.
Keine Grenzen "Shrinking" bezieht seine dramaturgische Spannung aus der clever konstruierten Ausgangslage: Ein kaputter Therapeut in der Existenzkrise, der selbst dringend Hilfe bräuchte – das verursacht jede Menge kleiner und großer Katastrophen im Job. Insbesondere wird es zum Problem, dass Laird keine "professionellen Grenzen" mehr zu kennen scheint und sich immer wieder ins Privatleben seiner Patienten einmischt, was im Fall des Ex-Soldaten Sean (Luke Tennie) sogar dazu führt, dass der bei ihm einzieht.
Nonchalante Lebensweisheiten Als zweiter Handlungsanker fungiert die Mentor-Schüler-Beziehung zwischen Laird und Rhodes. Immer wieder führen die selten friktionsfreien Gespräche zwischen "Lehrer" und "Schüler" zu wertvollen Erkenntnissen für den Schüler, manchmal auch für den Lehrer. Durch die psychologisch kluge und sensible Art, wie die Serie diese Konflikte an der Schnittstelle zwischen privat und beruflich sowie deren schrittweise Auflösung vermittelt, ist man als Zuschauer auch emotional involviert: "Shrinking" schenkt seinen Sehern auf geradezu nonchalante Weise Lebensweisheiten (auch das kennt man übrigens aus "Scrubs").
Highlight Harrison Ford Das schauspielerische Highlight der Serie ist zweifelsohne Harrison Ford, der eine altersgerechte Rolle auf den Leib geschrieben bekommen hat. Sein minimalistisches Schauspiel, das hin und wieder geradezu desinteressiert und unbeteiligt wirkt, kommt hier umso mehr zur Geltung: Hinter der mürrischen Mundfaulheit verbirgt sich zum einen professioneller Psychotherapeuten-Ethos, zum anderen ein Defizit im Umgang mit eigenen Gefühlen. Auch hier ist Jimmy Laird als Kontrapart konstruiert, der allzu überschwänglich und intuitiv mit seinen Emotionen umgeht.
Affäre unter Kollegen Im Laufe der 1. Staffel erfängt sich Laird schrittweise - und beginnt eine Affäre mit seiner attraktiven Kollegin Gaby (Jessica Williams). Die Probleme sind vorgezeichnet: Denn Gaby war die beste Freundin von Jimmys verstorbener Frau. Diese Affäre, bei der es erst nur um Sex geht, dann aber vielleicht doch um mehr, steht im Mittelpunkt der ersten beiden Folgen der 2. Staffel – neben Jimmys wiederholten, wohlmeinenden Grenzüberschreitungen im Umgang mit seinen Patienten und Pauls oft vergeblichen Versuchen, dabei zu intervenieren.
Der Therapeut als Mensch Staffel 2 knüpft nahtlos dort an, wo Staffel 1 aufgehört hat. Was "Shrinking" so besonders macht, ist die emotionale Tiefe, die selbst banalen Sequenzen Bedeutung verleiht. Die Zunft der Therapeuten, die in ihrer professionellen Rolle oft Autoritäten darstellen (müssen), allwissend auftreten und Menschen mit psychischen Problemen vermitteln sollen, was zu tun wäre, haben hier selbst mit allerlei Problemen zu kämpfen. Das macht sie sympathisch und zugänglich. Sie sind "Menschen wie du und ich", von Neurosen befallen, von Unsicherheit, Angst, Depression und Schmerz heimgesucht. Und trotz ihrer Profession weit davon entfernt, immer zu wissen, was zu tun ist.
Fazit Es gibt Menschen, die mit "Scrubs" nichts anfangen konnten. Und die auch nie in "Ted Lasso" reingefunden haben. Jene werden vermutlich auch mit "Shrinking" wenig Freude haben, da die Serie unverkennbar Bill Lawrences originäre Handschrift trägt, die man mögen muss. Wer aber Fan eines der oben genannten Formate ist, wird sich auch mit "Shrinking" wohl fühlen – und die Serie lieben.
"Shrinking", Staffel 2, 12 Episoden à ca. 30-35 Min., Episoden 1 & 2 online, ab 23. 10. jede Woche eine weitere Episode, Apple TV+