Tagebuch einer Pandemie

Corona-Kopfnüsse 2021, Kapitel 6: Licht am Ende des Lichts

Österreich bekommt einen neuen Gesundheitsminister: Anschober geht, Mückstein kommt, die Pandemie bleibt. Dem Neuen fällt dazu wenig ein. Aber hübsche Turnschuhe hat er.

Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Wolfgang Kofler
Newsflix Kopfnüsse
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1. April 2021 So werden wir in den Parks gepflanzt
Der "Ost-Lockdown" entfaltet seine ganze Kraft. Auch in der Bürokratie.

Der prachtvolle Mittwoch lud gestern zu vielerlei ein, nicht aber zum Ski fahren. Es traf sich gut, dass Wintersport in Wiener Parks ohnehin verboten ist, man erkennt darin den Weitblick der unmittelbaren Bundesverwaltung. Paragraph 5, Absatz 1 der "Parkordnung zum Schutz des historischen Volksgartens", die beim Eingang angeschlagen ist, regelt nämlich, dass "Radfahren, Rodeln, Schifahren" ebendort untersagt ist. Wenn es also am Wochenende wieder kälter wird, müssen Sie sich eine andere Örtlichkeit suchen, um die Schranzhocke zu üben oder irgendetwas zu machen, wofür Marcel Hirscher berühmt ist, im Volksgarten brockt sie höchstens die Polizei vom Theseustempel.

Die österreichischen Bundesgärten haben im letzten Jahr den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen. Als die Pandemie ausbrach, wollte die zuständige Ministerin Elisabeth Köstinger die Pflanzenwelt in den Parks vor einer Corona-Ansteckung schützen – eine Pflanzemie hätten wir nicht auch noch gebraucht – und ließ die einschlägigen Etablissements zusperren. Nicht jedem gefiel das, Köstinger wurde für ihre Fürsorglichkeit sogar recht arg gescholten. Glücklicherweise kam ihr dieses Jahr die Idee mit dem "Grünen Pass", der so ein Erfolg wird, dass der Ministerin die Herzen im Sommer nur so zufliegen werden.

Österreich mag ein Land der Zauderer und Zögerer sein, aber auf die Entschlusskraft der Bürokratie ist immer Verlass. Ich habe das jetzt wieder hautnah miterleben dürfen und es waren solch beglückende Momente, dass mir fast Tränen eingeschossen sind. Mittendrin in der Pandemie erweist sich die Verwaltung des Landes als Fels, da kann noch so viel zugesperrt werden, sie hat immer ihre Augen offen.

Wiesenschaftlich erwiesen: Es gibt Wiesen, auf denen darf man sein, und es gibt Wiesen, auf denen darf man nicht sein
Wiesenschaftlich erwiesen: Es gibt Wiesen, auf denen darf man sein, und es gibt Wiesen, auf denen darf man nicht sein
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Im Volksgarten befinden sich ein paar sehr schöne Wiesen und weil das Wetter so wunderbar war und lau, setzten oder legten sich ein paar Besucher ins Gras. Einige hatten kleine Sessel mitgebracht, andere Decken. Es war eine friedliche Stimmung, Woodstock ohne Langhaarige und Musik und fast ohne Drogen, sogar die Sonne fand Gefallen an dem Treiben. Ich hatte den Eindruck, sie schickte ein paar Extrastrahlen zwischen die Bäume durch.

Es ist allerdings so, dass Paragraph 3, Absatz 1 der "Parkordnung zum Schutz des historischen Volksgartens" festlegt, dass "Grün- und Pflanzungsflächen weder betreten noch befahren" werden dürfen. Das gilt auch während einer Pandemie, in der die Menschen eine natürliche Erholungssehnsucht haben, die eine Bürokratie von Rang aber nicht tolerieren kann, ohne Angst haben zu müssen, zum Gespött zu werden. Die Menschen auf der Wiese taten also etwas Illegales. Nun bestimmt Paragraph 3, Absatz 2 der "Parkordnung zum Schutz des historischen Volksgartens", dass es Ausnahmen gibt, nämlich "entsprechend gekennzeichnete Grün- und Pflanzungsflächen (z.B. Spiel- oder Liegewiesen)", auf denen man sehr wohl verweilen darf. Aber die muss man erst einmal finden.

Also spazierte ein befugtes Wachorgan zwischen den kleinen Rasenflächen hin und her und wies die Menschen auf den illegalen Rasenflächen darauf hin, dass sie sich auf illegalen Rasenflächen befänden. Er war höflich und die Arbeit schien ihm kein großes Vergnügen zu bereiten, aber immerhin konnte er den Menschen auf den illegalen Rasenflächen den Weg zu den legalen Rasenflächen zeigen, es handelte sich um eine winziges Stück Grün neben einer Sandkiste. Dort tummelten sich bald recht viele Menschen, in Hotel-Handtüchern bemessen war die Örtlichkeit rasch ausreserviert.

Auf den anderen Wiesen des Parks wäre gut Platz gewesen, dort aber war das Umlagern ja untersagt worden. Es ist schon auch so in Österreich: Wir schaffen es nicht, Probleme zu lösen, aber Lösungen zu problematisieren, das geht uns gut von der Hand.

Die zwei Gesichter von Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger könnten auch nur ein Gesicht sein
Die zwei Gesichter von Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger könnten auch nur ein Gesicht sein
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14. April 2021 Österreichs hat einen neuen Chefarzt
Rudolf Anschober tritt als Gesundheitsminister zurück, Wolfgang Mückstein übernimmt. Alles bleibt anders gleich.

In Österreich wohnen ewige Verdammnis und Seligsprechung Tür an Tür. Sie grüßen sich, wenn sie den Mist raustragen, erzählen sich, wohin es im Urlaub geht, zum Geburtstag schicken sie sich gegenseitig WhatsApp mit jungen Hunden zu, die "Happy Birthday" jaulen. Es gibt nur Himmel und Hölle, kein Fegefeuer, am Weg von einem zum anderen kommt man höchstens an einem Griller vorbei. Der Teufel steht da, in der Hand eine lange Gabel, auf der er ein Stück Fleisch aufgespießt hat, und das hält er jedem hin. "Kotelett?"

Eben noch war Rudolf Anschober der Impf-Versager, der Lockdown-Blindgänger, der Verordnungs-Murkser, der Bremser, der Verhinderer, der Zauderer, der Zahlen-Chaot, der Mann, der alles zu spät sah oder zu lasch reagierte, worauf auch immer. Am Dienstag dann fanden seinen Abgang viele schade. Immer nett sei der Minister gewesen, seriös, konstruktiv, sympathisch, souverän, ein Lichtblick, einer mit Handschlagqualität, einer, der sich für Fehler entschuldigen konnte, aber eben ein Opfer seiner Zeit, der Regierungsbeteiligung, des Kanzlers. Jeder wollte ihm auf die Schulter klopfen, aber die Schulter war nicht mehr da. Schade, aber macht ja nichts. "Kotelett?"

"Dann hebt er ab und völlig losgelöst von der Erde, schwebt das Raumschiff, völlig schwerelos"
"Dann hebt er ab und völlig losgelöst von der Erde, schwebt das Raumschiff, völlig schwerelos"
Helmut Graf

Wolfgang Mückstein hat das noch vor sich, was sein Vorgänger nun hinter sich gebracht hat. Der Reiz am Neuen wird ihn auf Flügeln nach oben tragen, dort wo Anschober im letzten Sommer war, aber sich nicht halten konnte. Wir werden sehen, wohin die Schuhe den neuen Gesundheitsminister noch überall hinführen. Ja, tatsächlich die Sneakers waren es, die mir als Erstes an ihm auffielen, ich bin halt so und ich fragte mich: Schaute ich hier auf Feuerschuhe, Windsandalen oder doch Betonpatscherln?

Österreich hat einen neuen, designierten Gesundheitsminister, Wolfgang Mückstein, 46, Arzt aus Wien, verheiratet, Vater von zwei Töchtern (12 und 15 Jahre alt), er sieht entfernt aus wie Robbie Rotten aus der Kinderserie "Lazy Town". Ob er zur Angelobung ebenso sportliches Schuhwerk nutzen wird wie am gestrigen Dienstag, liegt noch im Unklaren, Montag soll es so weit sein, die ÖVP drängt zu mehr Eile. Das Langsame kann ihr nicht schnell genug gehen, das Schnelle muss nicht so zügig passieren.

Bei der Präsentation trug Mückstein das Modell Rio Branco von Veja in kaki/perl, kalt gefüttert, zusammengeschustert aus Leder und Textil, zu haben bei Zalando um 119,95 Euro. Er schnürte es mit einem Doppelknoten, vielleicht wollte er sein neues Amt nicht antreten, indem er Werner Kogler, der vor ihm ging, in den Rücken fiel, in der Politik soll das schon vorgekommen sein.

Der Typ da hinten in den abgewetzten Jeans ist übrigens der neue Anschober
Der Typ da hinten in den abgewetzten Jeans ist übrigens der neue Anschober
Helmut Graf

Rio Branco ist eigentlich eine Stadt in Brasilien mit knapp über 400.000 Einwohnern, aber eben auch Namensgeber für einen Öko-Schlapfen. 20 Prozent der Mückstein-Galloschen bestehen aus recyceltem Plastik. Die Sohle ist aus Ethylen-Vinylacetat, einem Kunststoff, der leichter und elastischer ist als Gummi. Ich finde, die Geschichte des Tages könnte hier zu Ende sein, den Dauerregen könnte man vielleicht noch erwähnen, was sollte sonst noch wichtig sein? Aber es gab dann doch noch etwas mehr.

Der Dienstag wurde eingeläutet, indem es Montagabend bei Alexander Van der Bellen klingelte. Werner Kogler war am Apparat, er informierte den Bundespräsidenten, dass der nächste Rücktritt der Koalition bevorstand, der dritte in nicht ganz 16 Monaten, Respekt. Nach Ulrike Lunacek und Christine Aschbacher gab nun Rudolf Anschober auf oder er wurde aufgegeben, so genau kann das niemand mehr sagen.

Van der Bellen nahm die Nachricht zur Kenntnis und behielt sie für sich, ebenso Werner Kogler. Er hatte am Nachmittag gegen 16 Uhr noch mit Sebastian Kurz telefoniert, es gab ein paar Sachthemen zu besprechen. Auch über Rudolf Anschober unterhielten sich die beiden. Er werde morgen zurückkehren, unterrichtete Kogler den Kanzler, den Rücktritt erwähnte er mit keinem Wort, das bestätigen beide Seiten. Ich darf daran erinnern:  Zu diesem Zeitpunkt, wir reden von Montagnachmittag, war der Abgang von Anschober bereits beschlossene Sache, der mögliche Nachfolger schon kontaktiert. Der Kanzler wusste weder vom einen noch vom anderen.

Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob wir genug Luster im Raum haben, was sagst Du, Werner?
Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob wir genug Luster im Raum haben, was sagst Du, Werner?
Sabine Hertel

Ist das ungewöhnlich? Ja und nein. Auch vom Abschied Christine Aschbachers erfuhren die Grünen erst unmittelbar davor. In einer vertrauensvollen Koalition, loyal nach innen und geschlossen nach außen, sagt man sich Wichtiges vorab. Das Beste aus beiden Welten allerdings hat sich in den noch nicht einmal eineinhalb Jahren Teamarbeit ein paar Milchstraßen voneinander entfernt. "Kotelett?"

Das Ende hatte sich abgezeichnet, seit Wochen schon. Wer Anschober ins Gesicht schaute, der konnte die nahe Zukunft daraus ablesen. Er quälte sich in den Beruf und der Beruf quälte ihn. Der Blick war oft starr, Anschober schwitzte, ohne dass es warm war, er lächelte an unpassenden Stellen, es befreite nicht, ihn nicht und uns ebenso wenig. Er wurde krank, erstmals am 9. März, ein Kreislaufkollaps zwang ihn ins Spital. Die Ärzte fanden nichts, die Seele ist kein Organ, dem man sich mit Zungenspatel oder EKG gut nähern kann.

Anschober raffte sich noch einmal auf, kehrte am 15. März zurück. Er ertrug den Umstand, dass er den Lockdown Ost nicht sofort durchsetzen konnte, mit jener äußerlichen Apathie, die ihn innerlich seit Amtsantritt zerfressen haben muss. Alle anderen in der Regierung und in den Ländern schätzten die Lage salopper ein, überstimmten ihn. Er bäumte sich auf, nach vier Tagen hatte er die Landeschefs von Wien, Niederösterreich und dem Burgenland in seine Richtung taktiert.

Ich will mich ja nicht verstecken, aber ...
Ich will mich ja nicht verstecken, aber ...
Helmut Graf

Dann war der Akku leer. Am 6. April fehlte er im Ministerrat und verschwand. Die nächsten Untersuchungen, die nächsten Zweifel tauchten auf, von ihm selbst, aber auch aus der Partei. Anschober stellte fast alle Kontakte ein, nur für Werner Kogler war er erreichbar, nicht aber für den Kanzler. Kurz rief ein paar Mal an, Anschober hob nicht ab. Es war ein Vorgriff auf sein neues Leben.

Am Wochenende spitzte sich die Lage zu. Anschober rang sich zur Entscheidung durch: Es geht nicht mehr, es muss ein schmerzlicher Prozess gewesen sein. Er hing am Amt mehr als das Amt an ihm, sein Umfeld riet zum Rückzug. Spätestens Sonntagabend muss Werner Kogler gewusst haben, dass er seinen Gesundheitsminister verliert.

Es ist bezeichnend, dass der türkise Teil der Regierung, auch nicht der Kanzler, zu keiner Zeit in die Überlegungen einbezogen wurde. Man ließ einander in Ruhe, seltsam in entscheidenden Tagen. Kogler telefonierte ab dem Vormittag Kandidaten durch, Montagmittag meldete er sich bei Wolfgang Mückstein, er erwischte ihn in der Ordination. Ob er sich das Ministeramt vorstellen könne, fragte er den Mediziner und räumte ihm bis Dienstagvormittag Bedenkzeit ein. Noch am selben Abend sagte Mückstein zu. Kurz darauf informierte Kogler den Bundespräsidenten, nicht aber den Kanzler, auch nicht seine eigene Partei, die bis Dienstagfrüh an eine Rückkehr von Anschober "im Lauf der Woche" glaubte.

"Knockin' on Heaven's Door": Arbeitsminister Matin Kocher bei der Arbeit
"Knockin' on Heaven's Door": Arbeitsminister Matin Kocher bei der Arbeit
Helmut Graf

"Mückstein", sagte der Bundespräsident, "den kenne ich doch". Tatsächlich ist der künftige Gesundheitsminister nicht der Hausarzt von Van der Bellen, wie kolportiert wurde, der Bundespräsident ist allerdings tatsächlich Patient im Primärversorgungszentrum in Mariahilf, das Mückstein gegründet hat und von dem er Partner ist.

Es ist immer noch Montagabend, als "Heute" Wind von den Vorgängen bekommt. Am Dienstag um 9.30 Uhr soll Anschober eine Pressekonferenz geben, wird uns erzählt. Seltsam, es gibt keine Einladung dazu, kein Aviso, nichts, niemand ist erreichbar.

Knapp nach 21 Uhr rufe ich im Kanzleramt an und sorge dort für Erstaunen. Nein, von einer Pressekonferenz Anschobers wisse man nichts, von einem Rücktritt schon gar nicht. Im Telefonat mit dem Kanzler habe Werner Kogler lediglich die Rückkehr von Anschober für den nächsten Tag angekündigt. Er werde in der Früh an der Sitzung des "Auer-Gremiums" teilnehmen. Die Runde ist nach dem inzwischen abberufenen Impfbeschaffer Clemens Martin Auer benannt und trifft sich regelmäßig, um über Lieferung und Verteilung der Impfstoffe zu reden, das Kanzleramt und das Gesundheitsministerium entsenden Vertreter.

Am Dienstag erscheint "Heute" mit den Infos zur Anschober-Pressekonferenz um 9.30 Uhr. Verwunderung in der Politik, auch bei den Grünen. Um 7.42 Uhr lädt das Gesundheitsministerium offiziell zur "persönlichen Erklärung" von Anschober ein. Wenig später meldet sich der Gesundheitsminister beim Bundespräsidenten, unmittelbar danach telefonierte er mit dem Kanzler, informiert beide über seinen bevorstehenden Rücktritt. Auch Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer greift zum Handy und setzt ihr türkises Gegenüber August Wöginger in Kenntnis. Der Rest ist österreichische Rücktritts-Routine, serviert wie üblich mit einigem Zuckerguss.

Der damalige FPÖ-Chef Norbert Hofer versucht die Kombi Mund-, Nase- und Augenmaske
Der damalige FPÖ-Chef Norbert Hofer versucht die Kombi Mund-, Nase- und Augenmaske
Helmut Graf

Anschober berichtet von seiner Überlastung, seine Stimme ist brüchig, immer wieder kämpft er mit den Tränen. Er spricht über die "14 Monate praktisch ohne freien Tag", von den gesundheitlichen Folgen, Kreislaufproblemen, steigendem Blutdruck, steigenden Zuckerwerten, beginnendem Tinnitus. "Für Erkrankungen braucht sich niemand schämen", sagt er, "in der schwersten Gesundheitskrise seit Jahrzehnten braucht die Republik einen Gesundheitsminister, der zu hundert Prozent fit ist. Das bin ich derzeit nicht". Und: "Ein Gesundheitsminister ist für die Gesundheit da, auch für die eigene. Ich will mich nicht kaputt machen." 27 Minuten dauert die "persönliche Erklärung", sie gerät tatsächlich sehr persönlich.

Anschober will sich nun auskurieren, dann einen "politischen Roman" schreiben, das sei sein Traum, sagt er. Folgt nach Reinhold Mitterlehner der zweite Oberösterreicher, der mit Kurz abrechnet, diesmal über den Umweg der Belletristik? Anschober dankte seinem Team, Freunden, Unbekannten, mit denen er in Öffis gesprochen hatte und solchen, die ihm Mehlspeisen als Aufmunterung ins Büro geschickt hatten. Der Kanzler, die ÖVP, der türkise Teile der Regierung kam nicht in dieser Erzählung vor, sie alle wurden nicht einmal gestreift. Auch so ein Zeichen.

Knapp nach 12 Uhr stellte sich dann der Neue vor. In Turnschuhen eben, Jeans, blauem Sakko, darunter ein Langarmhemd von New Zealand Auckland, Modell Tapuaero, mit Logostitching, eine Smartwatch am Handgelenk. Er sehe sich als "oberster Krisenmanager", sagt Wolfgang Mückstein, werde auch "unpopuläre Entscheidungen treffen, wenn es notwendig ist", weitere Lockdowns schließt er nicht aus. Er wolle "keine Versprechungen machen oder Luftschlösser bauen", auch nicht beim Impfen.

Heute Mittwoch geht Mückstein mit Kogler zum Kennenlernen ins Kanzleramt, auf die Turnschuhwahl darf man gespannt sein. Viel Zeit für Smalltalk bleibt nicht, das Virus nimmt keine Rücksicht auf Befindlichkeiten. „Kotelett?

Diese ganze Fotografiererei überall, hört die im Amt irgendwann einmal auf?
Diese ganze Fotografiererei überall, hört die im Amt irgendwann einmal auf?
Helmut Graf

19. April 2021 Kurz will jetzt "Öffnungskanzler" werden
Anschober weg, das hat den Kanzler offenbar beflügelt. Er will als Retter aus der Pandemie hervorgehen.

Zuletzt hatte sich der Kanzler etwas rar gemacht. Er trat so selten auf, dass sich viele schon Sorgen machten, wenn auch nicht alle aus denselben Motiven, manche davon waren mutmaßlich nicht einmal ehrbar. Einige vermuteten, Sebastian Kurz versuche Kraft zu sammeln, über einsame Waldspaziergänge, Yoga im Kreiskyzimmer, oder über eine Bergtour mit Herbert Kickl, auch um etwaige gemeinsame Ziele zu besprechen. Wie oft ist die Wahrheit viel trivialer. Kurz war beim Merkur, falls Sie sich noch erinnern, was das ist, der heutige Billa Plus.

Der Rückzug von Rudolf Anschober muss auf den Kanzler irgendwie befreiend gewirkt haben, mehr noch als Sonnengruß, Krieger oder Schulterbrücke. Seit der Gesundheitsminister sich unter Hinterlassung von roten Rosen an sein Team nach Hause verfügte, ist Kurz wie auf Red Bull. Oft mehrfach am Tag erklärte er uns in der vergangenen Woche wie die nächste Zeit so sein wird, er sprühte vor Optimismus und Tatendrang ohne Tatenvollzug. Er wirkte, als wäre Anschober bisher zwischen ihm und der Zukunft gestanden. Jetzt kuriert sich der Pandemiker in Oberösterreich aus und Kurz hat freie Sicht auf die Sonne und die Sonne auf ihn. Das wärmt offenbar beide.

Ich werdest noch große Augen machen, wenn ich einmal mit der Renaturierung anfange
Ich werdest noch große Augen machen, wenn ich einmal mit der Renaturierung anfange
Helmut Graf

Die Sonne hat freilich ihre Launen, nicht nur, aber auch in der Politik. Werner Kogler hatte schnell Ersatz parat, einen Arzt aus Wien mit legerem Auftreten und ebensolchem Schuhwerk, wenn ich die Reaktionen von Frauen richtig deute, dann hat die Regierung optisch passabel aufgerüstet, akademisch sowieso.

Filmreif die entscheidenden Minuten von Mücksteins Bestellung. Montagfrüh sei er mit dem Radl zur Arbeit gefahren, erzählt er, alles andere hätten die Grünen wohl auch mit einer sofortigen Exmatrikulation geahndet. In der Ordination kam Mückstein dann drauf, dass er sein Handy daheim vergessen hatte. Als er später einen Patienten behandelte, meldete die Apple-Watch auf seinem Handgelenk plötzlich einen Anrufer. Hollywood? Das Smartphone von daheim aus mit einer Sprachnachricht: "Oida, wonn kummst mi endlich hoin?" Nein, Werner Kogler war dran, der Billa Plus der Grünen. Mückstein lehnte sich nach vorne und redete leise in seine Uhr hinein: "Kann ich dich zurückrufen?" Er meinte Kogler, nicht die Uhr, glaube ich zumindest.

Früher wären bei einem solchen Verhalten zwei Männer zu Hilfe gerufen worden, die ebenfalls weiße Mäntel getragen hätten und sie hätten den Mann am Schreibtisch, der mit seiner Uhr redet, höflich ersucht, doch mitzukommen, man habe gerade eine Zelle frei, die hübsch mit Gummi tapeziert sei. Jetzt aber ist das normal, man kann auch Menschen, die allein im Auto sitzen, dabei beobachten, wie sie mit Menschen reden, die gar nicht da sind, sondern sich am anderen Ende einer Freisprechanlage befinden. Mutmaßlich.

Mein neues Dienstauto ist nicht rechtzeitig fertig geworden
Mein neues Dienstauto ist nicht rechtzeitig fertig geworden
Helmut Graf

Mückstein rief später tatsächlich bei Kogler zurück, der Billa Plus der Grünen machte ihn noch am selben Abend zum Anschober-Nachfolger, heute Montag um 10 Uhr wird er angelobt. Der Bundespräsident, der in der Gemeinschaftspraxis des neuen Gesundheitsministers schon zugange war, lässt sich bei der Gelegenheit vielleicht gleich den Cholesterinspiegel messen. Passt er nicht, dann fällt "Juli" halt das Grammeschmalzbrot zu Mittag zu.

Sebastian Kurz erlebte die Bestellung des neuen Anschobers aus der Warte eines Passagiers aus, statt Flügel wachsen zu lassen wurden ihm eher Hörner aufgesetzt und das aus gutem Grund. Die Pandemie befindet sich in einer entscheidenden Phase, der Kanzler muss auf der Hut sein, dass der Lichtschein am Ende des Tunnels nicht auf den Falschen fällt. Es wird jetzt mehr geimpft, die Stimmung hellt sich auf, der "Grüne Pass" stellt uns fröhliche Badexkursionen im Sommer an die Adria in Aussicht, es wäre blöd, wenn man sich ein Jahr lang mit Corona herumgeschlagen hätte und dann kommt ein dahergelaufener Arzt und verkündet die Rettung. "Mückstein macht Corona zur Mücke". Solche Schlagzeilen wünscht man nicht einmal seinem ärgsten Feind, Kurz hat da eine recht große Auswahl mittlerweile.

Raumgreifend: Wolfgang Mückstein mit seinem Erfinder Werner Kogler
Raumgreifend: Wolfgang Mückstein mit seinem Erfinder Werner Kogler
Helmut Graf

Vielleicht ist das der Grund, warum der Kanzler seit der letzten Wochen Anflüge von Hyperaktivität zeigt. Es gilt der Bevölkerung mitzuteilen, wer den Teufel Corona besiegt hat, wer ihn weggetestet, weggeimpft, weggelockdownt hat. Am Wochenende stellte sich Kurz deshalb gar nicht wenigen Interviews, national und international. Deshalb weiß ich jetzt auch, dass der Kanzler noch nie gekifft hat, auch nicht als er noch nicht Kanzler war, aber er habe in seiner Jugend trotzdem "durchaus andere lustige Abende verbracht," packte er aus. Ich glaube ja sowieso, dass diese Regierung nur mehr hält, weil Kurz den Grünen manchmal zu vorgerückter Stunde "Hulapalu" auf der Knopfharmonika vorspielt.

"Zu Ostern", erzählte der Kanzler auch, "war ich mit meiner Freundin seit Langem wieder beim Merkur einkaufen. Da kommen Menschen auf einen zu mit Sorgen, andere mit Fragen und viele werfen einem im Vorbeigehen nur Worte zu wie `nicht unterkriegen lassen´ oder `nix g´fallen lassen´. Das gibt dann wieder Kraft." Ich kann mir Kurz gut vorstellen, wie er im Supermarkt Rabattmarkerln auf Veltlinerflaschen pickt, sie auf das hintere Gestänge des Einkaufswagens stellt und an den Chips-Packerln, den Bierkisten und den Einmachglaserln vorbeisurft, dann an der Kassa Jö-Punkte gegen Playmobilfiguren tauscht, um daheim die Schlacht gegen Anschober nachstellen zu können. Die österreichische Politik liefert schon immer die schönsten Bilder, muss ich neidlos anerkennen.

Auch so manche automatische Tür macht nicht automatisch auf
Auch so manche automatische Tür macht nicht automatisch auf
Helmut Graf

22. April 2021 Wann sticht Mücke endlich zu?
Der Neue im Amt legt einen enttäuschenden Start hin. Erst ergeht er sich in Stehsätzen, dann fällt er auch noch um.

Wie schaut die Welt momentan aus der Sicht von Supermarkt-Angestellten aus? Ich frage mich das hin und wieder beim Einkaufen. Es sind häufig Frauen, sie sitzen an der Kassa hinter notdürftig zusammengeschusterten Plexiglasscheiben, Tausende Menschen ziehen jeden Tag an ihnen vorbei, sie husten, sie räuspern sich, einige bohren beim Anstellen in der Nase. Die Kassiererinnen müssen alle Waren angreifen und über den Scanner ziehen, die ganze Schicht über Masken tragen, freundlich sein. Wenn das Schweinsschnitzel 10 Cent mehr kostet als im Prospekt, die Rabattmarkerln abgelaufen sind oder nur in einer anderen Filiale gelten, dann werden sie übel beschimpft. Die Wut, die da ist bei vielen, entlädt sich nicht an den Millionären, sondern an den so genannten einfachen Menschen, das ist einfach so und es ist einfach nicht gut.

Über die Supermarkt-Kassiererinnen redet seltsamerweise kaum jemand in diesen Tagen. Seit Impftermine vergeben werden, kommen alle möglichen Leute dran, Bürgermeister, gehobene Vertragsangestellte, Landespolitiker, Pfarrer, Bergretter, Mechaniker vom Autofahrerklub, Uni-Lektoren, an die Verkäufer hat noch keiner gedacht, die funktionieren ohnehin, denken wohl einige.

Hand auf Herz, oder irgendwo in der Gegend muss das ja sein
Hand auf Herz, oder irgendwo in der Gegend muss das ja sein
Helmut Graf

Ich gönne jedem und jeder die Impfung, also fast, aber wie endet das? Ziehen wir dann, wenn wir alle geimpft sind, vor die Supermärkte und applaudieren den Angestellten, kräftig und aus vollem Herzen? Und die Kassiererin und die Wurstverkäuferin und der Lagerist und der Filialleiter und die Putze mit dem Wischmob, die bekommen feuchte Augen und sagen: "Mein Gott, ist das schön. Fast so wie 2020, als wir auch beklatscht wurden, statt richtig Geld zu bekommen."

Vielleicht aber wird jetzt alles besser. Wir haben nun einen neuen Gesundheitsminister, der vom Fach ist. Der wird jetzt sagen, was zu tun ist, was wir uns trauen dürfen bei den Öffnungen, wo das Risiko zu groß ist. Okay, aber wann? Wann hören wir etwas, das hinaus geht über "Guten Tag, es war sehr interessant hier, zu Details kann ich mich nicht äußern, eventuell morgen oder übermorgen und auch dann nur, wenn mir der Kanzler das gestattet?"

Ich weiß schon, Ministern wird sonst eine Schonfrist von 100 Tagen eingeräumt, aber die Zeit haben wir nicht. Leider können wir das Virus jetzt nicht um etwas Aufschub bitten. "Liebe Mutantinnen und Mutanten, wir sind noch nicht so weit, aber in zwei, drei Monaten, wenn ihr wieder vorbeischaut, dann werden wir vorbereitet sein." Nein, der neue Gesundheitsminister muss sofort da sein, präsent, kundig, anpackend. Wer im Finale der Champions League in der 85. Minute eingewechselt wird, beginnt am Platz auch nicht erst mit Dehnungsübungen. Der grätscht rein, rackert, giert nach dem nächsten Kopfball. Wolfgang Mückstein dehnt noch.

Servus, Pfüat Gott und auf Wiedersehn: Rudolf Anschober beim Abgang
Servus, Pfüat Gott und auf Wiedersehn: Rudolf Anschober beim Abgang
Helmut Graf

Ich gebe zu, mich enttäuscht das. Es ist so als wäre Rudi Anschober bei der Kanzler-Limousine links hinten ausgestiegen und Wolfgang Mückstein wäre von rechts hinten auf seinen Platz geklettert. Alles ist wie bisher, in Turnschuhen halt. Sebastian Kurz gibt Gas oder bremst, seine Kumpels, die am Beifahrersessel und im Fond sitzen, jauchzen und johlen, ihnen gefällt alles, was der Kanzler tut. Österreich braucht aber keine neuen Jauchzer und Johler, die eine günstige Mitfahrgelegenheit im Geilomobil nutzen. Gefragt ist jemand mit eigener Lizenz, eigenem Kopf, eigenen Zielen, einer, der dem Kanzler mitunter ins Steuer greift, nicht einen weiteren, der sagt, "toll hast du diese Kurve genommen, Sebastian."

Am Dienstagabend war der neue Gesundheitsminister in der ZiB 2 zu Gast. Es war sein erstes Interview, das merkte man ihm an. Mückstein stellt sich und sein Leben artig vor, eine Karriere durchsetzt von sozialem Engagement. Er ist sicher ein guter Allgemeinmediziner, halb Twitter ist offenkundig Kundschaft seines Gesundheitszentrums, lerne ich, und wird das mutmaßlich bestätigen. Als Politiker aber ist er noch Student auf dem Level erster Sezierkurs.

"Ich möchte Teil der Lösung werden," antwortet er in auf die Frage, warum er sich zum Gesundheitsminister berufen fühlt. Auch sonst, eine Blumenwiese an Beliebigkeit, keine Biene, die sticht, nicht einmal eine Mücke. Als Mückstein bereits designiert war, hatte der Kanzler entschieden, Österreich Mitte Mai zu öffnen. Einfach so, im Alleingang. Er hat den neuen Gesundheitsminister nicht um Rat gefragt, nicht um seine Zustimmung gebeten, er hat nicht einmal angerufen. Er werde sich jetzt erst einmal "orientieren", reagierte Mückstein auf den offensichtlichen Affront.

Nach vorne ziehen und dann einfach nach hinten schnalzen lassen
Nach vorne ziehen und dann einfach nach hinten schnalzen lassen
Helmut Graf

Es wäre auch anders gegangen, er hätte so antworten können. "Ja, es stimmt, ich bin kein gelernter Politiker, aber ich bin Arzt und deswegen wohl in die Regierung geholt worden, besser spät als nie. Wie Sie wissen, haben wir seit einem Jahr eine Pandemie, es kann nicht schaden, jemanden in Verantwortung zu haben, der Arterien von Venen unterscheiden kann. Ich war jetzt auf meiner ersten Regierungsklausur und habe die anderen Minister kennengelernt, keiner hat sich mir als Mediziner vorgestellt. Nicht der Kanzler, nicht der Vizekanzler, nicht der Arbeitsminister. Ich bin also offenbar der einzige Arzt in der Regierung und als solcher sage ich: Ich finde es richtig, dass über Öffnungen nachgedacht wird. Aber ich werde Österreich nicht in ein Desaster führen. Auf Basis von Daten und Überlegungen werde ich mich mit meinen Regierungskollegen beraten und dann werde ich die Entscheidung treffen, was zu geschehen hat. Nicht der Kanzler, nicht der Vizekanzler, nicht der Seilbahnchef von Ischgl und nicht der Fremdenverkehrsobmann von Lahnenberg, nein, ich in meiner Funktion als Gesundheitsminister. Punkt."

Ich weiß nicht, was Mückstein vergangene Woche getan hat. Er wurde Montag als Gesundheitsminister ausgewählt, am Dienstag designiert, aber erst am darauffolgenden Montag angelobt. Er hätte sich in dieser Zeit aufs Amt vorbereitet müssen. Mit einem Team an der Seite, auch Medienprofis, einem Redenschreiber. Wenn er um 3 Uhr früh geweckt wird, dann muss er jetzt die Zahl der freien Chirurgiebetten im Landeskrankenhaus Rottenmann auswendig aufsagen können. So aber sitzt er da und als ihn Armin Wolf auf das Zahlen-Wirrwarr anredet, das seit einem Jahr im Gesundheitsministerium herrscht, verspricht er, sich "das anzuschauen".

Habe ich schon erwähnt, dass der Faustgruß ein bisschen infantil ausschaut?
Habe ich schon erwähnt, dass der Faustgruß ein bisschen infantil ausschaut?
Helmut Graf
Oder habe ich noch nicht erwähnt, dass der Faustgruß ein bisschen infantil ausschaut?
Oder habe ich noch nicht erwähnt, dass der Faustgruß ein bisschen infantil ausschaut?
Helmut Graf

Im Parlament war das am Mittwoch nicht anders. Mückstein hatte sich auf ein paar Zetteln Notizen gemacht, will aber frei reden, stellt sich erneut mit Namen vor, sagt, dass er praktischer Arzt sei und zwei Töchter habe, er wirkt wie ein Besucher im Nationalrat, nicht wie einer, der gekommen ist, um zu bleiben. Er behält die Maske auch bei seiner Rede auf, vom Anzug, den eine Freundin via Click and Collect gekauft hat, trägt er nur mehr das Sakko, die Hose muss er irgendwo am Weg verloren haben. Eine Jeans tut es auch, dazu kombiniert er die Sneakers von "New Balance" von der Angelobung. Die neuen, alten Turnschuhe sind das einzige, das haften bleibt von diesem Tag.

Ach ja, weil ich das wieder im Parlament haufenweise gesehen habe. Zu den albernsten Hervorbringungen der Coronazeit gehört der Fist bump. Wir sind keine kleinen Kinder mehr, bitte abstellen! Danke!

Der Faustgruß blieb, aber vieles andere wurde verabschiedet und das in Höchstgeschwindigkeit. Das hatte seine Gründe.

Zum Hören: Das 2. Corona-Tagebuch

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