Start in Albanien

"Mini-Guantanamo" für Flüchtlinge spaltet jetzt die EU

Italien lagert seit dieser Woche einen Teil "seiner" Asylsuchenden in ein Flüchtlingslager in Albanien aus. So sollen abgelehnte Asylwerber rascher in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Kann das klappen?

Ingesamt 16 Flüchtlinge aus Ägypten und Bangladesch wurden am Mittwoch ins italienische Flüchtlingslager Shëngjin in Albanien gebracht
Ingesamt 16 Flüchtlinge aus Ägypten und Bangladesch wurden am Mittwoch ins italienische Flüchtlingslager Shëngjin in Albanien gebracht
Vlasov Sulaj / AP / picturedesk.com
Martin Kubesch
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Das ist sich gerade noch einmal ausgegangen. Am Donnerstag trifft sich in Brüssel der Europäische Rat, die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten kommen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel zusammen. Im zweitägigen Gipfel geht es vor allem auch um das Thema Asyl (alle Infos dazu finden Sie hier). Am Tag davor nahm Italien sein erstes Asyl-Außenlager in Albanien offiziell in Betrieb.

Die ersten 16 von 3.000 Insgesamt 16 Männer, 6 aus Ägypten und 10 aus Bangladesch, wurden am Mittwoch, dem 16. Oktober, von der italienischen Marine im kleinen albanischen Hafen Shëngjin an Land und in das neue Flüchtlingslager gebracht, wo sie abwarten müssen, wie über ihren Asylantrag entschieden wird. Sie waren Sonntagabend im Mittelmeer nördlich von Libyen aufgegriffen worden. Doch zwei von ihnen müssen laut Medienberichten doch nach Italien gebracht werden, da sie noch minderjährig sind und Minderjährige von der Vereinbarung zwischen Italien und Albanien ausgenommen sind.

Das Erstaufnahmezentrum liegt direkt am Hafen der albanischen Stadt Shëngjin
Das Erstaufnahmezentrum liegt direkt am Hafen der albanischen Stadt Shëngjin
REUTERS

Meilenstein oder Mega-Flop? Die Auslagerung von Asylsuchenden während ihres Asylverfahrens in einen sicheren Drittstaat - diesen stellt Albanien dar – wird von der Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni als Meilenstein in der Bekämpfung der Migrationsproblematik gefeiert. Und auch auf europäischer Ebene sind viele Staaten inzwischen der Meinung, dass dieser italienische Weg eine mögliche Lösung darstellen könnte – wenn das System tatsächlich funktioniert, woran allerdings gewaltige Zweifel bestehen.
Was man über das neue EU-Flüchtlingslager in Albanien und die offenen Fragen in der EU-Migrationspolitik wissen muss:

Was ist da am 16. Oktober genau passiert?
Es wurden insgesamt 16 Männer in eine neue Flüchtlingsunterkunft auf albanischem Boden – also außerhalb der EU – gebracht, damit sie dort den Ausgang ihres Asylverfahrens abwarten. Die Männer, sechs stammen aus Ägypten und zehn aus Bangladesch, wurden von der italienischen Marine auf hoher See entdeckt und aufgegriffen, als sie von Libyen aus versuchten, mit einem Boot Italien zu erreichen.

Üblicherweise wären diese Männer auf italienisches Hoheitsgebiet gebracht worden und hätte da – entweder auf der Insel Lampedusa oder am Festland – auf den Ausgang ihres Asylverfahrens gewartet. Nun warten sie außerhalb der EU, in einem nagelneuen Asyllager in Albanien, darauf. Angeblich soll ein Richter vor Ort binnen zwei Tagen entscheiden, ob Asyl gewährt wird oder nicht.

Mehr als 50.000 Migranten kamen heuer bereits in Süditalien an. Mit den neuen Flüchtlingslagern in Shëngjin und in Gjader in Albanien möchte man diese Last etwas gleichmäßiger verteilen
Mehr als 50.000 Migranten kamen heuer bereits in Süditalien an. Mit den neuen Flüchtlingslagern in Shëngjin und in Gjader in Albanien möchte man diese Last etwas gleichmäßiger verteilen
APA-Grafik / picturedesk.com

Was ist der Hintergrund dieser Aktion?
Italien versucht, Härte gegenüber den Tausenden Migranten zu demonstrieren, die alljährlich bei unseren südlichen Nachbarn um Asyl ansuchen. Dazu hat die politisch weit rechts stehende italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni einen Deal mit ihrem albanischen Amtskollegen Edi Rama vereinbart, der europaweit bislang einzigartig ist. Sie ließ ein Flüchtlingslager für 3.000 Menschen in Gjadër im albanischen Hinterland sowie ein Erstaufnahmelager direkt am Hafen von Shëngjin errichten, um dort Migranten während ihres Asylprozesses unterzubringen und damit zu verhindern, dass sie auf italienischem Boden landen.

Wie soll das funktionieren?
Man erhofft sich, dass in dem exterritorialen Lager der Asylprozess und – bei einer Ablehnung des Asylantrags – die Abschiebung der Menschen in ihre Herkunftsländer rascher ablaufen als am Festland, wo die Behörden massiv überfordert sind. Maximal 4 Wochen soll jeder Asylsuchende in Albanien verbringen und dann entweder nach italien kommen oder abgeschoben werden, so der ehrgeizige Plan.

Ein Schiff der italienischen Marina, begleitet von einem albanischen Lotsen,  brachte die ersten 16 Asylsuchenden in das neue Lager am Balkan
Ein Schiff der italienischen Marina, begleitet von einem albanischen Lotsen,  brachte die ersten 16 Asylsuchenden in das neue Lager am Balkan
ADNAN BECI / AFP / picturedesk.com

Was passiert mit jenen, deren Asylantrag angenommen wird?
Sie werden nach Italien gebracht und in der Folge wie alle Asylberechtigten im Land behandelt.

Und mit jenen, deren Asylantrag abgelehnt wurde?
Sie sollen von Albanien direkt in ihre Heimatländer zurückgebracht werden, ohne überhaupt italienischen Boden betreten zu haben.

Was passiert mit jenen, die  nicht gleich wieder in ihr Herkunftsland zurückgebracht werden können?
Das kann passieren, weil sie das Heimatland nicht mehr einreisen lässt, oder weil es als nicht sicher im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Asylgesetze gilt. Dann werden die Betroffenen nach Italien gebracht werden müssen. Denn der Deal mit Albanien besagt, dass die Asylsuchenden nur für einige Wochen – eben während des Asylverfahrens – in den Lagern bleiben dürfen und danach keinesfalls in Albanien aufgenommen werden.

Die beiden neuen Flüchtlingslager in Albanien wurden fast gänzlich aus Containern erbaut, die Stahlzäune sind bis zu 8 Meter hoch
Die beiden neuen Flüchtlingslager in Albanien wurden fast gänzlich aus Containern erbaut, die Stahlzäune sind bis zu 8 Meter hoch
ADNAN BECI / AFP / picturedesk.com

Was ist dann der Unterschied gegenüber dem bisherigen Verfahren?
Für die italienische Regierung geht es dabei um zwei Faktoren. Erstens bei der eigenen Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, dass man offensiv etwas gegen die illegale Migration unternimmt. Und zweitens soll eine abschreckende Wirkung bei künftigen Asylsuchenden erzeugt werden, so dass diese es sich wirklich gut überlegen, ob sie sich die gefährliche Flucht antun wollen, wenn sie es nicht einmal nach Italien schaffen. Und dazu kommt noch, dass Ministerpräsidentin Meloni sich damit in Brüssel das Image einer Macherin erwirbt.

Welche Asylwerber werden überhaupt nach Albanien gebracht?
Frauen, unbegleitete Minderjährige, Familien, Kranke und andere Schutzbedürftige werden auch weiterhin in jedem Fall in Italien an Land gehen und dort auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten dürfen. Deshalb müssen nun zwei der Männer, die am Mittwoch ins Lager in Albanien gekommen sind, doch nach Italien überstellt werden – bei der Erstaufnahme wurde festgestellt, dass die beiden jünger als 16 Jahre alt sind. Auch Männer aus nicht sicheren Herkunftsstaaten kommen sofort nach Italien. Für die albanischen Lager bleiben nur alleinstehende Männer aus als sicher definierten Herkunftsländern übrig.

Italiens rechte Regierungschefin Giorgia Meloni hofft auf sinkende Migrationszahlen durch die beiden neuen Lager in Albanien
Italiens rechte Regierungschefin Giorgia Meloni hofft auf sinkende Migrationszahlen durch die beiden neuen Lager in Albanien
laPresse / EXPA / picturedesk.com

Was hat Albanien davon?
Einerseits lässt sich Italien die ganze Aktion ordentlich Geld kosten – es ist von Gesamtkosten von etwa 1 Milliarde Euro die Rede, und das Geld wurde keinesfalls nur für die aus Containern errichteten Lager verwendet. Und dann erhofft sich Albanien natürlich, durch dieses Entgegenkommen bessere Karten bei seinem eigenen Betreben, EU-Mitglied zu werden, zu haben. Nur einen Tag, bevor die ersten Flüchtlinge in Albanien an Land gingen, wurden die ersten fünf von insgesamt 35 Kapitel der Beitrittsverhandlungen des Landes mit der EU eröffnet – naheliegend, dass diese beiden Ereignisse miteinander zu tun haben.

Finden die Albaner die Sache gut?
In der Hafenstadt Shëngjin jedenfalls schon, hier freut man sich über eine massive Ankurbelung der lokalen Wirtschaft durch das Erstaufnahme-Lager. An der Strandpromenade von Shëngjin hat inzwischen sogar eine "Trattoria Meloni" eröffnet. Die Wände des Lokals sind mit zahlreichen Porträts von Italiens Regierungschefin geschmückt.

Ist das Projekt sonst auch unumstritten?
Ganz im Gegenteil, zahlreiche NGOs haben bereits ihre Kritik geäußert. Bezweifelt wird einerseits, dass die Flüchtlinge in Albanien die gleiche Behandlung erhalten wie in Italien. Und auch die Ausgestaltung der beiden Lager wird bemängelt. Von bis zu acht Meter hohen Stahlzäunen und gefängnisähnlichen Zuständen ist die Rede, mit Flutlichtanlagen, Überwachungskameras und Arrestzellen. In der Bevölkerung heißen die Lager "Mini-Guantanamo".

Aber vor allem wird der Sinn der Aktion in Frage gestellt. Viele Migrations-Experten gehen davon aus, dass letztlich nur ein geringer Teil der abgelehnten Asylsuchenden in ihr Herkunftsland rückgeführt werden kann.

Die "Trattoria Meloni" an der Hafenpromenade von Shëngjin ist mit unzähligen Porträts der italienischen Politikerin geschmückt
Die "Trattoria Meloni" an der Hafenpromenade von Shëngjin ist mit unzähligen Porträts der italienischen Politikerin geschmückt
ADNAN BECI / AFP / picturedesk.com

Weshalb dieser Pessimismus?
Weil die langjährige Abschiebe-Praxis in der EU gezeigt hat, dass bis zu 90 Prozent aller abgelehnten Asylwerber nicht in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden können. Selbst Kommissionspräsidentin von der Leyen sprach im Vorfeld des Asyl-Gipfels am 17. und 18. Oktober davon, dass es neuer Regeln für das Thema Rückführung bedürfe, da im Schnitt nur jeder fünfte abgelehnte Asylwerber die EU auch wirklich verlasse. Die meisten anderen begeben sich auf eine Tour durch die einzelnen Mitgliedsländer, um ihr Asyl-Glück in einem anderen Staat zu versuchen.

Aber wie soll das dann klappen?
Dazu gibt es bislang keine klaren Ansagen aus Rom. Kommuniziert wird nur, dass man sich erhoffe, dass alle Asylwerber, die in Albanien einsitzen und letztlich abgelehnt werden, auch in ihre Herkunftsländer zurückkehren können. Dass das in der Praxis klappt, gilt aber als ausgeschlossen.

Wie könnte dieses System das Migrationsproblem der EU lösen?
In der Theorie geht man davon aus, dass künftig genügend sichere Drittstaaten gefunden werden können, die abgelehnte Asylwerber, die nicht mehr heimkehren können, bei sich aufnehmen – gegen unterschiedliche Arten des Entgegenkommens seitens der EU. Das können etwa Visa-Erleichterungen für die Bürger dieser Staaten sein, Stipendien, Quoten für eine kontrollierte Migration aus diesen Ländern oder schlicht Wirtschafts- und Finanzhilfen. Allerdings – bis jetzt wurde kein einziger solcher Drittstaat ausfindig gemacht.

Menschenrechtsaktivisten demonstrierten am 16. Oktober gegen die Unterbringung der ersten 16 Asylsuchenden im italienisch-geführten Flüchtlingslager Shëngjin in Albanien
Menschenrechtsaktivisten demonstrierten am 16. Oktober gegen die Unterbringung der ersten 16 Asylsuchenden im italienisch-geführten Flüchtlingslager Shëngjin in Albanien
ADNAN BECI / AFP / picturedesk.com

Trotzdem soll Italiens Albanien-Deal als Blaupause für künftige Asyllager in der EU dienen?
Ja. 15 Mitgliedstaaten, darunter Dänemark, Polen und die Niederlande, haben die EU-Kommission bereits vor einigen Monaten aufgefordert, dem italienischen Beispiel zu folgen. Und Italien und Ungarn haben vorgeschlagen, das Prinzip auf die gesamte EU auszuweiten und sogenannte Rückführungszentren aufzubauen, um Migranten ohne Bleiberecht in Länder außerhalb der EU zurückzuschicken. Aber auch hier wird die praktische Durchführbarkeit dieser Idee von Experten massiv angezweifelt.

Gab es diese Idee außerhalb der EU schon einmal?
Ja, die Briten waren sich mit dem afrikanischen Staat Ruanda eins, dass dieser als sicheres Drittland für illegal nach Großbritannien eingereiste Migranten hätte dienen sollen. Diese Migranten wären dann von Großbritannien nach Ruanda gebracht worden, wo sie einen Asylantrag hätten stellen und - bei Gewährung – hätten bleiben können. Allerdings wurde der Deal durch den Regierungswechsel in London vergangenen Sommer zunichte gemacht, die neue Labour-Regierung kündigte den Pakt auf, ohne dass er aktiviert worden wäre.

Von wie vielen Asylwerbern sprechen wir überhaupt?
Im Jahr 2023 suchten insgesamt 1.049.020 Asylwerber, also etwas über 1 Million Menschen, erstmalig in einem der 27 EU-Staaten um Asyl an. Knapp 330.000 waren es in Deutschland – unser Nachbarland ist Asyl-Ziel Nummer 1 in Europa. In Italien waren es 2023 mehr als 130.000 Asylanträge, in Österreich über 55.000 erstmalige Asylanträge.

Akt. Uhr
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