"chef's table"
Wieso die weltbesten Nudelköche keine Nudeln vernudeln
Die Erfolgs-Kochshow "Chef's Table" geht in ihre zehnte Saison. Dieses Mal dreht sich alles um Teigwaren – aus Italien, China, Kambodscha und den USA. Ab sofort auf Netflix!
Wenn Essen "der neue Pop ist", wie Trendscouts seit Jahren trommeln, dann ist es nur folgerichtig, dass sich auch die Streaming-Welt mit Dutzenden Formaten unserem Appetit widmet. Es gibt Serien über Grill-Competitions und Backwettbewerbe, über regionale Küchen und ungewöhnliche Torten, über neue Snack-Kreationen und Unzähliges mehr – und das alleine beim Branchen-Primus Netflix. Aber alles nahm seinen Anfang mit "Chef's Table", der ersten High-End-Kochshow im Streaming-Bereich. 2015 erschien die erste Staffel, inzwischen ist "Chef's Table" längst nicht nur Kult bei Foodies, sondern der Maßstab, an dem sich andere Koch-Shows orientieren.
Revolution der Koch-Shows "Chef's Table-Schöpfer David Gelb revolutionierte damit das Genre der Koch-Shows, die sich bis dahin – wenn man von Ausnahmen wie Anthony Bourdain absieht – eher gemütlich im Nachmittagsfernsehen platziert hatten und zuvorderst an Hausfrauen richteten.
Gelbs Zugang war jedoch weniger "Pop" als vielmehr "High End": Er präsentierte Kochen als Kunstform und Köche als Künstler höchster Güte, die auf eine Stufe mit Malern, Musikern, Komponisten zu stellen seien. In jeder Episode wurde ein Kochkünstler vorgestellt, sein Werdegang nachgezeichnet, sein originärer Zugang illustriert. Das war neu, spannend, erkenntnisreich - und herausragend gemacht.
Populäre Küche Das ohnehin bemerkenswerte Niveau von "Chef's Table" konnte über all die Staffeln gehalten werden, David Gelb blieb als kreatives Mastermind an Bord. Die letzten Ausgaben – allesamt thematische Spin-Offs – bewegten sich ein Stück weit weg von der Welt der Haute Cuisine, hin zu den Meistern der "populären Küche": 2020 ging es um BBQ, 2022 um Pizza, alles nicht weniger spannend und erhellend als die Originalstaffeln. Und nun, 2024, widmet man sich Nudelgerichten und ihren Schöpfern.
Persönliche Lebensgeschichten Die Serie bleibt ihrem Konzept treu und nähert sich über verschiedene "Chefs" der Kunst der Nudelherstellung. Die Auswahl ist heterogen, regional divers und legt auch großen Wert auf die persönlichen Lebensgeschichten der Porträtierten, die immer eng mit ihrer Leidenschaft fürs Kochen im Zusammenhang stehen, wie das bei allen großen Künstlern der Fall ist. Die je zwei Männer und Frauen, von denen jede(r) im Zentrum einer Folge steht, sind Evan Funke aus Los Angeles, die gebürtige Chinesin Guirong Wei aus London, Peppe Guida aus Süditalien und Nite Yun aus San Francisco.
Handgemachte Pasta Die erste Folge widmet sich Evan Funke, der mittlerweile sechs Pasta-Lokale in mehreren Städten der USA betreibt. Seine Spezialität: Handgemachte Nudeln, deren Ruf weit über Funkes Heimatstadt hinaus geht. Funke gilt heute als einer der wenigen verbliebenen Meister dieser aussterbenden Kunst, der sich auf alte, italienische Traditionen beruft.
Bestimmung Evan Funke erzählt in der Show, wie er – aufgewachsen in einem Mittelschicht-Haushalt in L.A., der Vater in der Filmbranche aktiv – lange nicht wusste, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er habe verschiedenste Jobs probiert, bis er schließlich im Kochen seine Bestimmung gefunden habe, genauer: in der handgemachten Pasta. Viele Reisen nach Italien inspirierten ihn zu seinen Kreationen, Up's and down's in der Koch-Karriere – unter anderem der Konkurs seines ersten Lokals - konnten ihn nicht von seinem Weg abhalten, die Kunst der Handpasta weiterleben zu lassen. Und inzwischen auch an andere weiterzugeben.
Widerstände Guirong Wei hat einen ganz anderen Background: Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen als eine von drei Töchtern in einem kleinen Dorf in den Bergen der nördlichen Provinz Shanxi, musste sie früh mit anpacken, um Geld für die Familie zu verdienen. Der Koch-Beruf gilt in weiten Teilen Chinas immer noch als "männlich". Nach Weis Entscheidung, Köchin zu werden, wehte ihr Unverständnis entgegen. Insbesondere ihre Eltern hätten es lieber gesehen, wenn sie "einen Schwiegersohn" nach Hause gebracht hätte.
Xi'an-Küche in London Doch sie setzte ihren Willen durch, ging in die Hauptstadt der Provinz, Xi'an, um ihre Ausbildung als Köchin zu machen. Stets war sie die einzige Frau im Team. Dann ergab sich die Chance, nach London zu gehen und dort in einem bekannten chinesischen Lokal zu arbeiten, das allerdings auf die Sichuan-Küche spezialisiert war. Mit der Zeit reifte Weis Wunsch, ein eigenes Lokal zu eröffnen, wo sie den "Westlern", wie sie sagt, die Nudel-basierte Küche ihrer Heimat näher bringen könne. Es war ein Erfolg: Inzwischen hat sie vier Lokale in London, die alle einen hervorragenden Ruf genießen, und hat die Xi'an Küche populär gemacht.
Billigpasta auf neuem Level Keinen hervorragenden Ruf hat hingegen Trockenpasta, insbesondere in der Haute Cuisine. Früher galt sie in Italien als "Arme-Leute-Essen". Ihren Ruf zu retten hat sich der Italiener Peppe Guida zur Aufgabe gemacht: Mit einfachen Zutaten, traditionellen und minimalistischen Rezepten, die sich auf die Essenz konzentrieren, hebt er in seinem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Lokal die "Billigpasta" auf ein neues Level.
Inspiration zum Nachkochen Dabei war auch Guidas Weg nicht einfach: Nach bescheidenen Anfängen mit einem Lokal im Haus seiner Mutter, die bis heute seine größte Inspiration ist, wollte er expandieren, den Look des Lokals überarbeiten, um Anerkennung zu ernten. Da er aber nicht bei einem großen, berühmten Koch gelernt hatte, rümpften manch andere Chefs ihre Nase über seine Ambitionen, das reguläre Publikum wendete sich ab. Unter Mithilfe seiner Frau erreichte er schließlich doch seine Ziele, sein neues Restaurant florierte. Und die in dieser Episode präsentierten Rezepte eignen sich ausgezeichnet zum Nachkochen.
Khmer-Küche in Kalifornien Nite Yun schließlich verfolgt mit ihren Kreationen eine ganz eigene Mission: Sie wurde in einem Flüchtlingslager in den USA geboren, ihre Eltern flohen, schwer traumatisiert, vor den Roten Khmer aus Kambodscha, vor Gewalt, Krieg, Verfolgung. Während Yun sich früh mit ihrer Herkunft identifizierte, war es lange Zeit schwer, mit ihren Eltern über deren Heimat und die Erlebnisse dort zu sprechen. Trotzdem machte sie es sich zur Aufgabe, die köstliche kambodschanische Küche in den USA bekannt zu machen, insbesondere die Khmer-Gerichte. In ihrem inzwischen zweiten Lokal kann sie ihren Traum nun verwirklichen.
Licht- und Schattenseiten Yuns Weg ist eine persönliche Reise, geprägt von Tränen und Schweiß, Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, Herkunft und Identität. Auch die drei anderen Episoden von "Chef's Table: Nudelgerichte" erzählen zutiefst individuelle Geschichten, die nicht nur die Licht-, sondern auch die Schattenseiten zeigen: Der Weg zur kulinarischen Spitze ist kein einfacher, die, die es dorthin schaffen, haben Hindernisse zu überwinden, wie das oft so im Leben ist. Und die Darstellung dessen ist es, das die Serie auch von anderen "Kochsendungen" – wenn man dieses Genre als Bezeichnung hernehmen will – abhebt, sie so realistisch, authentisch und tiefgründig macht.
Fazit Auch wenn es abgedroschen klingen mag: Beim Schauen von "Chef's Table: Nudelgerichte" läuft einem permanent das Wasser im Mund zusammen, man bekommt Lust auf Pasta, Ramen, Reisnudeln oder will selbst zum Kochlöffel greifen. Einziges Manko: Dass es diesmal nur vier Folgen gibt. Es wäre interessant gewesen, noch mindestens zwei weitere Meister der Nudelkochkunst vorgestellt zu bekommen. Ansonsten hält die Serie auch bei diesem neuen Spin-Off das gewohnt hohe Niveau und gehört immer noch zum Besten, das das Food-Fernsehen zu bieten hat.
Kochen ist eine Kunst. Und "Chef's Table" vermittelt das kunstvoll.
"Chef's Table: Nudelgerichte", 4 Folgen à ca. 50 Min., ab sofort auf Netflix