Tagebuch einer Pandemie

Corona-Kopfnüsse 2021, Kapitel 7: Jetzt fallen alle Masken

Österreich sperrt auf: Der "Öffnungskanzler" geht auf ein Mineralwasser ins Schweizerhaus, der Gesundheitsminister baut Luftschlösser. Beide nennen das "Eigenverantwortung".

Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Wolfgang Kofler
Newsflix Kopfnüsse
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26. April 2021 Eine Öffnung mit göttlichem Beistand
Die Regierung schwenkt um. Die große Öffnung wird eingeleitet, das neue Zauberwort heißt Eigenverantwortung.

Eine Stimmung ist das, fast wie bei der Aufhebung der Prohibition damals. Ein ganzes Land im Freudentaumel, überall Umarmungen, via Zoom halt. Hoteliers räumen die Besenkammern frei, weil die Zimmer unter der Buchungslast knapp werden. Die Gastwirte überlegen, die Tische zu stapeln und die ersten Schnitzel eventuell nicht zu verkaufen, sondern zu versteigern. Es ist als hätten wir ein Jahr lang unter Hunger und Durst leiden müssen, jetzt bekommen wir wieder feste und flüssige Nahrung vorgesetzt und deshalb will jeder am 19. Mai einen Tisch in einem Restaurant haben, Kosten egal, Hauptsache 19. Mai. Nicht 20. Mai, schon gar nicht 21. Mai. Wer bei der großen Öffnung am Tag X nicht dabei ist, der hat 2021 nicht gelebt.

Ich freue mich schon auf die vielen Instagram-Postings, auf denen Menschen zu sehen sind, die ihren Kopf zwischen Handykamera und Teller pressen konnten. Auf die glücklichen Gesichter der Society, die nun nicht mehr nach Dubai fliegen muss, um Spaß zu haben, sondern die sich jetzt in angesagten City-Lokalen wegsprengen kann. Die wirklichen und die unwirklichen Größen der Gesellschaft werden beiläufig erwähnen, wie wenig Mühe es sie gekostet hat, einen Tisch im hippen Lokal zu ergattern, man wisse wie schwierig das sei, aber der Wirt sei sich ihrer Prominenz durchaus bewusst und zudem ein guter Freund, auch wenn er noch nichts davon weiß.

Viele werden ihre von der Krise geschundenen Leiber auch in Wellnesshotels tragen und versuchen, sie durch Thermalwasser notdürftig reparieren zu lassen. Wem das nicht genügt, der kann vor Ort die Hilfe von Vertretern körpernaher Dienstleistungen in Anspruch nehmen, das ist nun wieder erlaubt. Die Masseure und die Badwaschln, die Kellner in den Lokalen und die Zimmermädchen in den Hotels werden größtenteils noch nicht geimpft sein, aber zum Wesen des Lebens gehört dazu, dass es lebensgefährlich ist. "Jeder kann sich schützen, das ist auch eine Frage des Wollens," sagte der Kanzler am Wochenende und da war es wieder, dieses Geheimelixier Eigenverantwortung, damit werden wir jetzt literweise übergossen.

Die Gastro öffnet, aber niemand strudelt sich darüber mehr ab als Elisabeth Köstinger
Die Gastro öffnet, aber niemand strudelt sich darüber mehr ab als Elisabeth Köstinger
Helmut Graf

Die Muttergottes der Öffnung ist Elisabeth Köstinger, man müsste sie eigentlich auf Plakate drucken, so wie früher Waschmittel-Madonna Klementine von Ariel. Bei der Pressekonferenz am Freitag im Weltmuseum trat Köstinger nicht nur auf, sondern sie zerbarst buchstäblich vor Freude und das lag wohl nicht allein daran, dass sie eine zusätzliche Aufgabe für sich an Land gezogen hatte. Sie stellte sich nämlich als "Gastronomieministerin" vor. Endlich erhalten Speis und Trank im Land jene Wertschätzung, die ihnen jahrzehntelang vorenthalten worden war, ein eigenes Ministerium. Wenn es Brösel gibt, wissen die Schnitzel nun, wem sie an die Panier gehen können.

"Es geht wieder auf", frohlockte Köstinger und strahlte über das ganze Gesicht, die Wände des Museums hallten ihren kärntnerischen Dialekt wider. "Behutsam" werde die Öffnung sein, versprach die Muttergottes der Gastronomie. Ich denke, Österreich wird Österreich so behutsam öffnen wie Konzertveranstalter die Stadiontore, wenn Iron Maiden in Wien spielt und Tausende aufs Feld laufen wollen, um Plätze in der Front Row zu ergattern.

Ich verstehe das, ich wünsche mir wie alle im Land ein normales Leben zurück. Ich bitte gleich jetzt um Vergebung, dass ich nicht unter den Ersten sein werde, die in Lokale oder Hotels stürmen. Ich bin recht scheu geworden in dem einen Jahr Pandemie, ich fremdle mit Menschen, nicht wenige haben mich enttäuscht, auch einige Unternehmen, die sehen mich so schnell nicht wieder, Krisen legen auch Charaktere offen. Ich muss mir manchmal auch eingestehen, dass ich Menschenmassen jetzt noch unangenehmer entgegentrete als vor Corona, dabei sind jetzt noch viel weniger Leute auf der Straße als damals, als der ganze Irrsinn begann, viel weniger.

Die Eröffnung im Prater war mit Abstand die beste seit Jahren
Die Eröffnung im Prater war mit Abstand die beste seit Jahren
Helmut Graf

Schon 40 Prozent aller Patienten auf den Intensivstationen sind unter 65. Wenn alles aufsperrt am 19. Mai, unserem Tag des virologischen Mauerfalls, dann wird es in der Altersgruppe unter 50 noch sehr wenige geben, die einen Erststich haben. Das sind aber die Menschen, die gemeinsam in den Öffis in die Arbeit fahren, die Busse herumkutschieren, die im Geschäft 15 Dekagramm Extrawurst über die Theke reichen, die unseren Wasserhahn reparieren, die uns die neuen Smartphones verkaufen. Kurz, die Kaste, die unser Wirtschaftsleben am Laufen hält, ist gleichzeitig die Kaste der Ungeimpften. Riskant das ist!

Politisch verstehe ich das alles. Sebastian Kurz will als "Öffnungskanzler" in die Zeitgeschichte eingehen, nicht als Pandemiehysteriker, als Impfschlumpf oder als Hasenfuß, der uns vom richtigen Leben abhält. "Öffnungskanzler", das ist es, diesen Titel will er sich nicht streitig machen lassen, schon gar nicht vom neuen Gesundheitsminister, dessen Beitrag zu den Entwicklungen bisher bescheiden blieb, wenn er denn überhaupt vorhanden sein mag.

Wenn ich den so anschau´, geh mir irgendwie fast der Rudolf Anschober ab
Wenn ich den so anschau´, geh mir irgendwie fast der Rudolf Anschober ab
Helmut Graf

Die Experten, hätten grünes Licht für eine Öffnung gegeben, das vermittelte Kurz im Weltmuseum. Aber alle Fachleute, die ich seither gehört habe, klangen deutlich skeptischer.

Ich bin ein großer Verfechter der Schulöffnungen, wenngleich ich es für grob fahrlässig halte, was dort an möglichen Schutzmaßnahmen im letzten Jahr eben nicht durchgeführt wurde. Selbstverständlich werden jetzt vermehrt Infektionen in Schulen stattfinden und die Kinder werden das in die Haushalte heimtragen. Die Tests, von denen man jetzt weiß, dass sie nur 20 Prozent der Infizierten erkennen (und die vielerorts immer noch im Umlauf bleiben), werden das nicht verhindern. Es ist schon so, dass die meisten Ansteckungen im privaten Bereich passieren, aber deshalb kommt Corona nicht durch den Briefschlitz oder die Steckdose ins Haus, sondern wird von irgendwem in die eigenen vier Wände getragen. Und dafür gibt es nun ein paar Chancen mehr.

Ich weiß jetzt nicht genau, wofür sie die Leiter braucht, aber vielleicht will sie hoch hinaus
Ich weiß jetzt nicht genau, wofür sie die Leiter braucht, aber vielleicht will sie hoch hinaus
Helmut Graf

10. Mai 2021 Mückstein und die vier Stangen Zigaretten
Endlich geht es mit den Impfungen voran und Österreich hat einen neuen Helden, Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein.

Vielleicht geht es ja nur mir so, aber seit Wolfgang Mückstein da ist, läuft es im Land. Es flutscht. Alles. Ein Jahr Miselsucht, jetzt jeden Tag Sonnenschein. Wir hauen so viele Impfungen raus wie noch nie, am Freitag waren es 101.253. Schon jeder dritte Österreicher im impfbaren Alter hat einen Stich, vor einem Jahr hätte man für einen solchen Satz noch die öffentliche Auspeitschung riskiert.

Fast eine Million ist bereits vollimmunisiert. Wir haben so viel gutes Zeug im Land, dass wir AstraZeneca einlagern können und gar nicht mehr verimpfen müssen (außer als Zweistich). Vielleicht ist es wie beim Wein, in ein paar Jahren findet jemand die Phiolen, sagt sich "Aha, ein Astra 2021er", kippt sich die ganze Ladung runter und fährt dann nach Ischgl auf Urlaub, die Nibelungensage neu erzählt. Vor zwei Wochen hat die EU noch rechtliche Schritte gegen den britisch-schwedischen Hersteller eingebracht, weil er nicht die vereinbarten Mengen geliefert hatte. Jetzt vergammeln die Dosen in österreichischen Eisschränken.

Lokalrazzia im "Asia Paradies": Warum hat der Zapfhahn keine Maske auf?
Lokalrazzia im "Asia Paradies": Warum hat der Zapfhahn keine Maske auf?
Helmut Graf

Seltsame Zeiten sind das sowieso. Im Dezember haben wir uns darüber Sorgen gemacht, dass sich keiner impfen lässt. Ab Jänner dann, dass wir zu wenig Impfstoff geliefert bekommen für die Leute, die sich aber ohnehin nicht impfen lassen wollen. Jetzt trudelt so viel Impfstoff ein, dass wir zu den alten, gebrauchten Sorgen zurückkehren können und uns fragen müssen, ob wir genug Leute an die Nadel bringen. Auch so ein Satz mit einer haarigen Risikoprognose vor nicht allzu langer Zeit.

Das alles verdanken wir natürlich einzig und allein Wolfgang Mückstein, eben noch gescholten, nun der neue Gesundheitsminister der Herzen. Ein Jahr lang hat Rudolf Anschober fast jeden Tag mindestens eine Pressekonferenz gegeben, alles für nix. Oft kam er nach Werner Kogler dran, da ist man schneller im Burnout als man glaubt. Glücklicherweise genoss Anschober die volle Unterstützung von Sebastian Kurz und des Kanzlerteams, es muss schön gewesen sein, unter diesen Bedingungen dem Land dienen zu dürfen.

Dieses Glück hat Anschober nun privatisiert, vermutlich sitzt er daheim am Fenster, tätschelt seinen Hund und schaut den Leuten auf der Straße zu, wie sie unter Jubelgejauchze und mit aufgekrempelten Ärmeln in die Impfzentren rennen, die er auf den Weg gebracht hat, oder sagen wir zumindest nicht verhindert. Nun hat er nichts mehr damit zu tun. In den Geschichtsbüchern wird viel stehen über seine Misserfolge und noch viel mehr über die Erfolge seines Nachfolgers, der gar nichts dafür leisten muss und das eisern einhält. Ich habe nie behauptet, dass die Welt gerecht ist, gerächt hat sie sich oft schneller an einem.

Komische Leute habt ihr euch zur Eröffnung ins Votivkino eingeladen
Komische Leute habt ihr euch zur Eröffnung ins Votivkino eingeladen
Sabine Hertel

Vielleicht ist es ein Trost für Anschober, aber selbst Kurz wird nicht als Erretter aus der Pandemie in Erinnerung bleiben, auch wenn er sich weiter sehr um diesen Titel bemüht. Irgendwann im Juni vielleicht wird Mückstein einen Schlüsselbund klauen, sich heimlich ins Belvedere einschleichen, sich allein auf den Balkon stellen und in den Garten hinaus "Österreich ist coronafrei" rufen. Die Rosen und die Tulpen werden anerkennend nicken, die Nelken werden sich zu ihnen neigen und schmallippig fragen: "Wer waren noch einmal die Leute, die wir als virologisches Quartett das ganze letzte Jahr im Fernsehen gesehen haben?" Die Bienen werden einen Lachkrampf bekommen, dass der Nektar nur so aus ihren Rüsseln spritzt und den ganzen Rasen verklebt.

Heute Montag präsentiert der Kanzler die Details der Öffnungsverordnung. Mückstein darf dabei sein, zum EU-Gipfel Ende letzter Woche in Portugal hatte ihn Kurz nicht mitgenommen. Was sollte ein Sozialminister schließlich auf einem Sozialgipfel verloren haben? Vielleicht bekommen wir heute auch eine Einschätzung, wie lange uns die Pandemie noch plagen wird. Für Mückstein wüsste ich eine Antwort. Er könnte sich hinstellen und sagen: "Ich denke, sie wird noch so drei bis vier Stangen Zigaretten dauern". Das wäre sehr volksnah. Meine E-Card bekäme er dafür.

Heute habe ich mir für euch extra meine Adiletten angezogen
Heute habe ich mir für euch extra meine Adiletten angezogen
Helmut Graf

24. Mai 2021 Wie Kurz im Schweizerhaus paniert wurde
Österreich öffnet sich. Gastro (mit Sperrstunde 22 Uhr), Tourismus, Sport- und Kulturstätten, alles durfte mit 19 Mai öffnen. In den Schulen gibt es wieder Präsenzunterricht. FFP2-Maske ist Pflicht, der "3-G-Nachweis" (genesen, geimpft, getestet) ebenfalls.

Die Regierungsspitze rockte das Schweizerhaus im Prater, es galt, dem Tag der Öffnung ein Gesicht zu geben, eines vor allem, nicht mehrere wohlgemerkt. Vielleicht hatte Sebastian Kurz aber auch nur ein paar Schnitzelgutscheine übrig, die dringend eingelöst werden mussten. Das Schweizerhaus ist eines jener Lokale, von dem Bürgerliche glauben, da gehen hauptsächlich einfache Leute hin und deshalb wird es aus rätselhaften Gründen immer wieder zum Zweck politischer Propaganda benutzt. Die nackte Portion Stelze kostet allerdings 20,50 Euro, Senf und Kren sind extra zu bezahlen, ein Krügerl Budweiser kommt auf 4,90 Euro. Das sind Preise, da geht sich bei den einfachen Leuten dann für den Rest des Monats keine Häkeldecke aus dem Goldenen Quartier mehr aus.

Sebastian Kurz nahm Vizekanzler Werner Kogler mit, aus dem eigenen Fuhrpark Elisabeth Köstinger, ministerielle Muße für alle leiblichen Genüsse, dazu Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer, die sonst ja nur wenig unter die Leute kommt. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein wurde nicht zu Tisch gebeten und das sollte sich noch rächen.

So schaut das aus, wenn ein Kanzler auf ein Wiener Schnitzel geht
So schaut das aus, wenn ein Kanzler auf ein Wiener Schnitzel geht
Helmut Graf

Wie bei allen Veranstaltungen, die zu den einfachen Leuten führen, ist die richtige Kleiderwahl ein Thema, im Biergarten darf es nicht zu hochgestochen sein, aber einen Kanzler, der schlampert daherkommt, mögen die Leute auch nicht. Kurz entschied sich also für Jeans und das wohl älteste Sakko im Kleiderkasten, es war in einem Art Grauton gehalten. Vielleicht hatte sich der Kanzler am Hinweg in der Prater Hauptallee auch noch zusätzlich in einer Wasserlacke gewälzt, wenn man zu den einfachen Leuten geht, ist es gut, wenn man erdig wirkt.

Es wurde kein einfacher Termin bei den einfachen Leuten, so viel kann gesagt werden. Die ÖVP hatte vorab angekündigt, wo sie den Tag der Befreiung zu begehen gedenke. Kurz wollte möglichst viele Menschen an seinem Glück teilhaben lassen, das ja untrennbar auch mit unserem Glück verknüpft ist. Reporter sollten die Bilder eines bestens gelaunten "Öffnungskanzlers" in die Welt hinaustragen, am ersten Tag der Auferstehung endgeil auf einen gegrillten Schweineunterschenkel. Zum Essen bestellte Kurz dann lieber Backhendl und trank Mineralwasser dazu, hätte sich die Begleitung des Kanzlers nicht aufgeopfert, die Schweineunterschenkel wären umsonst amputiert worden. Wie gesagt, das Schweizerhaus war eine mittelgute Wahl.

Im Schweizerhaus ist das jetzt keine naheliegende Panik
Im Schweizerhaus ist das jetzt keine naheliegende Panik
Helmut Graf

Das lag auch daran, dass die FPÖ aus reiner Höflichkeit ein paar Leute vorbeischickte. Deshalb wurde dem Kanzler im Schweizerhaus nicht nur Applaus zuteil, es gab einige Buhrufe, ein paar Pöbler schrien "Verräter" und "Betrüger", in mehreren TV-Sendern, die das Stelzen-Woodstock live übertrugen, war das gut zu hören. Ich denke, in der Kanzleramts-Abteilung für die Verbreitung kontrollierter Nachrichten wurden über Pfingsten ein paar Strafausätze aufgegeben. Thema: „Was bei Presseterminen des Kanzlers entbehrlich ist".

Die Entbehrlichkeiten nahmen aber kein Ende und das lag an Wolfgang Mückstein, der am Pfingstsamstag Ungeheuerliches wagte und dem Kanzler in die Parade radelte. Am kommenden Freitag will sich die Regierung bekanntlich mit den Landeshauptleuten über weitere Öffnungsschritte beraten. Nicht am 1. Juli, sondern schon rund um den 17. Juni herum soll es neue Freiheiten geben. Die Landeshauptleute drängen vor allem auf Erleichterungen in Hotellerie und Gastronomie und meinen damit nicht den Gang zur Toilette.

Warum zeigt Staatssekretärin Andrea Mayer dem Kanzler die Zunge?
Warum zeigt Staatssekretärin Andrea Mayer dem Kanzler die Zunge?
Helmut Graf

In seiner jugendlichen Ungestümtheit wollte Sebastian Kurz nicht so lange warten und begann, ab Donnerstag die neuen, alten Freiheiten zitzerlweise vorzuversprechen. Er kündigte auch ein nahes Ende der Maskenpflicht an, nicht überall, aber da und dort, Kurz füllt die Rolle des "Öffnungskanzlers" mit immer mehr Leben aus. Am Freitag dann besuchte er Tirol, unser Pandemie-Schaukasterl für die Welt, und legte noch einmal nach, auch von den Abstandsregeln werde man bald Abstand nehmen, sagte er.

Der neue Gesundheitsminister empfand das als Übermaß an Fremdbestimmtheit. Wütend sei er nicht geworden, sagt sein Umfeld, aber schon erstaunt gewesen, gut er hat auch noch nicht so lange mit dem türkisen Teil der beiden besten Welten zu tun. Mückstein nutzte zwei länger vereinbarte Interviews, um dem Kanzler auszurichten, was er von den Vorhaben hält, die als Vorschläge daherkamen, nämlich nicht viel, in sieben Tweets erklärte er sich danach näher. "Mit mir gibt es keine Luftschlösser", schrieb er, offenbar in Unkenntnis des Regierungsprogrammes, Kurz solle nicht mit "unkonkreten Ankündigungen die Bevölkerung verunsichern", ich fürchte mich eher vor den konkreten. Masken werde man wohl noch bis Winter brauchen. Wir merken: Von der Ordination in die Insubordination ist es oft nur ein kurzer Weg.

Bundeskanzler Sebastian Kurz schafft es, Bier in Bier zu verwandeln
Bundeskanzler Sebastian Kurz schafft es, Bier in Bier zu verwandeln
Helmut Graf

Es war mehr ein Hinpratzeln als ein Prankenhieb, aber in der ÖVP rang man trotzdem nach Atem. So direkt war noch kein Grüner in der Regierung den Kanzler angesprungen und das noch dazu mit ziemlicher Geschmeidigkeit. Wer genauer hinsah, bemerkte: Mückstein griff nicht, wie Vorgänger Rudolf Anschober, auf den Rat von Experten zurück, sondern er beriet sich mit sich selbst und strich dann seine berufliche Kompetenz hervor. Es sei "meine Aufgabe als Gesundheitsminister und Arzt... die Sicherheit der Menschen in Österreich zu gewährleisten". Was er vermitteln wollte: Er ist der Medizinmann (nicht Kurz), die Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung sein Job (und nicht der des Kanzlers). Rums!

Der türkise Teil der besten beiden Welten schickte Elisabeth Köstinger los, um den Gesundheitsminister am Stethoskop zu packen. Die Tourismusministerin tat dies über den Umweg der Verwunderung. "Die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten ist kein Selbstzweck", schrieb sie auf Twitter. Klubobmann August Wöginger ergänzte am Tag darauf, Grund- und Freiheitsrechte dürften "niemals Luftschlösser" sein. Wenn sich die ÖVP, die uns ein Jahr lang schwedische Gardinen ins Wohnzimmer gehängt hat, jetzt zur Verteidigerin unserer "Grund- und Freiheitsrechte" aufschwingt, wird es langsam unübersichtlich im Land.

Wo sich im Sacher die Tortenecken überall verstecken
Wo sich im Sacher die Tortenecken überall verstecken
Helmut Graf

27. Mai 2021 Die Regierung investiert in Luftschlösser
Die Öffnungen schreiten voran, jetzt kann es gar nicht schnell genug gehen. Kanzler und Gesundheitsminister liefern sich ein Duell auf Hühneraugenhöhe.

Beim Reden kommen die Leute zusammen, heißt es. Vielleicht würde das auch mit Schweigen funktionieren, aber leider hat das in der Politik noch niemand ausprobiert. So könnte eine Aktuelle Schweigestunde im Nationalrat Wunder wirken, eine parlamentarische Schweigeanfrage könnte mit vollkommenem Stillschweigen beantwortet werden und der Unterschied fiele gar nicht so sehr auf. Am besten wäre ein Schweige-U-Ausschuss. Zeugen, die nicht aussagen wollen, werden nicht beschimpft, sondern man zieht den Hut vor ihnen. So ein Fall würde natürlich auch nie vor Gericht landen. Man könnte viel Zeit sparen, die man gut in Schweigen investieren könnte.

Vor gut 25 Jahren durfte ich ein Interview mit Harald Schmidt führen. Ich flog extra nach Köln, kam wegen eines Staus auf der Autobahn eine Stunde zu spät ins Dom-Café, Schmidt verlor kein Wort darüber. Wir gingen zum WDR in der Nähe, er moderierte dort eine etwas einfältige Quizshow, nicht gedacht für die Geschichtsbücher, wir beide breiteten den Mantel des Schweigens darüber. Schmidt war damals noch mittelbekannt, aber sein Mundwerk und seine Schlagfertigkeit waren mir aufgefallen. Also fragte ich ihn, warum er keine Talkshow moderiere. Seine Replik: "Weil mich die Antworten der Gäste nicht interessieren".

Die Fitnessclubs öffnen, aber manche Geräte sind im Homeoffice
Die Fitnessclubs öffnen, aber manche Geräte sind im Homeoffice
Helmut Graf

Man muss sagen, dass sich Schmidt in der Folge leicht umorientiert hat. Er führte, mit Unterbrechungen, 19 Jahre lang durch eine sehr unterhaltsame Late-Night-Show. Mir aber blieb der Satz im Gedächtnis haften, denn vielleicht liegt darin einer der Gründe verborgen, warum die Politik heute so ist wie sie ist. Keiner hört dem anderen mehr zu, weil ihn die Antworten des Gegenübers nicht interessieren. Wir durften das dieser Tage miterleben, als der Kanzler und der Gesundheitsminister aneinander vorbeiredeten, ehe sich herausstellte, dass beide das Gleiche wollen, vielleicht aber auch nicht.

Wie alle großen Missverständnisse, begann auch dieses große Missverständnis mit einem kleinen Missverständnis. Am letzten Mittwoch musste die Regierungsspitze zur "Aktuellen Stunde" ins Parlament, die da noch nicht Aktuelle Schweigestunde hieß. Die Neos wollten Details über den wirtschaftlichen Neustart nach der Pandemie erfahren, es blieben grobe Schürfarbeiten. Nach einem schnellen Ministerrat traf sich um etwa 10.30 Uhr eine kleine Runde im Kanzleramt, sechs Personen alles in allem. Neben Sebastian Kurz, Werner Kogler und Wolfgang Mückstein waren auch die drei Kabinettschefs zugegen, es ging darum, weitere Lockerungen zu besprechen. Die aktuellen Öffnungsschritte galten da gerade einmal zehn Stunden, der Beton unter ihren Füßen war noch feucht.

An die Details der Unterredung herrschen unterschiedliche Erinnerungen, wenn zwei Welten aufeinandertreffen, führt das nicht immer automatisch zur Verschmelzung, man kennt das von "Raumschiff Enterprise". Ehe sich die Grünen wegbeamten, versprachen sie, am nächsten Tag ein Konzept für weitere Lockerungen zu liefern und damit war das Missverständnis schon angerichtet. Denn wer hatte nun tatsächlich die Idee, was als nächstes geöffnet wird? Die ÖVP, die am Mittwoch Raum und Gedanken stellte? Oder die Grünen, die am nächsten Tagen tatsächlich einen Entwurf ans Kanzleramt schickten? Wohl beide. Oder keiner.

Staatsopern-Direktor Bogdan Roscic zeigt vor ...
Staatsopern-Direktor Bogdan Roscic zeigt vor ...
Helmut Graf
... wie man am besten Werner Kogler erschreckt
... wie man am besten Werner Kogler erschreckt
Helmut Graf

An einem normalen Mittwoch hätten sich der Kanzler und der Vizekanzler einfach ausgesprochen. Die beiden nehmen jede Woche nach dem Ministerrat ein gemeinsames Mittagsmahl ein, das aber fiel diesmal ins Wasser, oder besser ins Schweizerhaus. Wir erinnern uns: Es war der Tag der Öffnung und die Gelegenheit für allerlei Frohlockungen ergab sich damit automatisch. Der Öffnungsplan blieb dabei auf der Strecke. Über die Inhalte war eigentlich Stillschweigen vereinbart worden, aber ich habe ja schon eingangs erwähnt, dass es in der Politik selten vorkommt, dass nichts gesagt wird, selbst in Fällen, in denen nichts gesagt wird, ist das so.

Am nächsten Tag sagte der Kanzler dann tatsächlich nichts, außer vielleicht dass er sich eine Lockerung bei der Maskenpflicht vorstellen könne. Am Freitag fuhr er nach Tirol und sein Schweigen wurde auf eine ernste Probe gestellt. Die Tiroler Schützen hatten nämlich einen offenen Brief verfasst, den sie Kurz überreichten und ich muss sagen, der Kanzler hat Glück gehabt, dass ihm nicht die Gewehrsalven um die Ohren pfiffen. "Bei allem Verständnis zur Bekämpfung der Pandemie", schrieb Landeskommandant Major Thomas Saurer säuerlich, seien der 2-Meter-Abstand im Freien und die Maskenpflicht zu kritisieren. "Das macht ein Ausrücken – in militärischer Formation ­ – unmöglich. Das Abfeuern von Ehrensalven ebenso, schließlich stellt die Schutzmaske durch Sichtbeeinträchtigung und Ablenkung ein Sicherheitsrisiko dar."

Man kann also unumwunden behaupten: Die nächste Verordnung des Gesundheitsministers wird nicht in Verhandlungen erarbeitet, sondern sie wird herbeigeschossen. Wer kann es einem Kanzler in Not verdenken, dass er sich an Ort und Stelle dazu äußern musste, um nicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie die Franzosen in der dritten Bergiselschlacht? Kurz sprach sich also, im Angesicht der Bedrohung durch – wenn auch sichtbehinderte – Tiroler Schützen für rasche Öffnungen aus, aber mit Augenmaß. Die Aussagen waren von einer gewissen Unerheblichkeit, in "Tirol Heute" schaffte es die Botschaft nur in den Meldungsblock. Aber dann berichtete die Austria Presse Agentur darüber und in Wien, wo man die Tiroler nicht nur akustisch nicht versteht, kam ein Grollen auf.

Wo kriegt eigentlich ein Schirmherr einen Schirm her?
Wo kriegt eigentlich ein Schirmherr einen Schirm her?
Helmut Graf

Wolfgang Mückstein, der neue Andreas Hofer des Gesundheitsministeriums, witterte Hochverrat. In zwei Interviews unterstellte er dem Kanzler, Luftschlösser zu bauen, bezeichnete dessen Aussagen als "entbehrlich" und erweckte den Eindruck, neue Lockerungen mit großer Sorge zu sehen. Die Tiroler Schützen luden durch, obwohl sie immer noch schlecht sahen, aber das machte sie doppelt gefährlich.

In dieser für das gesamte Land hochbrisanten Situation, entschloss sich der Gesundheitsminister am Montag zu einem waghalsigen Befreiungsschlag. Das büßte vor allem ZiB 2-Moderator Martin Thür, der Mückstein zum Interview geladen hatte und mit allem rechnete, nur nicht mit Antworten. Der Gesundheitsminister aber legte überraschend den gesamten Öffnungsplan der Regierung offen, bestand darauf, die kritisierten Luftschlösser selbst gebaut zu haben und unterbot den Kanzler in der Datierung der nächsten Öffnungsschritte um eine ganze Woche. Statt am 17. Juni soll es schon am 10. Juni losgehen. Thür suchte in seinen Unterlagen nach den Fragen, die Mückstein schon unaufgefordert beantwortet hatte. In Österreich wird immer mit den seltsamsten Ereignissen Geschichte geschrieben.

Die Tiroler Schützen wussten nicht mehr, wohin sie schießen sollten. Es war ihnen nun ganz recht, sich auf eine Sichtbehinderung ausreden zu können. Die ZiB 2-Seher hatten dieses Glück nicht, auf sie kam Mückstein wie eine Kanonenkugel zugerast. Eben noch galt der Minister als Rebell, der dem Kanzler in der Seeschlacht die Stirn geboten und zu Vorsicht gemahnt hatte, nun gab er den Kapitän, der das Schiff gar nicht schnell genug aufs offene Meer hinaussteuern wollte, man wusste nur nicht, ob sich um die Titanic, die Bounty oder die Black Pearl handelte.

Größ Gott: Heinz Faßmann taucht jedenfalls früher auf als Musikuni-Rektorin Ulrike Sych
Größ Gott: Heinz Faßmann taucht jedenfalls früher auf als Musikuni-Rektorin Ulrike Sych
Helmut Graf

Der Kanzler auch nicht, er hatte zwei Stunden zuvor noch vom 17. Juni als Tag der Öffnung gesprochen. Nun aber dachte er sich, besser an Bord von irgendwas als ganz an Land zurückgelassen. Er versuchte sich zu erinnern, was er mit den Grünen ausgehandelt hatte und die Grünen, was sie mit dem Kanzler vereinbart hatten. Twitter hatte inzwischen zur Heiterkeit zurückgefunden. "Hin und wieder vermisse ich die Zeiten, wo Clemens Martin Auer das Land ruhig und sicher durch die Krise geführt hat", schrieb Manfred Schmid, Innenpolitiker bei ATV. "Jetzt wird sich das Virus bald fürchten, dass es sich mit Österreich ansteckt", mengte ich mich ein. Wir hatten einen schönen Abend auf der Titanic. Oder Bounty. Oder Black Pearl. Es wird nicht der letzte in diesem Land gewesen sein, vermute ich, so wie ich die Politik kenne.

So kam es dann auch. Österreich öffnete, die Pandemie schien überwunden. Leider hat das der Pandemie niemand gesagt.

Zum Hören: Das 2. Corona-Tagebuch

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