Tagebuch einer Pandemie
Corona-Kopfnüsse 2021, Kapitel 5: Endlich wieder im Lockdown
Warum wir Wurstsemmeln mit Strohhalmen aßen, wieso die Oster-Fleischweihe zum Take-away wurde und wer uns Appetit auf den "Grünen Pass" machte. Als Text und Podcast.
4. März 2021 Österreich setzt auf Phantom-Impfungen
Das Impfen nimmt mystische Formen an, dafür bleibt der Arbeitsmarkt sehr real. Leider.
Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Was ist mit Martin Kocher los? Der Arbeitsminister trat Montagabend in der ZiB 1 auf und sah aus als käme er direkt von einem Casting für Käpt’n Iglo. Bartstoppeln verdeckten weite Teile des Gesichts, das fiel umso mehr auf, als die Frisur am Kopf eher durch Übersichtlichkeit glänzt. Kocher ist erst seit 11. Jänner im Amt, nicht einmal zwei Monate also. In der Politik ist es üblich, dass man gegangen wird, nicht dass man sich gehen lässt, also vermutete ich weitergehende Pläne. Vielleicht hat man vergessen, dem Minister zu sagen, dass die Drogeriemärkte nie zu hatten, eventuell will er auch als Ajatollah Kocher in die Zeitgeschichte eingehen.
Am Dienstag war dann alles wieder gut. Bei der Präsentation der Arbeitsmarktdaten, die irgendwie besser waren als gedacht, aber doch irgendwie auch schlecht, erschien der Minister glattrasiert wie ein Nacktmull. Vielleicht ist es nichts geworden mit dem Job als Käpt’n Iglo, obwohl der ja neuerdings die einfachen Dinge mag und da gehört ein Rasierapparat eindeutig dazu.
Kocher trat gemeinsam mit Margarete Schramböck auf, die dasselbe Ressort leitet wie er, es hat nur einen anderen Namen. In der Mitte stand Gernot Blümel, bei dem die Haare unerbittlich wachsen. Er wird bald keinen Friseur mehr brauchen, sondern eher jemanden mit einer Machete. Kocher, Schramböck und Blümel, Österreichs Antwort auf den "Marshallplan" also, verlautbarten, dass es erstmals seit Weihnachten weniger als eine halbe Million Arbeitslose gebe. Trotzdem sind immer noch 490.000 Menschen ohne Job oder in Schulung, dazu 478.000 in Kurzarbeit, fast eine Million also alles in allem. Viel Arbeit für Ajatollah.
Kocher hat seinen Master offenbar bei Anschober gemacht, auch er brachte gestern ein paar Skizzenblätter mit, die er auf einem Fernseher einspielen ließ. Leider hatte das auch diesmal vorab niemand dem Filmteam gesagt. Deshalb sah man auf Facebook den Minister mit einem Klicker in der Hand, der sich durch Charts zappte und sehr liebevoll über sie sprach, für uns blieben sie Geister, keine dieser mystischen Gestalten war zu sehen.
Auch die Impferei könnte bald eine Fata Morgana sein. Weil die Zahlen nicht und nicht zusammenpassen wollen, überlegten Regierung und Landeshauptleute ernsthaft, in Hinkunft besser alles unter der Tuchent zu behalten, also lieber gar nichts mehr herzuzeigen als was Falsches. Man kam davon ab, denn die EU-Gesundheitsbehörde ECDC („European Centre für Disease Prevention and Control“) weist aus, wie viele Impfungen an die einzelnen Länder verschickt werden, jeder kann die Differenz ausrechnen. Es ist schon ein Jammer, manchmal wird Österreich direkt zur Transparenz gezwungen.
Das passierte am Dienstag dann tatsächlich und es machte die Sache nur noch schlimmer. ECDC nämlich gab bekannt, bisher 825.315 Dosen an Österreich geliefert zu haben. Verimpft (um genau zu sein, an die Bundesländer zum Verimpfen übergeben) wurden in Österreich allerdings bisher nur 653.382 Impfungen. Es haben also gleich 171.933 Impfdosen bisher nicht den Weg in einen Oberarm gefunden, jede fünfte Impfung liegt auf Eis.
Nun aber wird alles besser, denn der Kanzler will gemeinsam mit Dänemark und Israel eine eigene Impfstoffproduktion aufziehen, ohne EU, es gab schon die erste Arbeitssitzung dazu. Es gehe darum "möglichst eigenständig gerüstet zu sein". Ich sehe so eine Art Kaufhaus Österreich vor mir, nur mit lauter Spritzen halt. Vielleicht könnte man einmal mit einem Dashboard beginnen.
Wobei, vielleicht ist das auch keine brillante Idee. Denn am Dienstagvormittag geschah auf der Datenseite des Gesundheitsministeriums Ungewöhnliches. Die Zahl der Geimpften war plötzlich höher als die Zahl der ausgelieferten Impfdosen. 8.031 Menschen hatten eine Impfung erhalten, die es noch gar nicht in die Länder geschafft hatte. Das Gesundheitsministerium erklärt das damit, dass aus einer Ampulle nicht wie ursprünglich gedacht fünf Spritzen aufgezogen werden können, sondern sechs, sieben, oder sogar bis zu zehn. Politik ist in diesem Land immer auch ein bisschen eine Glaubensfrage.
5. März 2021 Strohhalme als letzter Strohhalm
Öffnen, zusperren, die Koalitionspartner entfernen sich immer weiter voneinander. Das macht sogar essen schwierig.
Es gibt momentan zwei Österreichs, eines, in dem Rudolf Anschober Gesundheitsminister ist und eines, in dem Sebastian Kurz den Kanzler gibt. Eines dieser Österreichs will Optimismus versprühen, verbreitet Zahlen, die Hoffnung machen sollen, versucht, Erfolge zu verkaufen. Das andere zeigt sich "alarmiert", warnt vor einer Explosion der Zahlen, sieht sich in die dunklen Oktobertage zurückversetzt. Es ist für die Menschen im Land zunehmend schwierig zu erkennen, in welchem der beiden Österreichs sie eigentlich leben.
Am Montag hatte sich die Regierung mit Experten, der Opposition, den Länderchefs und mit sich selbst zusammengesetzt und weitere Lockerungen in Aussicht gestellt. "Anscheinend ist die Strategie, das Virus mit unvorhersehbaren Öffnungsschritten zu verwirren", lästerte der Komplexitätsforscher Peter Klimek nach der Präsentation. Zu Ostern sollen die Gastgärten öffnen, schon übernächste Woche Kinder wieder Sport machen dürfen, mit Abstand halt, was in einigen Disziplinen wie etwa Fliegenfischen leicht ist, in anderen wie Fußball als Arbeitsverweigerung interpretiert werden könnte.
Die Regierung baute eine Hintertür ein. Am 15. März, so wurde verlautbart, wolle man sich die Zahlen noch einmal anschauen und bewerten. Läuft es nicht so gut, was für viele, inklusive meiner Person, keine große Überraschung darstellen würde, dann wird der Schani am Samstag vor Ostern keinen Garten ins Freie tragen, sondern höchstens seinen Grant.
Rudolf Anschober aber wollte nicht so lange warten mit der Einschätzung, sondern kam rascher zu einem Urteil. Drei Tage nach der Verlautbarung der Öffnung, verlautbarte der Gesundheitsminister die mögliche Schließung der Öffnung. "Das Ruder zeigt derzeit in die falsche Richtung", sagte er. Das mag sein, leider weiß man in Österreich derzeit nicht, in welcher Richtung die richtige Richtung liegt, in die man eventuell rudern könnte, die Regierung trägt diesbezüglich wenig zur Klärung bei.
Anschober aber will nun "das Ruder herumreißen", wie er am Donnerstag sagte, das soll über einige Verschärfungen gelingen, die er "Sicherheitsnetz" nannte. Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollen "Präventionskonzepte" erarbeiten. Ein gutes Jahr nach Ausbruch der Pandemie ist das ein Gedankenfunke, der reichlich spät entzündet wurde.
Wo man diese "Präventionskonzepte" einreichen muss, wer sie überprüft, wie sie genau aussehen müssen, das soll bis nächste Woche geklärt werden. In Sozialräumen wird es ab einer Personenzahl von fünf eine FFP2-Maskenpflicht geben. Nun ist es tatsächlich so, dass es in Sozialräumen von Unternehmen recht häufig zu Ansteckungen kommt. Das liegt auch daran, dass sie oft dafür genutzt werden, um in Pausen zu essen und zu trinken. Das ist bei korrekt platziertem Mund-Nasenschutz mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Außer natürlich man benutzt Strohhalme. Ich werde zeitnah ausprobieren, ob ich auf diese Weise eine Wurstsemmel aufziehen kann.
8. März 2021 Kickl packt sich die Corona-Wut
Die FPÖ setzt sich an die Spitze der Covid-Demos. Mich beschleicht eine dunkle Vorahnung.
Ich glaube nicht an große Umwälzungen, an den besseren, durch die Krise geläuterten Menschen, der den Müll vom Nachbarn mittrennt. Der auf die Straße geht, um Autoabgase weg zu atmen, weil er den Job nicht mehr der notleidenden Natur allein überlassen möchte, die ohnehin mit dem Klimawandel alle Hände voll zu tun hat. Der sich vor einem Geschäft einfach so anstellt, obwohl gar keiner im Laden ist. Der freiwillig spazieren geht. Nein, ich glaube irgendwann wird die Pandemie einfach vorbei sein und wir werden es gar nicht richtig mitkriegen.
Am Samstag kam es in Wien wieder zu Demos. Der Unmut der Teilnehmenden richtete sich im Groben und Ganzen gegen die Corona-Maßnahmen und ihre Urheber, ich denke aber, die Demos werden auch noch stattfinden, wenn es keine Einschränkungen mehr gibt, einfach der Folklore wegen. Außerdem, wann kommt man aus den Bundesländern schon mit gutem Grund nach Wien? Nach dem Vorbild Kapitol in Washington stürmten Aktivisten diesmal die Landeszentrale einer Versicherung in der Leopoldstadt, sie wussten dann allerdings nicht so recht, was sie im Gebäude machen sollten. Es war keiner da, mit dem sie über Pensions-Ansparpläne reden konnten, das Auto hatte niemand dabei, also konnten auch keine Kaskoschäden besichtigen werden. Nach eineinhalb Stunden kam die Polizei und erlöste die Verwirrten, vor allem von sich.
Die FPÖ hat eine Marktlücke entdeckt. Sie stellte sich an die Spitze dieser Melange aus Österreich, auch kleine Braune finden sich darunter. Vor drei Jahren bettelte das Team um Heinz-Christian Strache noch darum, von Israel die Absolution zu erhalten, nun zogen am Sabbat auch Neonazis durch das jüdische Viertel, zeigten den Hitlergruß, schwenkten Reichsflaggen, riefen "Heil Hitler".
Beileibe nicht jeder, der Samstag auf der Demo mitging, war ein Rechtsradikaler, es gibt schon viele im Land, die sich berechtigt Sorgen um Geld, Job, Familie, Zukunft machen. Aber wer glaubt, dass sich ein einschlägig normierter Personenkreis tatsächlich um sie schert, wird ein böses Erwachen erleben. Sich um den kleinen Mann zu kümmern, endet oft damit, dass man sich um keinen Mann kümmert, außer man ist es selbst.
Der frühere blaue Innenminister Herbert Kickl hielt im Prater eine Brandrede auch gegen Israel. Es sei "kein Gesundheitsparadies", sondern "ein Land der Unfreiheit. Was dort in Israel läuft, das ist ein Massenexperiment der Pharmaindustrie und auf der anderen Seite ein System der Gesundheitsapartheid". Das Publikum johlte. "Kurz muss weg", stand auf Transparenten, die Demonstranten klebten aneinander, viele waren ohne Maske unterwegs und wenn sie eine auf hatten, dann reichte der Stoff nicht, um auch noch die Nase zu bedecken. Seltsam: Kinder dürfen in ihren Vereinen nicht kicken, wenn sich Freundinnen auf eine Parkbank näher als zwei Meter kommen, schießt die Polizei herbei, aber wenn zwischen Tausenden nicht einmal ein Kolibri Abstand eingehalten wird, dann scheint das gottgegeben und als solches schwer sanktionierbar.
Ex-Polizeiminister Kickl wurde von der Polizei angezeigt, oder auch nicht, er will es erst aus der Zeitung erfahren haben. Er bekommt nun angeblich eine Anzeige nach Hause zugestellt, 1.450 Euro beträgt die maximale Strafhöhe, ich hege die Vermutung, er wird keinen Cent bezahlen müssen. Shalom!
18. März 2021 Wer brav war, ist nun der Blöde
Verreisen in Zeiten von Corona, die Regierung hat da eine Idee. Der "Grüne Pass" kommt, aber der Sololauf hat so seine Tücken.
Es ist manchmal so in Beziehungen, man biegt irgendwann in unterschiedliche Richtungen ab, bei Corona und Österreich ist das nicht anders. Gestern schoss die Zahl der Neuinfektionen in die Höhe, gleichzeitig stach die Regierung der Hafer. Sie pinselte uns einen Frühling und Sommer in bunten Farben auf, wir werden durch Mohnblumenwiesen laufen und das Meer durchpflügen, Essen nicht mehr nur heimtragen und es schön finden, wenn das Theater wieder Theater macht. Es wird ein Leben fast wie früher sein, unsere Dankbarkeit wird keine Grenzen kennen.
Die Impfungen werden nur so ins Land geschwemmt werden. Jeder wird bis Ende Juni so viele Impfangebote erhalten haben, dass er es fast schon als Belästigung empfinden könnte. Vielleicht schreibt man bis dahin einen eigenen Stalking-Paragraphen ins Strafgesetzbuch, um uns die Pfizers, die AstraZenecas und die Johnson-Zwillinge vom Leib zu halten.
Der "Grüne Pass" kommt. Nein, nein, das ist nicht die VIP-Einladung zur Zuchtbullenversteigerung auf der Landwirtschaftsmesse in Ried, viel weiter soll man damit fortfahren dürfen, wurde uns am Mittwoch von höchster Stelle versprochen. Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin der EU, stellte die Pläne in Brüssel vor. Wir haben großes Vertrauen in ihre Kompetenz gewonnen, seit sie das Impfmanagement zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigt hat. Ja, erledigt trifft es ziemlich gut. Nachdem sie das in den Sand gesetzt hat, setzt sie jetzt uns vielleicht in den Sand.
Wir werden wieder reisen dürfen, vor allem ans Meer und vielleicht sogar schon im Mai, wenn sich die Tage zu Fenstern verketten. Ich rieb mir ein bisschen die Augen. In der Früh wurde bekanntgegeben, dass es in den 24 Stunden so viele Neuinfizierte gegeben hat wie heuer noch nie an einem Tag. Aber statt uns darauf vorzubereiten, dass unsere längste Reise heuer mit dem Finger zur Nase führt, machte man die Tore und die Herzen weit auf. Erneut wird Corona über uns sehr verwirrt sein.
Der "Grüne Pass" soll nach dem Wunsch der EU ab Juni gelten, Österreich will schon im April loslegen. Eine Version fürs Handy wird es geben und eine auf Papier. Erfasst werden negativ bestandene Tests, Impfungen und überstandene Erkrankungen. Wie in Israel soll das zunächst den Zutritt in Lokale ermöglichen, später zu Kultur- und Sportveranstaltungen, noch ein bisschen später zu Orten, in die wir ferienbedingt fahren möchten. Hallo Welt, wir kommen! Kurzatmig zwar, aber wir kommen.
Ich finde es gut, dass man bald wieder fortfahren kann, dass es Hoffnung gibt. Wir wissen jetzt, das Licht am Ende des Tunnels steht mit einem "Grünen Pass" in der Hand da. Aber der wird nicht allen ausgehändigt und das bleibt auch so. Wer schnell hilft, hilft doppelt, heißt es, in diesem Fall verlieren die Verlierer doppelt, ihnen wird nicht geholfen, nicht schnell, nicht langsam. Man braucht ein großes Herz, um sich für die zu freuen, die bei der Lotterie Glück hatten oder dem Glück nachhelfen konnte.
Ich freue mich für die Pensionisten, die endlich wieder mit Florian Silbereisen in See stechen können. Für die 22-jährigen Uni-Assistenten, die "irrtümlich" eine Impfeinladung bekommen haben. Für die Südafrika-Golfern, die so lange auf ihr Hobby verzichten mussten. Für die Ehrenobmännern der Pflegeheime, die endlich nicht mehr mit den Siechen und Kranken zu tun haben, mit denen sie es auch schon davor nichts zu tun hatten. Alles richtig gemacht!
Alle anderen sind die Dummerln. Sie fahren nicht fort, sicher nicht im Frühjahr, vielleicht auch nicht im Sommer. Sie schauen sich keine Konzerte an, trinken ihr Bier weiter daheim, verfolgen Fußball auf Sky. Für sie war im Universum noch kein Impfangebot vorgesehen. Pech gehabt! Viele Menschen sind da dabei, die schwer schuften im Leben, auf deren Arbeitsleistung das Land ruht. Die zwischen 20 und 50 Jahre alt sind. Für die der Urlaub oder der Wochenendausflug ins Grüne, in die Berge, ans Meer fast wie eine Impfung ist, die sie nicht haben. Die so blöd waren, sich nicht vorzuschwindeln.
Der Staat wird schon für mich sorgen, haben sie gedacht. Und wenn es mit dem Impfen nicht so schnell geht, dann wird ebendieser Staat zu verhindern wissen, dass ich gleich zweimal das Nachsehen habe, beim Impfen und beim Fortfahren. Macht der Staat aber nicht. Daraus wird sich noch eine interessante Dynamik entwickeln, zwischen den Menschen, die ihre neue Freiheit genießen, und den Menschen, für die Freiheit bedeutet, weiter daheim eingesperrt zu bleiben.
29. März 2021 Der Sturm vor der Ruhe
Wien, Niederösterreich und das Burgenland gehen zu Ostern in den "Ost-Lockdown". Das klingt hart, liest sich aber irgendwie nett.
Es ist das Wochenende, an dem Österreich die Türschnalle zur Osterwoche drückte. Aus den Kirchen ist fröhlicher Gesang zu hören, bis auf die Straße hinaus stehen Menschen, um sich Palmzweige weihen zu lassen. An der Religion will sich die Politik nicht versündigen. In der Wiener Innenstadt schimpfen die alten Campari-Schlürfer über die jungen Biertrinker vom Donaukanal. Die Bessergestellten schicken vorm Flug nach Doha Grüße aus der Business-Class und wünschen den Daheimgebliebenen toi, toi, toi. "Kopf hoch, das wird schon, wir schaffen das." Wir halt woanders.
Wenn auf eine Tragödie immer die Farce folgt, worin sind wir jetzt? Die Verbote haben es noch gar nicht an Land geschafft, da waren der Zorn, der Hass und die Verzweiflung schon angespült. Die Politiker reden auf das offene Meer hinaus, keiner will hören, was sie sagen, nur die Möwen gurren zurück. Die Politiker nehmen es als Zustimmung wahr.
Die neue Sanftheit ist beglückend und verstörend zugleich. Über ein Jahr lang haben wir uns der Pandemie mit kriegerischen Begriffen angenähert, jetzt entdecken wir an Corona eine fast herzliche Seite. Es heißt nicht mehr "Lockdown" oder "Shutdown", sondern "Osterruhe" oder "Osterpause". Gemeint ist dasselbe, aber nicht das Gleiche. Einen Lockdown strebt keiner an, einen harten schon gar nicht, aber nach Ruhe und nach Pausen sehnen sich alle. "Morgens um halb zehn in Corona", wir packen ein Knoppers aus, blinzeln in die Sonne, später einmal werden wir sagen, so gut wie damals beim Covid ist es uns noch nie gegangen.
Jetzt fehlt nur noch, dass jemand auf die Idee kommt, unseren Gefängnisalltag "Osterfriede" zu nennen. Rudolf Anschober, der das Pastorale in der Politik wieder salonfähig gemacht hat, hätte sich am Palmsonntag über Funk oder Fernsehen an uns wenden können: "Der Osterfriede sei mit Euch". Tränen der Rührung wären uns über die Wangen gekullert. "Der Rudi", hätten wir gesagt und uns ins Taschentuch geschnäuzt, "der hat´s drauf. Den sollten wir unsere Impfstoffbeschaffung managen lassen."
Osterruhe? Jetzt schon des Unwort Jahres! Angela Merkel hat den Begriff in die Politik eingeführt. "Osterruhe", das klingt nach 20 Jahre Haft in Alcatraz, aber mit einer fixen Fango-Packung pro Woche. Nach Entschlackung, Digital-Detox, Yoga in einer taubefeuchteten Wiese. Das Wort redet einen Zustand schön, der in Wahrheit ein einziger Zustand ist.
In Deutschland war diese "Osterruhe" mit einem Plan verknüpft, der so verrückt klang, dass er auch aus Österreich hätte stammen können. Vor Ostern sollten die Supermärkte zwei Tage zusperren, dann einen einzigen Tag öffnen, um danach erneut für zwei Tage zu schließen. Man merkt zuweilen schon, dass Politiker ziemlich weit vom Alltag entfernt leben. Die geplante Entschleunigung der Supermärkte hätte im ungeplanten Bürgerkrieg geendet. Statt mit Schwertern wären die Menschen mit Porree-Stangen aufeinander losgegangen.
Auch Österreich einigte sich in der Nacht auf Mittwoch auf eine "Osterruhe". Aber als der Gesundheitsminister und die Landeshauptleute von Wien, Niederösterreich und dem Burgenland in der Früh dann erwachten, trauten sie ihren Augen und Ohren nicht. Angela Merkel sammelte ihre guten Ostervorsätze wieder ein und entschuldigte sich. Der Fenster-Einkaufstag sei doch keine so gute Idee gewesen, alles andere rundherum auch nicht. Ich fasse also zusammen: Am Montag sagte Österreich die Osterruhe ab. Am Dienstag sagte Deutschland die Osterruhe an. Am Mittwoch sagte Österreich die Osterruhe an und Deutschland die Osterruhe ab. Alles evidenzbasiert natürlich, wäre es anders, hätte uns das besorgt gemacht.
Der vergangene Mittwoch begann am Dienstag, der Dienstag wiederum schon am Montag. Da absolvierte die Bundesregierung ihre üblichen Runden mit Experten, Opposition, Länderchefs, aber man wusste nicht recht, was man tun sollte. Lockern? Öffnen? Beides? Gar nichts? Die Pressekonferenz danach drängte, also zogen sich der Kanzler, der Vizekanzler und der Gesundheitsminister um knapp nach 16 Uhr mit den Länderchefs von Wien, Niederösterreich und dem Burgenland zurück und redeten mit Michael Ludwig, Johanna Mikl-Leitner und Hans Peter Doskozil in kleinerer Runde weiter. Die kleinere Runde beschloss eine neuerliche kleine Runde am nächsten Tag. Der Vorschlag kam von Doskozil, der Kanzler bewertete ihn als "gut", der Idee wurde also Verordnungsrang zugewiesen. Die anschließende Pressekonferenz war von der Inhaltsschwere eher ein Leichtgewicht.
Am Dienstag rätselte Österreich darüber, was uns die Regierung sagen wollte, als sie uns nichts sagte. Am Abend traf sich das neue "Trio Regionale" dann wie vereinbart mit dem Gesundheitsminister, Anschober eilte Ludwig, Mikl-Leitner und Doskozil ins Foyer des Ministeriums entgegen, schritt wie ein Zootiger auf und ab, als die drei ihre Erwartungen an die Gespräche in die TV-Kameras sagten. Das hatte seinen Grund.
Als die Landeschefs nämlich in den Verhandlungssaal kamen, staunten sie – sie wurden schon erwartet, Anschober hatte sich Verstärkung organisiert. Zwei Expertinnen und vier Experten aus der Neigungsgruppe Covid saßen da. Sie waren engagiert worden, so bestätigen mehreren Quellen, um die Politiker zum Umschwenken zu bewegen. So geschah es auch.
Gleich zu Beginn der Verhandlungen knallte "Tricky Rudi" seinen Lockdown-Plan auf den Tisch. Die Landeschefs, die sich auf eine Erörterung ihrer Optionen eingestellt hatten, waren perplex. Dann begann der Expertenstab auf die Politiker einzureden, einer nach dem anderen. Anhand konkreter Prognosen wurde die Entwicklung der nächsten Wochen dargestellt und dem "Trio Regionale" die beiden einzigen verbliebenen Möglichkeiten aufgezeigt: Entweder ihr macht was dagegen oder ihr seid verantwortlich für noch mehr Infizierte, noch mehr Hospitalisierte, auch für viele Tote. Es waren Wirkungstreffer, die erzielt wurden, danach ging es nur mehr um Details. In denen steckt bekanntlich der Teufel, in Österreich hat er sieben Leben.
Eben noch waren in Wien die Standplätze für Schanigärten fixiert worden, jetzt hielt man schon die derzeitige Öffnung für eine abwegige Idee. Hans Peter Doskozil, der sich wohl darauf gefreut hatte, zu Ostern die Therme Lutzmannsburg als Modellregion mit einem finnischen Meertropfen eröffnen zu können, erkannte den Ernst der Lage.
Ein Mann in der Runde hörte aufmerksam zu, mischte sich manchmal ein, vor allem aber hielt er seinen Chef auf dem Laufenden: Bernhard Bonelli, Kabinettchef von Sebastian Kurz. Es ist ein Märchen, dass der Kanzler nicht wusste, was da im Gesundheitsministerium vor sich ging, sein wichtigster Mann saß mit am Tisch.
Um Mitternacht wurde Kurz dann selber zugeschaltet, nicht via Video, sondern per Handyanruf. Die Runde hatte da schon die Expertengruppe weggeschickt, es herrschte noch viel Uneinigkeit. Kurz war via Freisprechanlage zu hören, er saß noch im Kanzleramt. Um 0.15 Uhr machte er sich auf dem Weg aus dem Haus, Spaziergänger auf der Straße sahen verwundert zu, wie der Kanzler in die Dienstlimo stieg, das Handy immer noch am Ohr.
Knapp nach 2 Uhr früh rief Anschober dann bei Kurz daheim an. Es gebe eine "Einigung", sagte er und skizzierte den Kompromiss. Das Drama nahm seinen Lauf. In Österreich hat politische Langfristplanung momentan eine Tages-Inzidenz von null. Als der Gesundheitsminister die Landeshauptleute in die Nacht entließ, hatte man so etwas wie einen Pakt geschlossen. Die Länderchef fuhren zufrieden in ihren Dienstautos weg, aber sie kamen unzufrieden daheim an.
Auch dem Gesundheitsminister dämmert es, dass die Vorhaben, erarbeitet in einer sechseinhalb Stunden langen Sitzung, ein paar Schwachstellen aufwiesen. Die Ausgangssperre etwa sollte am Samstag beginnen, die Geschäfte aber bis Gründonnerstag offenhalten können. Wer also zum "Interio" fahren wollte, um sich ein Teelicht zu kaufen, hätte riskiert, von Nehammers Polizei angeflext zu werden, denn das Haus für ein Teelicht zu verlassen, mag allerehrenwert sein, als unbedingt erforderlicher Beschaffungsvorgang aber wird das gemeinhin nicht interpretiert.
Wie es oft so ist in Österreich – wenn die Zeit drängt, dann lassen wir sie eben einfach drängen. Nichts geschah zunächst am Mittwoch und alle waren davon gleichermaßen verwirrt. Die Landeshauptleute, die auf Abruf in ihren Büros saßen, das Kanzleramt, das auf eine Pressekonferenz wartete, die im eigenen Haus stattfinden sollte, aber keiner berief sie ein. Die Beamten der Bundesländer, die miteinander in Kontakt standen, aber nicht recht wussten, was sie tun sollten.
Kanzler und Gesundheitsminister waren im Parlament gebunden, währenddessen rätselte das Land, was da paktiert worden war in der Nacht, über die Stillschweigen vereinbart worden war. Es gebe noch "Dinge zu klären", sagte Michael Ludwig zu Mittag, ins Detail über die Dinge ging er nicht, was auch die anderen Verhandlungseilnehmer schade fanden.
Am späteren Nachmittag kam dann Bewegung in die Sache, aber von unerwarteter Seite. Der ORF rief im Kanzleramt an, man habe erfahren, dass es um 18 Uhr eine Pressekonferenz ohne Anschober geben werde. Dort wusste niemand davon, aber man erfuhr, dass sich die Landeschefs mittlerweile aufgemacht hatten, um sich erneut zu treffen – mit dem Gesundheitsminister. Der letzte Abtausch fand statt, Mikl-Leitner "opferte" die Öffnung der Friseure, um die Ostergottesdienste zu ermöglichen, man muss im Leben eben Prioritäten setzen
Um 19 Uhr machten der Gesundheitsminister und das "Trio Regionale" den Oster-Lockdown öffentlich. Der Kanzler fehlte bei der Pressekonferenz, eine Rarität. Während Ostösterreich zugesperrt wurde, telefonierte Kurz mit Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, und Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen. Es ging um irgendwas mit Impfstoffen in der EU, aber das ist eine andere Geschichte.
Und jetzt? Der letzte Entwurf der Verordnung, der am Montag im Gesundheitsministerium fertiggestellt wurde, ist brutaler als viele ahnen. Sechs Tage lang soll Ostösterreich zusperren, und zwar wirklich fast alles. Alle Geschäfte bis auf die lebensnotwendigen (Supermärkte, Apotheken, Tankstellen) müssen schließen, auch Click & Collect ist nicht mehr möglich. In den Supermärkten darf vieles nicht mehr verkauft werden, Spielzeug etwa, aus Ostergeschenken im letzten Moment wird heuer nichts.
Auch die Restaurants machen dicht, sogar Take-Away wird verboten. Kein Sekt in der City mehr, kein Kaffee über die Gasse, das Ostermenü und all die Essen davor und danach müssen selbst gekocht werden. Alle, die vor Ostern brav daheim geblieben sind und sich nicht zu Hundert als Zweitwohnbesitzer in der Steiermark angemeldet haben, sind wieder einmal die Blöden.
Nur in die Kirche dürfen wir noch, hier steckt sich keiner an, auch nicht bei der Fleischweihe. An Wunder glaubt, wer an Wunder glaubt. Take-away heißt heuer, dass wir den geweihten Osterschinken aus dem Gottesdienst heimtragen. Ich glaube, mjam umd lieferando bieten so ein Service nicht an.
Aber es wäre nicht Österreich, wenn es nicht immer noch um eine Spur grotesker ginge. Wie, das erfuhren wir schnell.
Zum Lesen: Das zweite Corona-Tagebuch
- Der Überblick
- Kapitel 1: Taumeln ins neue Jahr
- Kapitel 2: Schlimmer geht´s immer
- Kapitel 3: Haariger Start in die Freiheit
- Kapitel 4: Fremdeln mit der Freiheit
- Kapitel 5: Endlich wieder im Lockdown
- Kapitel 6: Licht am Ende des Lichts
- Kapitel 7: Jetzt fallen alle Masken
- Kapitel 8: Hinein in die nächste Welle
Zum Hören: Das 2. Corona-Tagebuch