Teil 1 der Serie

Bildungs-Pläne der Parteien im Test: Warum nicht alle Klasse haben

In der Theorie zeigen die unterschiedlichen Bildungsprogramme, wie die neue Bildungsministerin* ticken wird. In der Praxis sind sie oft das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Eine Erdung von Niki Glattauer. Teil 1: Von Pink bis Blau.

Akt. Uhr
Teilen

Velwechsern
Manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern. / werch ein illtum!

Die vier berühmten Zeilen des Dichters Ernst Jandl. Auf unsere Schulpolitik passen sie wie die sprichwörtliche Faust aufs Aug. Denn erstrahlen die Parteiprogramme zur Bildungspolitik von links nach rechts auch in Grün, Pink, Blau, Schwarz oder Rot – was aus dem Ministerium raus- und in der Praxis unten ankommt, ist vor allem eins: grau.

Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Niki Glattauer ist als ehemaliger Schuldirektor in Wien Experte in Bildungsfragen
Sabine Hertel

Kolbenreiber, Stillstand Seit 30 Jahren ereilt jeden neuen Bildungsminister in Österreich das gleiche Schicksal: Blockade. Kolbenreiber. Stillstand. Den Grund dafür kann man "systemisch" nennen: Da sind, erstens, die parteitaktisch motivierten "Njets" durch den jeweiligen Koalitionspartner. Da ist, zweitens, ein Schulföderalismus, der neun verschiedenen Bundesländern neun verschiedene Zugänge selbst zu den grundlegendsten Fragen der Schulpolitik erlaubt. Und dann gibt es da, drittens, noch die zwei großen einflussreichen Lehrergewerkschaften, die schwarze FCG und die rote FSG, die am sprichwörtlichen Ufer sitzen und "ihre" Minister im Fluss vorbei treiben sehen …

Ausgebissene Zähne Seit 30 Jahren, als ÖVP-Ministerin Elisabeth Gehrer im Kabinett Vranitzky / Schüssel Unterrichtsministerin wurde, beißen sich unsere für Schule und Bildung zuständigen Minister an den politischen Umständen die Zähne aus. Den roten Ministerinnen Schmied, Heinisch-Hosek und Hammerschmid erging es nicht anders als den von der ÖVP nominierten Ministern Faßmann und Polaschek. Claudia Schmied wollte die Gesamtschule, sie scheiterte kläglich; Sonja Hammerschmid den österreichweiten Ausbau der Ganztagsschulen, der, gäbe es Wien nicht, inzwischen sogar rückläufig ist; Heinz Faßmann verwahrte sich energisch gegen Covid-bedingte Schulschließungen und gab schließlich klein bei.

Seit 30 Jahren beißen sich die zuständigen Minister an den politischen Umständen die Zähne aus, so auch die ehemaligen Ministerinnen Claudia Schmied (SPÖ, Unterrichtsministerin von 2007 bis 2013) und Elisabeth Gehrer (ÖVP, Unterrichtsministerin von 1995 bis 2007)
Seit 30 Jahren beißen sich die zuständigen Minister an den politischen Umständen die Zähne aus, so auch die ehemaligen Ministerinnen Claudia Schmied (SPÖ, Unterrichtsministerin von 2007 bis 2013) und Elisabeth Gehrer (ÖVP, Unterrichtsministerin von 1995 bis 2007)
HERBERT PFARRHOFER / APA / picturedesk.com

Jetzt auch bei Polaschek Martin Polaschek traf es besonders oft. Zuletzt musste er zähneknirschend das Ende der unter Schwarz-Blau eingeführten "Deutschförderklassen" verkünden. Wie bei vielen anderen "schwarzen" Vorhaben spielten das rote-pinke Wien, vor allem aber der grüne Partner nicht mehr mit. Dass alles mag verwundern, wenn man sich die Wahlprogramme ansieht, und mehr noch die dahinterstehenden Köpfe.

Die Pinken

Beginnen wir mit dem aktuell stärksten Muskel, wenn es um Schule und Bildung geht – den NEOS. Ihr Bildungsprogramm ist am umfassendsten und bekommt daher hier auch den meisten Raum. Gleich drei, pardon: vier Namen sind zu nennen, wenn es um pinke Bildung geht: Frontfrau Beate Meinl-Reisinger, Bildungssprecherin Martina Künsberg-Sarre und Wiens Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr. Jede der drei gäbe bei Regierungsbeteiligung der NEOS einen fachlich kompetenten und fraglos reformfreudigen Bildungsminister ab. Und dann ist da noch NEOS-Urgestein Matthias Strolz. Der sagte vor wenigen Tagen in einem Podcast doch glatt: "Wenn die kommende Regierung einen Bildungsminister braucht, dann bin ich interessiert." (Lesen Sie bitte dazu Christian Nussers Wahl-Kopfnuss, Folge 8)

Tut sich keinen Deut leichter: der aktuelle Bildungsminister Martin Polaschek, ÖVP
Tut sich keinen Deut leichter: der aktuelle Bildungsminister Martin Polaschek, ÖVP
Michael Indra / SEPA.Media / picturedesk.com

Die Mär von der ÖVP-SPÖ-Leiche Ich treffe Christoph Wiederkehr und Matthias Strolz Anfang September im Filmquartier Wien, wo der Bildungsstadtrat in knapp einer Stunde sein neues Buch "Schule schaffen" vorstellen wird.  Zu diesem Zeitpunkt ist Wiederkehr in den Medien so präsent wie es Strolz einst war, und zwar mit der Forderung, Österreichs Volksschule um zwei Jahre zu verlängern – ein Einstieg in die Gesamtschule. Genau dieses Wort, Gesamtschule, wolle er aber bewusst nicht in den Mund nehmen, sagt mir Wiederkehr, die sei "eine ÖVP-SPÖ-Leiche".

Zu Tode stigmatisiert Ich würde sie eher eine ÖVP-Gewerkschaft-Leiche nennen. Tatsächlich ist es der AHS-Lehrergewerkschaft – für die jeder Versuch, dem Gymnasium selbst in der Unterstufe den Elitestatus zu nehmen, eine Majestätsbeleidigung darstellt – mit Hilfe der ÖVP gelungen, die "gemeinsame Schule" gesellschaftlich zu Tode zu stigmatisieren. Drei SPÖ-Ministerinnen hätten sie gewollt – Rot auf Weiß auch in den Parteiprogrammen! – und waren dennoch chancenlos.

In vielen Bildungsfragen einig: Der pinke Wiener Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr und Neos-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger
In vielen Bildungsfragen einig: Der pinke Wiener Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr und Neos-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger
Martin Juen / SEPA.Media / picturedesk.com

Jetzt kommt's drauf an Daher, so Wiederkehr, die "neue Idee einer Verlängerung der Volksschule um zwei Jahre". Die Volksschule sei die Schulform, die "recht gut funktioniert". Und: "Zwei Jahre mehr wären gut für die Kinder und gut für die Eltern, weil 4. Klasse Volksschule – das weiß wohl jedes Elternteil – ist eine unglaubliche Belastung für alle Beteiligten." Zwischenfrage: Wäre es in einer 6. Klasse dann nicht genauso? Wiederkehr: "Das kommt drauf an." Eh.

So neu auch wieder nicht Nun, so neu ist die Idee jedenfalls nicht. Erwin Pröll hat die sechsjährige Volksschule schon vor 17 Jahren gefordert. Allein sind die NEOS damit auch nicht, denn ausgerechnet die Blauen können sich genauso eine verlängerte Volksschule vorstellen. Und nicht einmal einig sind sich die NEOS in diesem Punkt.

Der "Alte" zweifelt Matthias Strolz kommentiert den Vorstoß seines Parteikollegen mir gegenüber so: "Keine schlechte Idee, aber in Österreich nicht umsetzbar. Ganz abgesehen vom Veto der Gewerkschaft, werden auch die Länder und Gemeinden nicht mitspielen. Nicht aus pädagogischen, sondern aus finanziellen Gründen. Die werden alles ablehnen, was sie eigenes Geld kostet – die Umrüstung der Schulhäuser, Infrastruktur, die neuen Personalstände, etc. Egal, wie sinnvoll es ist." Ganz falsch dürfte der Polit-Fuchs mit dieser Einschätzung nicht liegen. FCG-Wien-Chef Thomas Krebs preschte schon einmal vor, sinngemäß: Für ihn kein Thema, da gelte es Wichtigeres anzugehen.

Bringt sich gerade selbst als möglicher Neos-Bildungsminister ins Spiel: Ex-Parteichef Matthias Strolz, hier bei den Dreharbeiten für den Filmspot "Auto gegen Fahrrad" im Juli 2021 in Wien
Bringt sich gerade selbst als möglicher Neos-Bildungsminister ins Spiel: Ex-Parteichef Matthias Strolz, hier bei den Dreharbeiten für den Filmspot "Auto gegen Fahrrad" im Juli 2021 in Wien
Helmut Graf

Überall sonst schon Norm Fakt ist: Vierjährige "Primarschulen", wie die Volksschule de jure heißt, gibt es in Europa nur noch in Deutschland und Österreich (und als Wahlmöglichkeit jetzt auch wieder in Ungarn). Europaweit ist die 6-jährige gemeinsame Schulzeit die Norm. In der Schweiz beträgt sie sogar acht Jahre, weil sie neben den sechs Jahren Primarschule auch die beiden Vorschuljahre umfasst.

Weg mit den Bildungsdirektionen Andere Punkte im Programm der NEOS: Die Forderung, die Bildungsdirektionen abzuschaffen bzw. umzufunktionieren zu einer Service-Einrichtung für Direktoren (Wiederkehr) und für Eltern (Künsberg-Sarre); Einführung eines Chancenindex, nach welchem Schulen mit besonderen Herausforderungen auch mehr Geld bekämen. Wiederkehr: "Es kann nicht sein, dass man einer Schule am Wörthersee 2000 Euro mehr gibt als einer Schule in Wien-Ottakring. Das ist derzeit der Fall." Oder: Lehrer, die bereit sind, eine volle Lehrverpflichtung einzugehen, sollen als Belohnung einen "Vollzeit-Bonus" von 1200 Euro jährlich bekommen.

Mit der Verlängerung der Volksschule von 4 auf 6 Jahre wärmen die Neos eine alte Forderung von NÖ-Landeshauptmann Erwin Pröll wieder auf (hier bei einer Feierstunde zu seinem  60. Geburtstag 2006 mit einem "Knackwurstorden" für ihn und seinem Hund Tobi)
Mit der Verlängerung der Volksschule von 4 auf 6 Jahre wärmen die Neos eine alte Forderung von NÖ-Landeshauptmann Erwin Pröll wieder auf (hier bei einer Feierstunde zu seinem 60. Geburtstag 2006 mit einem "Knackwurstorden" für ihn und seinem Hund Tobi)
ERNST WEISS / APA / picturedesk.com

Her mit dem Bildungs-Pass Zuletzt war NEOS-Obfrau Beate Meinl-Reisinger mit der Idee eines "Bildungs-Passes" in die Öffentlichkeit gegangen. Darauf sollte – als Eintrittskarte ins Berufsleben – die gesamte Bildungslaufbahn eines Kindes dokumentiert werden. Wie das mit der pinken Forderung nach "Abbau der Bürokratie" einhergehen soll, muss sie einem freilich auch erst erklären …

Die Blauen

Ihr Bildungssprecher heißt, nein, nicht Herbert Kickl, sondern – phonetisch nicht unähnlich – Hermann Brückl, ist, nein, nicht Kärntner, sondern Oberösterreicher und hauptberuflich am Bezirksgericht Schärding tätig. Als blaue Karte für den Job als Bildungsminister wird er allerdings weniger hoch gehandelt als sein Parteikollege Maximilian Krauss (siehe meine Expertise "Alle für eine – eine in alle").

Der blaue Bildungssprecher Hermann Brückl kommt aus Schärding in Oberösterreich, sitzt seit 2015 im Nationalrat und war vorher Rechtspfleger am Bezirksgericht
Der blaue Bildungssprecher Hermann Brückl kommt aus Schärding in Oberösterreich, sitzt seit 2015 im Nationalrat und war vorher Rechtspfleger am Bezirksgericht
Harald Dostal / picturedesk.com

Bildungspflicht statt Schulpflicht Überschneidungen gibt es im blauen Bildungsprogramm in mehreren Punkten, nein, nicht mit den Schwarzen, sondern mit den Pinken: d'accord bei der Verlängerung der Volksschule auf 6 Jahre, im Ziel nicht unähnlich, was einen Bildungs-Nachweis angeht. Brückl will die Lehrpläne kübeln, und zwar zugunsten einer "Bildungspflicht" (Meinl-Reisingers Idee eines Bildungs-Passes nicht unähnlich): "Wir wollen eine Bildungspflicht statt einer Schulpflicht, indem wir statt Lehrpläne abzuarbeiten Bildungsziele vorgeben, die auch erreicht werden müssen, bevor ein Kind die Schullaufbahn verlässt."

Leistungsgruppen statt Gesamtschule Diese Bildungsziele sollten bei allen "Übergängen" – gemeint vom Kindergarten in die Primarstufe, von der Primarstufe in die Sekundarstufe 1, von der Sekundarstufe 1 in die Sekundarstufe 2 – überprüft werden, und all diese "Übergänge" solle es weiterhin geben, vor allem jenen nach der Volksschule, denn eine "Gesamtschule kommt für uns nicht in Frage". Sie würde, so Brückl, wegen "der Heterogenität der Schüler das Bildungssystem massiv verschlechtern". Die Mittelschule müsse als Alternative zum Gymnasium erhalten und mit Schwerpunkten und Leistungsgruppen gestärkt werden.

Die Frage des Umgangs mit Kindern von Zuwanderern nimmt im FP-Bildungsprogramm breiten Raum ein
Die Frage des Umgangs mit Kindern von Zuwanderern nimmt im FP-Bildungsprogramm breiten Raum ein
Getty Images

Sonst viel "speziell" Blaues Nr. 1 auf der Bildungs-Agenda der FPÖ ist freilich und wenig überraschend der Umgang mit Kindern von Zuwanderern. Brückl spricht von der "Beseitigung von Sprachproblemen": "Schüler, die die Unterrichtssprache nicht ausreichend beherrschen, sollen in speziellen Deutschkursen unterrichtet werden, bis sie das erforderliche Sprachniveau erreichen. Sollte es keinen Fortschritt geben oder die Sprachkenntnisse nach zwei Jahren weiter nicht ausreichen, "sollten sie in speziellen Bildungseinrichtungen mit angepasstem Lehrplan unterrichtet werden." Also eine Art "Sonderschule" für Deutsch-Lernverweigerer.

9 Punkte gegen Gewalt Gegen Gewalt an den Schulen hat Brückl einen Neun-Punkte-Plan, der keineswegs nur die Komponenten Strafe enthält, wie man vermuten möchte, der vielmehr wohltuend unaufgeregt einen Handlungsbogen spannt von a) Konfliktprävention über b) Konfliktresilienz bis c) "Maßnahmen bei Eskalation beziehungsweise zur Deeskalation". Als mögliche Konsequenzen kann sich Brückl viel vorstellen: "Vom einfachen Gespräch bis hin zum Schulverweis."

"In der Schule lernen die Kinder Höflichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin", so FP-Parteichef Herbert Kickl in seiner Wahlkampf-Eröffnungsrede am 7. September
"In der Schule lernen die Kinder Höflichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin", so FP-Parteichef Herbert Kickl in seiner Wahlkampf-Eröffnungsrede am 7. September
GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

Höflich, pünktlich, brav Außer bei Brückl, dem vorhin genannten Maximilian Krauss und dem Wien-FPÖ-Chef Dominik Nepp (die beide vor allem für schulische Bekleidungsgebote und, "wenn nötig", Schuluniformen eintreten) ist Bildung in der FPÖ kein großes Thema. Herbert Kickl brach seine Vorstellungen von Schule in seiner Eröffnungsrede zum Wahlkampf so herunter (nachzulesen in der "Krone" vom 8. 9.): "In der Schule lernen die Kinder Höflichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin." Das Gendern, wenn es nach der FPÖ geht, nicht.

Gendern nein danke. Brückl in "Standard": "Es geht darum, dass wir unsere Sprache, entschuldigen Sie den Ausdruck, verhunzen. Wir verlernen unseren Kindern ja das Lesen und Schreiben. Diese Bücher oder Artikel, in denen gegendert wird, kann man ja oft gar nicht mehr lesen. Das ist nicht notwendig. Ich glaube nicht, dass die Wertschätzung, die ich als Mann einer Frau entgegenbringe, durch einen Doppelpunkt, ein großes I, ein Sternchen oder sonst irgendein Haxerl zum Ausdruck kommt. Das brauche ich nicht."

In Teil 2: Die Bildungsprogramme von Grün, Schwarz und Rot im Check

* Wie immer, gebrauche ich die weibliche bzw. männliche Form willkürlich wechselnd

Akt. Uhr
#Expertise
Newsletter
Werden Sie ein BesserWisser!
Wissen, was ist: Der Newsletter von Newsflix mit allen relevanten Themen des Tages und den Hintergründen dazu.