Tagebuch einer pandemie

Corona-Kopfnüsse 2021, Kapitel 1: Taumeln ins neue Jahr

Endlich sind die ersten Impfungen da und werden vom Kanzler und vom Gesundheitsminister persönlich empfangen – das geht nicht gut aus. Für beide Seiten.

Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Wolfgang Kofler
Newsflix Kopfnüsse
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Kapitel 1 Taumeln ins neue Jahr

23. Dezember Kurz wird zum Weihnachtsengel
Die Corona-Impfung soll uns aus der Pandemie erretten. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

Impfen mögen andere, tu felix Austria pressekonferenze. Wenn schon die Theater geschlossen halten müssen, dann könnten wir doch für etwas Unterhaltung sorgen, dachte sich die Regierung wohl und entschied selbstlos, den Impfstart im Land als Operette zu inszenieren. Das passt gut in die Zeit, denn im Lauf des Dezembers wurden immer mehr Menschen unsicher, ob man heuer zu Weihnachten Christi Geburt oder doch die BioNTech/Pfizer-Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde feiern sollte. Legt man das Jesuskind in die Krippe oder doch besser eine aufgezogene Einwegspritze? Wäre statt einer Christmette heuer nicht eine Vakzinmette angebrachter und Toni Faber trinkt bei der Wandlung nicht das Blut Christi, sondern haut sich ein Jaukerl in den Oberarm?

Dem Kanzler ging das alles zu langsam, Rudolf Anschober schien zu zaudern, ein paar Wochen auf oder ab bei einer Pandemie, mein Gott... Zu Beginn der letzten Woche lag Sebastian Kurz mit Zahnschmerzen darnieder, im Gesundheitsministerium ermittelte zu diesem Zeitpunkt Covid-Sonderbeauftragter Clemens Martin Auer, mit welchen Impfdosen Österreich alsbald noch rechnen könne. 9.750 auf den ersten Schwung, 944.775 Dosen bis zum Ende des ersten Quartals, beschied Pfizer und das klang recht präzise.

Zwei Tage später fühlte der zahnkranke Kanzler trotzdem Sinan Atlig, Regional President Vaccines von Pfizer, auf den Zahn, rief ihn vom Krankenbett aus an und recherchierte unter Höllenqualen mit wie vielen Impfdosen Österreich nun tatsächlich rechnen könne. 9.750 auf den ersten Schwung, 944.775 Dosen bis zum Ende des ersten Quartals, beschied Pfizer. Es handelte sich um dieselbe Anzahl wie bei der ersten Auskunft, aber erst zu diesem Zeitpunkt war die Information valide. TÜV-geprüft vom Kanzler persönlich.

Wer ist der Mann und was will er von mir?
Wer ist der Mann und was will er von mir?
Helmut Graf

Sebastian Kurz wollte am 27. Dezember zu impfen beginnen. Weil der Kanzler am 27. Dezember impfen wollte, wollte Wien nicht am 27. Dezember impfen, das sei "Show". Man schloss sich mit Niederösterreich kurz und vereinbarte den 28. Dezember als Starttermin, der später dann doch der 27. Dezember wurde. Nun meldete sich Oberösterreich. Es ginge nicht an, dass die ersten Impfungen nur in Wien und Niederösterreich stattfinden sollten. Es müssten Dosen auch nach Linz gehen.

Als andere Bundesländer erfuhren, dass auch Oberösterreich erste Impfungen bekommt, wollten auch sie welche haben. So geschah es. Anschobers Covid-Sonderbeauftragter Clemens Martin Auer sicherte weiteren Bundesländern erste Impfdosen zu und nun wurde die Show endgültig zur Show. Weil der Impfstoff nämlich dauerhaft auf minus 70 Grad gekühlt werden muss, sollten Hubschrauber die kostbare Ware in einzelne Bundesländer fliegen, etwa nach Vorarlberg.

Dann erfuhren die Vorarlberger, dass sie per Heli nur fünf Impfdosen bekommen würden und zeigten sich verschnupft. Unter diesen Umständen werde man an dieser Show nicht teilnehmen. Erneut bäumte sich der Kanzler auf, von den Zahnschmerzen nunmehr genesen. Er hustete auf Anschobers Covid-Sonderbeauftragten Clemens Martin Auer und dessen schon recht umfangreichen Mailverkehr und sicherte den Vorarlberger ebenfalls 975 Dosen zu. "Die sind so verpackt, die können wir nicht einfach durchschneiden", sagte er. Er meinte die Impfung und nicht die Vorarlberger. Hoffe ich.

Österreichs oberster Impfprediger Clemens Martin Auer
Österreichs oberster Impfprediger Clemens Martin Auer
Helmut Graf

Nun also kann die Impferei am 27. Dezember beginnen, auch in Wien, das die Show nun nicht mehr eine Show nennt. "Ein Grund zur Freude" sei das, sagte der Bundeskanzler gestern, "der Tag wird in die Geschichte eingehen". Nun denn. Am 26. Dezember überfährt der Lastwagen aus Belgien mit den Impfdosen bei Passau die Grenze und macht sich auf nach Wien, es wird eine Triumphfahrt sein wie damals, als nach dem Zweiten Weltkrieg die neugegossene Pummerin zum Stephansdom überstellt wurde. Menschen, die mit Taschentüchern winken, werden den Weg säumen.

Am nächsten Tag, Punkt 9 Uhr, wird an der MedUni Wien die erste Dosis verabreicht. An der Nadel: Ursula Wiedermann-Schmidt, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Vakzinologie und Vorsitzende der österreichischen Impfkommission, sowie Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Falls fachliche Unsicherheiten auftreten, Dr. med. Sebastian Kurz und Dr. med. Rudolf Anschober sind vor Ort, beide konnten sich den Tag glücklicherweise kurzfristig terminlich freiräumen.

Die Stichelei wird live in den Van Swieten Saal der Medizinischen Universität übertragen, anschließend findet dort eine Pressekonferenz statt, ich nehme an Kanzler und Gesundheitsminister werden ihre ersten Eindrücke schildern und das historische Ereignis angemessen einordnen. Ich tippe darauf, dass nun entscheidende Wochen beginnen. ORF 2 überträgt zwei Stunden lang live, Hans Bürger "analysiert", was auch immer, danach folgt "Vier Frauen und ein Mord". Ich hoffe der Übergang gerät nicht zu abrupt.

Ich wünsche ein wunderbares Weihnachtsfest! Stellen sie dem Virus heute einen Baum auf und reißen sie dabei keinen Stern, selbst wenn sie wegen der Impfung schon auf Nadeln sitzen. Zerkugeln sie sich und wenn ihnen ein paar Kipferln aus der Verwandtschaft auf den Keks gehen, infizieren sie alle mit guter Laune so wie es sich zu Weihnachten Zimt. Riechen sie jeden Braten, damit der Tag nicht für die Fische ist. Mögen alle ihre Kinderlein kommen und ihre Stille Nacht nicht dumpa sein. Und wenn das alles nicht funktioniert, dann nehmen sie das größte Keks aus der Dose, halten es nach oben und rufen: "Leb Kuchen!" Frohes Fest!

Ist da jetzt eine Scheibe oder Luft? Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker
Ist da jetzt eine Scheibe oder Luft? Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker
Helmut Graf

24. Dezember Anschober sticht den Kanzler aus
Rückblick auf ein Jahr, das sich einen Rückblick gar nicht verdient hat. Mit Überraschungssieger Kronprinz Rudolf.

Was immer es über 2020 rückblickend zu sagen gibt, die guten Wünsche der Heiligen Drei Könige haben jedenfalls nicht geholfen, zumindest nicht viel. Die entscheidenden Tage, Wochen und Monate waren zugepflastert mit Pressekonferenzen, es ist gar nicht so leicht festzustellen wie viele es tatsächlich waren. Aber nach Durchsicht der Nachrichtenagenturen, der Regierungs-Aussendungen, der Medien-Archive, der (teils lückenhaften) parlamentarischen Anfrage-Beantwortungen, verschiedener anderer Verzeichnisse, eigener Aufzeichnungen, kann ich sagen: Alles in allem hielten Kanzler, Vizekanzler und die Ministerschar zwischen 1. März und Weihnachten 210 Pressekonferenzen ab, nicht mitgerechnet Doorsteps, Pressefoyers, Pressestunden.

Pressekonferenz Nummer 1 fand am 2. März statt, Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Franz Lang, Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, referierten zum Thema "Am Beginn einer Entscheidungswoche", nur falls jemand glaubt, dass in diesem Jahr tatsächlich an den Grundfesten des Landes gerüttelt wurde. Pressekonferenz Nummer 210 widmete sich am 23. Dezember der Frage, wer wann wo als Erster geimpft wird, was von untergeordneter Bedeutung erscheint. Für den weiteren Verlauf der Pandemie wird entscheidender sein, welche Politiker der Zeremonie beiwohnen dürfen.

Die anderen kochen auch nur mit Wasser: Finanzminister Gernot Blümel
Die anderen kochen auch nur mit Wasser: Finanzminister Gernot Blümel
Helmut Graf

Es gab in diesem Jahr nicht nur eine Virus-Pandemie, sondern auch eine Pressekonferenzen-Epidemie, einen Mega-Wumms, wie es der Vizekanzler ausdrücken würde. Keiner zog 2020 so häufig ins Feld wie Kronprinz Rudolf, nämlich gleich 89 Mal, gegen Anschober wirkte Sebastian Kurz (50 Mal) fast kamerascheu.

Das "virologische Quartett" aus Kanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister trat 19 Mal auf, die Generalprobe (nicht mitgezählt) gab es bei einem Pressefoyer nach dem Ministerrat am 11. März, die erste "offizielle" gemeinsame Show stieg am 20. März, aus Gründen der Höflichkeit nahm man Margarete Schramböck mit. Bei der Bekanntgabe des ersten Lockdowns am 13. März fehlte Werner Kogler noch. Bis inklusive 30. März verzichtete man auf Plexiglasschutz, am 6. April waren die Scheiben erstmals da, am 9. Juli weg, am 2. September tauchten sie frischgeputzt wieder auf.

Wir erfuhren viel über das Virus in dieser Zeit, gleichzeitig aber wenig. Wir wussten rasch, da draußen irgendwo lauert ein neuer Feind, der einem nach dem Leben trachtet, man sollte auf der Hut sein, sonst kann es gut passieren, dass man bald den Hut nehmen muss und das für immer.

Ich weiß, mit Maske bin ich schwer zu hören, ohne schwer verständlich
Ich weiß, mit Maske bin ich schwer zu hören, ohne schwer verständlich
Helmut Graf

27. Dezember Österreich impft. Zum Hoferpreis
Wir stechen zu und alle können zuschauen. Der Kanzler und der Gesundheitsminister erste Reihe fußfrei.

Zu Silvester 2019/2020 stieß man auf ein "gutes neues Jahr" an und rief lauthals "Prosit", aber was wünschen wir unseren Lieben und uns eigentlich für 2021? Eine schöne Inzidenz? Eine Reproduktionszahl unter 1? Nasenschleimhäute, die aussehen wie Weinbergschnecken? Dass man bei allen Versuchen, im Leben Tritt zu fassen, unter 100 Mal auf die Schnauze fällt, gemessen auf 100.000 Einwohner? Dass die Impfung wirkt oder dass man zumindest danach einen tadellosen 5G-Empfang hat? Ein paar neue geile Verordnungen oder hat man sich die schon zu Weihnachten geschenkt?

Oder aber 10 Euro für jeden Satz von Werner Kogler, den man versteht? Dass sich Anschobers entscheidende Wochen verdammt noch einmal endlich entscheiden können? Dass sich Alexander Van der Bellen auf den Balkon vom Belvedere stellt und in den Garten hineinruft: "Österreich ist freigetestet?"

Ich hätte mir ein bisschen mehr erwartet, muss ich ehrlich zugeben, Musik etwa. Man hätte jedem Beteiligten eine Auftrittsmelodie spendieren können wie bei einem Klitschko-Boxkampf. Sebastian Kurz hätte etwa zu "Don´t Stop the Party" erscheinen können, "Shut Up & Dance" wäre vielleicht etwas zu aggressiv gewesen. Wir müssen uns das bildlich so vorstellen: Die Gangtür auf der Wiener MedUni schwingt auf, der Kanzler kommt herein, man hört plötzlich Pitbull, Kurz macht ein paar Tanzmoves, die Patienten hätten eventuell gar keine Impfung mehr gebraucht, die Antikörper wären von allein eingeschossen.

Für Anschober hätte sich "Eye of the Tiger" angeboten. Agur, der Retriever des Gesundheitsministers, ist zwar mitnichten ein Tiger, aber man sagt ja, dass sich Hund und Herrl mit der Zeit immer ähnlicher schauen, bei Anschober scheint dieser Prozess zumindest schon eingeleitet.

Meine Maske ist viel schöner als die vom Kogler: Bundesgärtenministerin Elisabeth Köstinger
Meine Maske ist viel schöner als die vom Kogler: Bundesgärtenministerin Elisabeth Köstinger
Helmut Graf

So aber entstand, ja was eigentlich? Ein Impf-Quickie, hochrangig besetzt, schnell vorbei. In Wien wurden am Sonntag die ersten Patienten gegen Covid-19 geimpft, der Stoff dazu war in der Früh angeliefert worden, in Schachteln verpackt wie die neue PS5, als Weihnachtsgeschenk mit einer blauen Schleife drauf. Der ORF übertrug die Veranstaltung live, brach dafür sogar extra das Wetterpanorama ab. Es wird eng für Alexander Wrabetz bei der Wiederwahl 2021, wenn er Peter Schröcksnadel noch ein paar Mal so vor den Kopf stößt. Die Sondersendung begann knapp vor 9 Uhr, Reporter wurden zugeschaltet, auch Hans Bürger, er wirkte selig, diesen Termin wahrnehmen zu dürfen.

Helma Poschner, die eine FFP2-Maske zwischen Brille und Gesicht gezwängt hatte, meldete sich aus der Impfambulanz der MedUni, genau genommen aus dem Vorraum zum Warteraum. Der Bundeskanzler und der Gesundheitsminister seien eben eingetroffen, berichtete sie, für die Politik sei das "natürlich ein Pflichttermin", warum das so sein sollte, blieb unerklärt. Für den Impferfolg war der "Pflichttermin" jedenfalls von keiner ausschlaggebenden Bedeutung, wie sich später herausstellte. Die meisten anderen europäischen Staatschef ließen den "Pflichttermin" sausen.

Im Vorraum zum Warteraum interviewte Poschner dann die erste österreichische Impfpatientin, Theresia Hofer, 84, aus dem Marchfeld. Sie hatte sich extra ein schönes, weinrotes Kostüm angezogen, war beim Friseur, aber das viele Licht und die Kameras und die Aufmerksamkeit verschreckten die alte Dame auf Besuch. Sie freue sich darauf, "endlich wieder die Familie und die Urenkel treffen zu können", sagte sie mit zittriger Stimme. Im Türrahmen im Hintergrund tauchte nun Sebastian Kurz auf, er erschnuppert Kameras wie ein Covid-Hund das Virus. Die ORF-Reporterin bemerkte es nicht, machte weiter und fragte Hofer, warum sie sich bei all der Impfskepsis im Land zu diesem Schritt entschlossen habe. Es fiel ein Satz, sehr typisch österreichisch und fast würdig, einmal in der Bundeshymne Aufnahme zu finden: "Es hat sich so ergeben."

Ich habe sogar eine Maske vom Polizeisportverein
Ich habe sogar eine Maske vom Polizeisportverein
Gesundheitsminister Rudolf Anschober

Dann entschwindet Hofer aus dem Vorraum zum Warteraum, hinein in den Warteraum, in dem Sebastian Kurz steht. Er nickt der alten Dame auf Besuch zu, aber sie lässt ihn links liegen. Das passiert dem Kanzler grundsätzlich selten, aber dass ihn politisch jemand links liegen lässt, hat er bisher wohl noch nie erlebt. Im nächsten Raum warten bereits Ursula Wiedermann-Schmidt, Vorsitzende des nationalen Impfgremiums, Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, und eine fix positionierte ORF-Kamera, Ton gibt es leider keinen. Man weiß also noch nicht, wie die Impfung klingt.

Hofer streicht den Ärmel der Strickweste nach oben, wenige Augenblicke später ist Wiedermann-Schmid da, desinfiziert die Impfstelle, sie trägt keine Handschuhe, führt die Nadel bis knapp vor den Oberarm und sticht dann in einer kurzen Bewegung geradewegs in die Haut. Die Uhr zeigt 9.03 Uhr, so wird es vielleicht später einmal in den Geschichteschulbüchern stehen, es ist der Moment der zweiten Enttäuschung an diesem Tag. Wenn man sich schon keine Musik leistet, hätte man dann nicht zumindest ein "ploing", ein "zadoing" oder ein "autsch" einspielen können? Etwas Konfettiregen wäre auch hübsch gewesen, drei Trompetenspieler oder Fanfaren eventuell, aber nichts dergleichen passiert.

Jo wo bleibt´s denn, meine Impfmäuse?
Jo wo bleibt´s denn, meine Impfmäuse?
Helmut Graf

Theresia Hofer sitzt ruhig da, die Maske tief ins Gesicht gezogen. Marchfeldspargel dürfte widerstandsfähig machen. "Hat’s weh getan?" erkundigt sich die Ärztin, "Ich bin fertig?", fragt Hofer erstaunt. "Sie können mich jederzeit anrufen", antwortet Wiedermann-Schmidt für den Fall, dass es doch noch wehtun sollte. Viel weiß man über Patientin Nummer 1 nicht. Später, als sie von ihrem Sohn, ebenfalls bereits der Jugendlichkeit entwachsen, aus dem Krankenhaus geführt wird, bittet sie um Ruhe für sich, sie sei ihr gegönnt.

Die Liveübertragung hätte zu diesem Zeitpunkt zu Ende gehen können, aber dann hätte Wrabetz nach Schröcksnadel an diesem Tag schon den zweiten möglichen Unterstützer für eine Wiederwahl verloren, denn der Kanzler wartete noch auf seinen Auftritt. Auch Hans Bürger wartete, um den eben live erlebten Vorgang analysieren zu können, aber ihm ging es wie Kurz während der Mitterlehner-Epoche: Seine Zeit war noch nicht gekommen. Es blieb ihm nichts anderes übrig als weiter das Sinnbild irdischen Glücks zu verkörpern, sein Gesicht spiegelte die Freude wider, diesem historischen Moment zumindest aus der Ferne beiwohnen zu können, stumm halt.

Statt Bürger wurde Florian Petautschnig drangenommen, obwohl er gar nicht aufgezeigt hatte Der Redakteur der Wissenschafts-Redaktion sollte die neuartige Impfung erklären und er tat das seeehr plakativ. In den Körper werde "eine Botschaft des Virus eingeimpft", sagte er, es handle sich dabei "um eine Art Kochrezept". Dieses "Kochrezept kommt in den Körper rein, eingekapselt in einer Art Kleinwagen. Das sind so Fettkügelchen, wo was drinnen ist. Der Körper erkennt das." Wenn ich das richtig verstanden habe, dann verleitet das "Kochrezept" in den "Fettkügelchen" aus dem "Kleinwagen" den Körper zu einer Reaktion, das "Kochrezept" werde dann "weggeworfen, wie eine Nachricht, die sich selber zerstört". Ehe sich das Bild vom Kleinwagen, der mit einem Kochrezept an Bord durch meinen Körper rast, verfestigen konnte, tauchte statt Petautschnig nun Impfpatientin Nummer 2 auf, der Vorgang bekam eine gewisse Redundanz. Bürger, nun wieder im Bild, aber noch immer nicht im Ton, seufzte lautlos.

Schön da, oder? Kanzler Sebastian Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober mit den ersten Impfpatientinnen an der MedUni Wien
Schön da, oder? Kanzler Sebastian Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober mit den ersten Impfpatientinnen an der MedUni Wien
Picturedesk

Nach einem erneuten Poschner-Einstieg durfte der ORF-Chefinnenpolitiker endlich ran. Er verteidigte die Anwesenheit der Regierung am Tatort, es habe schon Bundeskanzler "in Regenstiefeln" gegeben, erinnerte er an Viktor Klima. Weniger später sind die aktuellen Viktor Klimas endlich im Bild. Sebastian Kurz und Rudolf Anschober sitzen mit Patientin Nummer 1 und Patientin Nummer 2 in einem Warteraum, Patientin Nummer 2 hat die Maske schon unter die Nase gezogen, was Sinn ergibt, schließlich steht einem nach Verabreichung der ersten Dosis bereits gut der halbe Impfschutz zur Verfügung. Also muss man auch nur mehr das halbe Gesicht bedecken. Vielleicht war in meinem Kopf aber zu diesem Zeitpunkt schon der Kleinwagen mit dem Kochrezept falsch abgebogen.

Was man im Fernsehen so mitbekam, löste die Impfung keine Spontanreaktionen aus. Also weder Patientin Nummer 1 noch Patientin Nummer 2 begann am Tisch zu tanzen, keine der Damen schleuderte den Gehstock weg, keine warf sich dem Kanzler oder dem Gesundheitsminister an den Hals. Pfizer, immerhin Hersteller auch von Viagra, wird das mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben. Gottseidank nichts vertauscht.

Weder Patientin Nummer 1 noch Patientin Nummer 2 wusste recht, was mit den Politikern reden, und die Politiker wussten nicht recht, was mit den Geimpften reden. Also war Improvisation gefragt. "Wie war´s so?", hätte der Kanzler fragen können. Oder: "Wie fanden Sie Silbereisen gestern als Traumschiffkapitän?" Daraus hätte sich ein interessante Debattenbogen spannen lassen, von den frühen Peter-Alexander-Shows zu Weihnachten bis jetzt herauf, vielleicht hat Frau Hofer ja sogar ein Netflix-Abo und schaut sich dort Dokus über Marchfeld-Spargel an.

Da geht es entlang, genau da, nicht links, nicht rechts, immer geradeaus
Da geht es entlang, genau da, nicht links, nicht rechts, immer geradeaus
Helmut Graf

So aber erlebten die Journalisten, die das alles im Festsaal der MedUni, etwa eine Viertelstunde Gehweite entfernt, über Monitore miterlebten, ein Gespräch, das dem oben erfundenen recht nahekam. "So", sagte der Kanzler fröhlich, "und, nach zehn Minuten dürfens aufbrechen, oder?" Stimmengewirr, Gemurmel. "Ein bissl noch", warf Anschober ein, dann wieder der Kanzler: „Wobei, so fit wie sie wirken, alle…" Stimmengewirr, Gemurmel. "Aber aufregend, oder?" versuchte es Anschober noch einmal mit Smalltalk, er blieb schmal der Talk. Spätestens da war klar, dieses Schauspiel wird eher ein Einakter bleiben.

Kurz danach stehen Kurz und Anschober bei der Pressekonferenz Seite an Seite. "Für eine gesunde Zukunft" steht als Slogan hinter den beiden auf einer Tafel, auch Ursula Wiedermann-Schmidt und Thomas Szekeres sind da, alle von Plexiglas ummantelt. "Es ist der 27. Dezember des Jahres 2020", sagt der Kanzler, "ein historischer Tag. Die Impfung sei „der Anfang vom Sieg gegen die Pandemie und ein Gamechanger. Wir nähern uns Schritt für Schritt, mit jeder Impfung, die durchgeführt wird, der Normalität. Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen." Auch Anschober sieht einen "sehr, sehr besonderen Tag", er markiere ein "großartiges Ende dieses Jahres". "Wir haben es noch nicht gewonnen, aber wir haben Hoffnung und eine Chance". Die ersten Impfungen ordnete er als "symbolisch" ein. Dünnes Eis!

Sag, kenntest jetzt endlich einmal herschaun, wenn i wos zur Dir sog?
Sag, kenntest jetzt endlich einmal herschaun, wenn i wos zur Dir sog?
Helmut Graf

28. Dezember Unsere zweite erste Mondlandung
Der Impfstoff ist da. Oder auch nicht. In dieser Situation tun wir, was wir am besten können: abwarten.

Ob er sich das zu Weihnachten gewünscht hat? Am Montag inspizierte Rudolf Anschober die Firma Herba-Chemosan, die dafür sorgt, dass der Corona-Impfstoff über Österreich verteilt wird. Also sie würde gern, aber momentan gibt es das mutmaßliche Wundermittel erst in homöopathischen Dosen. Das Unternehmen hat seinen Sitz in der Haidestraße 4 in Wien-Simmering, es ist keine Gegend, in der sich potentielle Villenbesitzer um die besten Grundstücke balgen. Das Firmengebäude fällt architektonisch gesehen eher in die Kategorie Zweckbau. Dafür gibt es innen ein paar sehr schöne Förderbänder für alle, die Obsessionen in diese Richtung ausgebildet haben.

Der Gesundheitsminister machte einen Rundgang, scheiterte dann an der Kühlschranktür mit dem Impfstoff drin, für die sich kurzfristig kein Schlüssel finden ließ. Schließlich erzählten Anschober und sein Covid-Sonderbeauftragter Clemens Martin Auer ein bisschen was über Österreichs Impf-Strategie, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob es eine solche überhaupt gibt. Seit 23. November, als Österreichs Impfstrategie, die es vielleicht gar nicht gibt, erstmals präsentiert wurde, erfahre ich immer mehr darüber und weiß immer weniger.

Ich finde es vor allem einmal rätselhaft, wie lasch die EU agiert. Viele Länder weltweit, die Israelis, die Briten, impfen wie verrückt, millionenfach. Die EU aber, die zentral eingekauft hat, was ich an sich vernünftig finde, schickt Impf-Lunchpakete in die Länder, damit jeder sein Stich-Cirque Du Soleil veranstalten kann und danach passiert was? Anschober sprach beim Betriebsbesuch von einer "flächendeckenden Impfmöglichkeit in Alters- und Pflegeheimen" in Österreich ab 12. Jänner. Was tun wir bis dahin? Ich meine, am Sonntag wurde ein Zinnober veranstaltet, als wäre die Welt zum zweiten Mal erstmals am Mond gelandet und jetzt wartet man 16 Tage auf genau was? Hieß es nicht irgendwann einmal, bei Corona käme es auf jeden Tag an? Schließlich sterben viele Menschen an der Krankheit und jeder Einzelne ist einer zu viel.

Kanzler und Gesundheitsminister feiern die erste Impfung, warum auch immer?
Kanzler und Gesundheitsminister feiern die erste Impfung, warum auch immer?
Helmut Graf

Es dauerte nicht lange, da erfuhr das Kanzleramt von der Ankündigung des Gesundheitsministers und stand selbst vor einem Rätsel. Mit dem Termin 12. Jänner könne man nichts anfangen, hieß es, schließlich würden ab sofort regelmäßig Lieferung von Pfizer in Österreich landen, und zwar jede Woche 63.000 Impfdosen. Noch diese Woche kommt eine Charge, diesmal sind es nur 53.000 Dosen, der Rest wurde schon vorab für die Zirkusaufführungen zugestellt. Es gehe jetzt darum, "die nächsten Schritte zu tun", sagte Anschober, "und zwar nicht von 0 auf 100, sondern professionell." Warum man die nächsten Schritte nicht schon "professionell" die letzten Wochen vorbereitet hatte, um wenigstens von 0 auf 20 zu kommen, erschließt sich mir nicht ganz.

Tatsächlich gibt es noch keinen finalen Impfplan, die Bundesregierung will ihn erst Ende Jänner vorlegen. Das "Nationale Impfgremium" hat einen Vorschlag erarbeitet, es handelt sich um einen Zeitplan mit sieben Prioritätsstufen. Nun ist es aber so, dass in Österreich jede politische Debatte früher oder später beim Thema Ausländer landet, beim Impfen war das vielleicht nicht absehbar, es passiert trotzdem. Das "Nationale Impfgremium" reihte nämlich "Personen und Personal in Asylheimen" unter "Priorität erhöht", die drittoberste Stufe. Wer dieser Gruppe angehört, kommt früher dran als Polizisten oder Lehrer.

Irgendwie muss der Kühlschrank doch aufgehen?
Irgendwie muss der Kühlschrank doch aufgehen?
Helmut Graf

Das "Nationale Impfgremium" begründet das mit den Clustern, die in Asylheimen häufig wären. Man handle nach "rein medizinisch-wissenschaftlichen Gründen", in weiten Teilen Europas werde ähnlich verfahren. Entscheiden muss am Ende die Politik, auch über die Reihung. Die ÖVP hat keine Freude damit, junge Asylwerber impfen zu lassen, "die vielleicht ein paar Wochen später aus Österreich weggeschickt werden", bekundete die Partei. Die Grünen würden dem Vernehmen nach gerne bei der Einteilung des "Nationalen Impfgremiums" bleiben. Der Impfplan, den es noch nicht gibt, wirkt etwas planlos.

Es ist nicht das einzige Thema, das momentan für Reibungsenergie sorgt. Als die Regierung den Entschluss fasste, die Menschen im Land zum Ski fahren einzuladen, rechnete sie offenbar nicht damit, dass die Menschen im Land die Einladung annehmen. Das taten sie aber, und zwar zu Tausenden. Über die Warteschlangen vor den Liftstationen machen sich inzwischen sogar Medien in den USA lustig. Zusperren kann und will man die Wintersportorte jetzt aber auch nicht, also beratschlagten gestern gleich drei Ministerien, was zu tun sei.

Tourismusministerin Elisabeth Köstinger, Innenminister Karl Nehammer und Gesundheitsminister Rudolf Anschober kamen schließlich überein, auf eine in Österreich bewährte Methode zu setzen, die geballte Faust in der Hosentasche. Die meisten Skigebiete seien ohnehin brav, die anderen müssten noch ein bisserl braver werden, Verstöße seien "nicht hinnehmbar". Die "erschreckenden Bilder dürfen sich nicht wiederholen", sagte Anschober, er meinte die Warteschlangen ohne Babyelefanten-Abstand und nicht die Kühlschränke von Herba-Chemosan, die bei seinem Besuch nicht die Klappe aufbekamen.

Und die Impfdosen sind da drinnen nicht sehr einsam?
Und die Impfdosen sind da drinnen nicht sehr einsam?
Helmut Graf

Neben den Gesundheitsbehörden soll die Exekutive die Einhaltung der Vorschriften überwachen. Die Polizei wird bald ins Straucheln kommen, ihr werden ständig neue Aufgaben übertragen. Vielleicht sollte man zur Entlastung alle Tempolimits abschaffen. Neben den Skihängen soll die Polizei nämlich ab 18. Jänner auch Wirtshäuser kontrollieren, rein darf nur mehr, wer freigetestet ist. Meine Prognose: Da die Wirte ihre Gäste nicht überwachen wollen, die Polizei keine Lust dazu hat und die Gesundheitsbehörden andere Arbeit, wird den Job niemand machen. Ich glaube aber ohnehin nicht, dass die Gastronomie vor Ende Jänner aufsperrt, Kühlschrank hin oder her.

Die Prognose war nicht weit hergeholt. Aber etwas anderes sollte uns bald noch viel mehr beschäftigen. Und das länger… 

Zum Anhören: Das 2. Corona-Tagebuch

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