Tagebuch einer Pandemie
Corona-Kopfnüsse 2021, Kapitel 8: Hinein in die Welle
Das Finale der zweiten Staffel, als Text und Podcast. Kurz kehrt zurück, die Pandemie auch. Und Nehammer nimmt Kickl das Du-Wort weg, "das wir gegenseitig gern gepflegt haben". Dazu: Koglers Frisur, die Inflation. Und Rasenmäher.
23. August 2021 Er ist wieder da
Österreich verlebt einen weitgehend sorglosen Sommer, das sollte sich rächen, aber nicht sofort. Vorab geht die Sonne auf, der Kanzler kehrt wieder.
Jetzt wird alles wieder gut. Der Kanzler ist zurück im Land. Mitte der vergangenen Woche muss er sich vom Süden aus nach Österreich durchgeschlagen haben. Es wird ordentlich scheppern im Innenministerium, wenn Karl Nehammer zu Ohren kommt, dass die Balkanroute gar nicht so geschlossen ist, wie er immer vermutet hat. Sogar ein von einer Vorstrafe Bedrohter kann offenbar mir nichts, dir nichts einreisen ins Land.
Nach seiner überstürzten Flucht vom Balkan suchte Sebastian Kurz vorübergehend Schutz in Klagenfurt, vielleicht hatte er aber auch nur die Umweltministerin falsch verstanden und dachte, er muss nach Einführung des Klimatickets den Rest des Weges zu Fuß nach Wien gehen. Ehe sich der Kanzler Richtung Norden aufmachte, kehrte er ins "Schweizerhaus" ein, ja, das gibt es auch in Klagenfurt, die Hausempfehlung "Gegrillte Polentascheiben mit Tomaten-Zucchini-Ragout und Mozzarella überbacken" kostet 11,90 Euro, nur falls sie auch in der Gegend sind.
Wie es der Zufall so wollte, war jedenfalls Elisabeth Köstinger in der Region, sie hatte denselben Gedanken wie ihr Kanzler und suchte ebenfalls das "Schweizerhaus" auf. Oder heim. Gemeinsam überreichten die beiden dem Wirt irgendein Gütesiegel, die Zusammenkunft wurde bildlich von einem zufällig anwesenden Fotografen für die Nachwelt festhalten. Die türkis gestylte ÖVP ist immer dann am besten, wenn sie Möglichkeiten nutzt, die sie sich vorher selbst geschaffen hat.
Zu diesem Zeitpunkt wusste man schon, dass der Kanzler seinen heurigen Österreichurlaub in Kroatien verbracht hat, der "Kronen Zeitung" war ein diesbezügliches Beweisfoto in die Hände gefallen. Es zeigt Sebastian Kurz in Rovinj, er trägt Alois-Mock-Gedächtnisshorts aus denen Bleistiftbeine ragen, die nicht lange der Sonne unterstellt worden waren, sondern den Sommer eher in einem Buttermilchfass überdauert haben dürften. Der Kanzler grinst hinter Sonnenbrillen, er hat die Hand zärtlich auf den Bauch seiner schwangeren Lebenspartnerin gelegt, so als würde er der ganzen Welt demonstrieren wollen: "Do woar mei Leistung".
Das Bild ist sehr wunderbar komponiert, ein Fotograf fotografiert einen Fotografen, der gerade Kurz fotografiert, perfekt ausgesuchte Menschen gehen durchs Bild, ein schickes Boot schaukelt im Meer. Alles wirkt so als hätte man Quentin Tarantino die Inzenierung von "Fack ju Göhte 4" übertragen und der hätte die Hauptrolle mit Kurz besetzt. Ein Leserreporter will den Kanzler im Urlaub geknipst haben, zunächst sei ihm gar nicht aufgefallen, wen er da von der Linse hatte, erzählte er der "Krone". "Ich wollte eigentlich die schöne Altstadt fotografieren. Abends beim Bildersichten haben wir entdeckt, dass sich Kurz ebenfalls dort hat fotografieren lassen." Was man halt so macht im Istrienurlaub: Wenn es dunkel wird, schaut man die Dias des Tages auf dem Handy durch und faxt dann die besten in die Muthgasse nach Wien.
Die Bilder gaben aber auch Anlass zur Freude, denn Kurz sah wieder sehr rosig aus. Ehe sich der Kanzler in den Süden verfügen konnte, war er kränklich gewesen, es dürfte aber nichts Ernstes gewesen sein. Viele Männer kennen das aus ureigener Erfahrung, Unpässlichkeiten sind am Beginn von Schwangerschaften normal. Man hat Übelkeitsattacken, Hitzewallungen, die Hormone spielen verrückt. Manchen Beobachtern geht es mit der österreichischen Politik so und die erwarten gar kein Baby.
Sontagabend gab es den Kanzler dann gottlob auch wieder im Bewegtbild. Er holte das "Sommergespräch" auf Puls 4 nach, das er wegen der Speiberei drei Wochen davor absagen hatte müssen. Das Interview war bereits am Samstag aufgezeichnet worden, was sich als kluger Schachzug herausstellte, denn gestern Abend hätte der einsetzende Regen an Kurz eventuell die letzte Kroatienbräune abperlen lassen. Das Gespräch begann damit, dass der Kanzler Manuela Raidl post-coronaartig die Hand schüttelte und dann gemeinsam mit ihr einen rumpeligen Güterweg entlang spazierte, vielleicht wollte er damit auf die prekäre Lage des Straßenbaus im Weinviertel aufmerksam machen.
Kurz hatte sich Pulkau am Fuße des Manhartsberges als Platz fürs Interview ausgesucht, obwohl er, wie er zu Beginn bekannte, gar "kein spezielles Verhältnis zu Pulkau" am Fuße des Manhartsberges habe. Außer vielleicht, dass "10 Kilometer entfernt der Bauernhof seiner Oma" liege. "Mir geht’s gut", sagte er, er habe eine Sommergrippe gehabt, "nichts Tragisches". Im Urlaub sei er dann "zweimal essen" gewesen, was gar nicht viel ist für eine Woche, wie ich finde, dabei habe ihn "ein Journalist" – oder doch ein Leserreporter? – entdeckt. Aber "das ist in Ordnung". Die Frage blieb offen, was passieren hätte können, wenn das mit dem Foto nicht "in Ordnung" gewesen wäre. Das Bundesheer steht einem ja nicht überall zur Verfügung, vor allem nicht im Ausland.
So ging es dahin, den Güterweg entlang, im Hintergrund sah man Weinstöcke und recht viel Gegend, vielleicht war es auch eine Fototapete. Kurz, in ausgewaschenen Jeans aus dem Urlaubskoffer, redete über seine künftige Rolle als Vater. Ein Papamonat sei "sicher großartig, aber als Regierungschef leider nicht möglich". Er werde seine Freundin aber "in den ersten Tagen und Wochen bestmöglich unterstützen" (dann nicht mehr?). Weniger arbeiten würde er gern, aber "ich habe eine Tätigkeit, wo man sich das nur bedingt aussuchen kann". Zwischendurch warf er ein, dass er sein Privatleben gern privat halten wolle, Manuela Raidl nickte verständnisvoll – und bekam erst richtig Gusto.
Inzwischen waren elf Minuten vergangen, Kurz und Raidl mussten in der Gegend von Linz angekommen sein. Die Interviewerin interessierte sich nun für die Kleidung des Kanzlers („sie tragen immer dieselbe Anzughose“), seine Essgewohnheiten („viel ungesünder als ich kann man sich nicht ernähren“), seine schlanke Linie („da ist das Alter von 34 ein gewisser Vorteil“). Schließlich wollte sie wissen, warum er immer so akkurat frisiert sei und der Vizekanzler nicht. Da hob Sebastian Kurz die Stimme an und sagte einen Satz für die Ewigkeit: "Ob Kogler gerade frisiert ist oder nicht, ist mir ehrlich gesagt relativ wurscht".
Den Rest des Interviews vor einem Winzerhaus schaute ich mir nur mehr im Schnelldurchlauf an, alles, was mich interessierte, war schon gesagt. Die Botschaften, dass Kurz eher keine Afghanen ins Land lassen will, den Klimawandel lieber mit Technologie als mit Kasteiungen bekämpfen möchte und Corona doch noch nicht so fertig ist mit uns, wie die ÖVP zu Sommerbeginn auf Plakaten versprochen hatte, brachten mir keinerlei Erkenntnisgewinn mehr. Außer vielleicht, dass der Kanzler nun gelegentlich zur Patzigkeit neigt. Mehr jedenfalls als sein Wuschel-Vizekanzler.
1. September 2021 Nur 99,4 Prozent: Das Kanzler-Debakel
Die Infektionszahlen steigen, aber die Politik nimmt wenig Notiz davon, denn es gibt etwas zu feiern. Der Kanzler wird von seiner eigenen Partei wiedergewählt. Und wie!
Man muss sich Österreich im Gesamtbild als Nebenschauplatz vorstellen. Dieser Nebenschauplatz ist parzelliert in viele kleine Nebenschauplätze, die Stoß auf Stoß das Bundesgebiet ausmachen. Wenn man übers Land fliegt, dann sieht man von oben in Wahrheit keine Weizenfelder, sondern Äcker, auf denen Pflanzen wuchern, die klingende Namen wie Belanglos, Unerheblich oder Irrelevanz tragen. Alles ist bunt und schön, lockt Bienen wie Touristen an, es ist eine helle Freude, auch für mich. Ich würde gerne eine Sendung im Fernsehen gestalten, die etwa "Am Schauplatz Nebenschauplatz" heißt, vielleicht bei Arte.
Am Nebenschauplatz Österreich wird mit großer Leidenschaft über Nebenschauplatzsächlichkeiten debattiert und gestritten, in feineren Kreisen sagt man Diskurs dazu. Jeder hofft, sich mit seinen Argumenten vom Nebenschauplatz zum Hauptschauplatz durchzukämpfen, aber wenn er dann dort ist, merkt er, dass es wieder nur ein weiterer Nebenschauplatz ist. Weil sich alle auf den Nebenschauplätzen verausgaben, bleibt keine Zeit mehr, sich den bedeutsamen Dingen des Lebens zu widmen. Das wiederum hat die bedeutsamen Dinge des Lebens gekränkt und sie machen nun einen großen Bogen um Österreich. Das führt uns geradewegs nach St. Pölten.
In Niederösterreichs wundervoll-wundersamer Landeshauptstadt hielt die ÖVP am vergangenen Samstag ihren 39. Bundesparteitag ab, Sebastian Kurz wurde mit 99,4 Prozent wiedergewählt, auf Twitter entspann sich flink eine Debatte darüber, ob es sich nun um ein fulminantes Ergebnis handle, oder eher um ein Debakel, weil nicht alle Delegierten nach St. Pölten gereist waren, was ich verstehen kann. Es wurde gemutmaßt, dass sich die Rebellen ins Hinterland zurückgezogen hätten, um sich dort unter einem Stein zu verstecken, es liegen mir aber keine Belege dafür vor. Vielleicht gibt es auch gar keine Rebellen in der ÖVP, und wenn doch würde es auch nichts nutzen.
Am Stimmzettel jedenfalls stand nur Sebastian Kurz, soviel ist gewiss. Wer ihn wählen wollte, musste nicht mehr tun als zur richtigen Urne zu gehen und das Kuvert mit der Namenskarte einwerfen. Das schafften die meisten fehlerfrei, drei strichen den Namen des Kanzlers durch, vielleicht patzten sie auch einfach nur Senf auf den Zettel, von ihnen hat man seit dem Parteitag nichts mehr gehört. Der Senf kam schadlos davon, er kann weiter überall dazugegeben werden.
Wenn die ÖVP nicht nur Sebastian Kurz besäße, sondern auch Humor, dann hätte sie eine breitere Auswahl angeboten. Dann wäre da nicht nur Sebastian Kurz am Stimmzettel gestanden, vielleicht besser "unser Sebastian Kurz" oder sogar "unser lieber Sebastian Kurz", das hätte die Bindung zur Basis noch verstärkt. Als Gegenkandidaten hätte man "ned amoi dran denken" aufstellen können. Alle hätten feuchte Augen bekommen und den Kanzler noch mehr geliebt als sonst schon.
Inhaltlich wog der Parteitag leicht. Es gab einen Leitantrag, 20 Seiten dünn, ein aufgehübschtes Derivat des Regierungsprogrammes, eine Debatte darüber entfiel. Die SPÖ zerfleischt sich auf Parteitagen gegenseitig in Redebeiträgen, die ÖVP sagt "da gibt es ein Papierl, das braucht ihr nicht lesen, der Sebastian findet das gut. Gegenstimmen?"
Kurz redete zweimal. Einmal selbst, 30 Minuten lang, einmal durch Generalsekretär August "Gust" Wöginger, der in Umgangssprache das sagte, was der Kanzler sich eigentlich denkt, etwa über den Klimaschutz. "Der Pendler braucht das Auto, der Bauer den Traktor und der Unternehmer den Lastwagen sonst funktioniert’s nicht". Kurz nannte dasselbe später Klimaschutz "mit Hausverstand und Vernunft". Also eigentlich nicht wirklich. Man blickte in rotbackige Gesichter, die vor Freude übergingen über die Geschehnisse vor Ort. Der Feind lauerte draußen und er wurde benannt, die "Vereinigte Opposition von Österreich". Gemeint waren alle Parteien, auch der Regierungspartner. Wenn das kein klarer Beweis ist: Kein Grüner gratulierte Kurz nach den 99,4 Prozent per Twitter zur Wiederwahl. Mein Rat: Als bockige, alte Grantscherben werdet ihr dem Kanzler nichts beim Klimaschutz rausreißen.
Corona war in der Carnegie Hall St. Pölten ganz weit weg. Man busselte und herzte sich wie in früheren Tagen, es war so ehrlich gemeint wie ehedem. Masken waren abschafft, alle saßen eng an eng, auch die schwangere Lebenspartnerin von Kurz, die einem leid tun konnte. Ab nächstem Montag tragen unsere Kinder drei Wochen lang am Schulgang MNS, die Regierung ist bei sich da nicht so streng.
Der Gesundheitsminister hat einen "klaren Plan" für den Herbst, hörten wir, er denkt Masken in Innenräumen an, aber er hat noch keine Erlaubnis von der ÖVP erhalten, seine Visionen in Worte fassen zu dürfen und deswegen tut er das auch nicht. Ich frage mich bei Wolfgang Mückstein oft, wovor er sich eigentlich fürchtet: Dass ihm Kurz das Ärztediplom stibitzt, damit er endlich auch einen Doktor hat?
Vielleicht sind Parteitage nicht das richtige Forum dafür, aber es schmerzt, worüber in diesem Land alles nicht geredet wird. Aktuell nicht über eine Corona-Strategie etwa, ich meine nicht Lockdowns, wenn es wieder einmal zu spät ist, und Regeln für Ungeimpfte. Nein, sondern was ist unser Ziel im nächsten halben Jahr Pandemie, wo wollen wir hin, wann und wie? Was sind die Maßzahlen und die Meilensteine, was geschieht, wenn wir sie schaffen, was wenn nicht?
Was unternehmen wir gegen die Teuerung, die begegnet den Menschen nämlich jeden Tag mit größerer Wucht, keinen kümmert das offenbar? Nicht kriegsentscheidend, aber ich war vor ein paar Tagen Tennisbälle kaufen. Die kosten immer noch gleich viel, jetzt sind aber nur mehr drei Bälle in der Box und nicht mehr vier. So ist das überall. Schulsachen wurden sechs Prozent teurer, der Friseur macht mehr Schnitt, die Gemeinden langen bei der Müllabfuhr und beim Wasser zu. Mein Sohn war in einem Wiener Kaffeehaus, ein Glas Himbeersaft und eine Bananenschnitte kosteten 11 Euro. Beim Einkaufen ist das Wagerl fürs selbe Geld nur mehr halbvoll, wenn wir essen gehen, ist der Teller ums selbe Geld halbleer. Es läppert sich. Jetzt ist vielleicht noch Geld übrig, das wir in der Coronakrise nicht ausgeben konnten, aber irgendwann ist das aufgebraucht. Wo sind die Politiker, die sich ins Zeug werfen und sagen, so kann das nicht weitergehen, denn es gibt in diesem Land immer mehr Leute, bei denen ist am Ende des Geldes noch relativ viel Monat übrig?
Der Kanzler war am Dienstag bei Angela Merkel, sein Abschiedsbesuch. Anders als auf seinem Parteitag musste er Abstand halten, oft Maske tragen, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer schlug sogar den Handschlag aus, die Verteidigungsministerin wählte den Faustgruß. Wir lernen: Auf den Hauptschauplätzen der Welt kommt man mit den Waffen der Nebenschauplätze oft nicht recht weit.
5. September 2021 Kurz und der konkret unkonkrete Plan
Die Regierung wacht langsam auf. Neue Corona-Maßnahmen sollen kommen. Aber sie sind noch geheim.
Jetzt kommt plötzlich Bewegung in die politischen Bewegungen. "Was, schon so viel Uhr?" Alles natürlich zu spät, zu zögerlich, zu unentschieden. Im Juni ließ der Kanzler Plakate drucken, auf denen stand: "Die Pandemie gemeistert". Die Pandemie war gar nicht beleidigt, dass man sie auf Abstellgleis schob, sie schickte uns weiter fleißig Botschaften. Die Infektionszahlen schossen nach oben, die Krankenhausbetten begannen sich zu füllen, die Intensivstationen auch, die Patienten waren jetzt jünger. Österreich fuhr auf Urlaub und kam wieder zurück, es wurde gefeiert fast wie früher, keiner hatte ein schlechtes Gewissen, warum auch, der "Freiheits-Kanzler" hatte schließlich die Pandemie beendet?
Und jetzt? Alle wieder da, auch das Virus, mitten unter uns, ansteckender als vorher. Leider hat das einstige, angebliche Virus-Wunderland Österreich, das besser durch die Pandemie gekommen sein will als die Pandemie selbst, die Impfkampagne in den Sand gesetzt. Aus diesem Bunker kommen wir nicht mehr heraus. Wenn die Geimpften wegen der Ungeimpften Einschränkungen erleben werden, daheimbleiben müssen, ihre Kinder in Quarantäne oder Home-Schooling wechseln sollen, dann wird die Wut steigen. Auf beiden Seiten. Die Impfzahlen werden nicht mehr nennenswert nach oben klettern, der Zorn aber schon. Wutmonat werden wir den September vielleicht später einmal nennen, eventuell ist es erst im Oktober so weit.
Aber es gibt ja den Gesundheitsminister, Wolfgang "Fast Lane" Mückstein. Letzte Woche sagte er, dass er schon einen "sehr konkreten Plan" für den Herbst habe. Diesen Sonntag erzählte er der "Krone", dass er seinen "sehr konkreten Plan" bereits dem Kanzleramt übermittelt habe. Was drin steht, verrät er nicht. "Wir müssen aus dem Sommermodus raus", sagte Mückstein, ich weiß jetzt nicht, an wen sich der Appell richtet, denn ich kenne haufenweise Menschen, die waren gar nie in diesem "Sommermodus" drin, sondern hatten schon im Juni, spätestens im Juli sehr konkrete Vorstellungen davon, was im Herbst auf uns zukommen wird. Der Gesundheitsminister denkt inzwischen aber ohnehin schon weiter, an den Winter. Après Ski werde schwierig, prophezeit er. Mhm!
Der "sehr konkrete Plan" liegt im Kanzleramt einmal auf der faulen Haut. Am Mittwoch um 8.30 Uhr bittet die Regierung dann wie im Frühjahr die Experten und die Landeshauptleute zu sich. Da erfährt Mückstein dann, was von seinem "sehr konkreten Plan" übriggeblieben ist, die Erfahrung zeigt "sehr konkret" oft recht wenig. Zunächst hobeln die Fachleute daran herum, dann schremmen die Bundesländer etwas ab, zum Schluss kommt der Kanzler und baut sich aus den Restln sein eigenes Schaustück zurecht, indem er das Beste aus seinen beiden Welten außen andübelt. Oder innen.
8. September 2021 Fünf Punkte für ein Halleluja
Ein "Stufenplan" soll nun die Intensivstationen entlasten. Bei der Planung der neuen Verschärfungen lässt der Kanzler den Gesundheitsminister links liegen.
Der entscheidende Satz fiel in Minute 34. "Ich bin persönlich sehr froh, dass es menschliches Leben gibt", sagte Sebastian Kurz Montagabend bei den "Sommergesprächen" im ORF zu Lou Lorenz-Dittlbacher und den Menschen daheim fiel ein Nierenstein vom Herzen. Endlich wertschätzte ein Politiker öffentlich die Errungenschaften der Evolution. Dass sich der Kanzler sogar "persönlich sehr froh" darüber zeigte, dass wir keine Lurche mehr sind, gab dem Ganzen noch mehr Gewicht als es sonst schon hatte.
Lorenz-Dittlbacher begrüßte Kurz als letzten Parteichef in den diesjährigen "Sommergesprächen" und das Kanzleramt wollte galant sein. Die Presseabteilung verschickte schon am Nachmittag die Antworten, die Kurz am Abend geben wollte, an weitgehend alle Medienredaktionen des Landes, als Sperrfrist wurde 19 Uhr vorgegeben. Lorenz-Dittlbacher hätte sich also nur mehr die Fragen überlegen müssen, die zu den Antworten passen könnten. Es war ein feiner Zug von ihr, dass sie es nicht so hielt und damit den Kanzler aus dem Konzept brachte. Sein 5-Punkte-Plan hatte plötzlich nur mehr vier Punkte, vielleicht auch nur mehr drei. Er trug sie mit einer Art Dackelblick vor, Kurz zieht jetzt häufig die Stirnfalten zusammen, ein bisschen pampig war er auch diesmal.
Wolfgang Mückstein wäre glücklich gewesen, wenn er auch nur einen Punkt gemacht hätte. Letzte Woche unterhielt uns der Gesundheitsminister mit der Botschaft er habe schon "einen sehr konkreten Plan" für den Herbst, verriet ihn aber nicht. Den "sehr konkreten Plan" schickte er am Wochenende ins Kanzleramt. Dort landete er vermutlich im Eingangsfach. Als Kurz aus Serbien zurückkam, wird er ihn gesehen haben. "Ah, vom Wolfi. Schaue ich mir am Donnerstag an, am Tag nach dem Gipfel habe ich dann Zeit".
Der Kanzler erstellte lieber seinen eigenen "sehr konkreten Plan". Sonntag absolvierte er das Sommergespräch auf Servus TV, nach der Aufzeichnung ab 18.30 Uhr traf er sich am Abend mit Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und legte mit ihr die Linie für die Gespräche mit den anderen Landeschefs und den Experten am Mittwoch fest.
Während der Gesundheitsminister weiter eisern "sehr konkret" schwieg, informierte das Kanzleramt am Montagnachmittag die Medien "sehr konkret" über die Pläne des Kanzlers. Erst auf den Onlineseiten, dann im "Sommergespräch" des ORF, am nächsten Tag in den Printausgaben wurde der wenig konkrete Plan des Kanzlers sehr konkret besprochen, der eigentlich zuständige Gesundheitsminister fand nicht mehr statt, Parteichef Werner Kogler sowieso nicht, beide durften Dienstag die Ideen von Kurz lässig finden.
Den roten Landeshauptleuten fiel die Rolle zu wütend zu sein. Sie stellen sich heute Mittwoch einer offenen Diskussion zu einem längst geschlossenen Pakt. Beim Gipfel ist aber nur von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig nennenswerter Widerspruch zu erwarten, sein anfangs gutes Verhältnis zum Kanzler hat sich merklich abgekühlt. Burgenlands Hans Peter Doskozil reist gar nicht erst an. Den Ländern wird bei den Corona-Maßnahmen etwas mehr Autonomie zugesprochen. große Würfe sind aber nicht zu erwarten. Die Sitzung startet um 8.30 Uhr, schon für 10 Uhr sind Pressestatements angekündigt. Die Beratungen mit Experten und Landeschefs sollen also nur 90 Minuten dauern. Das wird eng für Grundsätzliches.
Vielleicht lohnt sich die Liebe zum Detail an anderer Stelle. Ich höre aus den unterschiedlichsten Quellen, dass die Tests in den Schulen ein ziemliches Chaos sein sollen und ich nehme dieses Wort nur höchst ungern in die Hand. Teströhrchen wurden Montag nicht abgeholt, weggeschmissen, nicht überprüft. Tests fanden nicht statt, die Kits wurden erst gar nicht geliefert oder die Kinder und ihre Eltern damit allein gelassen.
Es ist unklar, ob Antikörper-Zertifikate gelten, und wenn ja, wie lange, wer welche Tests machen muss, sie finden momentan auch recht willkürlich statt. Wer sich beim Gurgeltest mit Schule und Klasse vernetzen will, muss sich einen halben Tag freinehmen. In Wien kam eine Lehrerin mit acht PCR-Tests in der Hand in eine Oberstufenklasse, es gibt dort aber 26 Schüler. Teamarbeit bringt nicht immer die besten Ergebnisse.
24. September 2021 Nehammer nimmt Kickl das Du-Wort weg
Seit 15. September gilt wieder FFP2-Plficht. Aber die Maskenregeln gleiten ins Absurde ab. Nicht die einzige Unfreundlichkeit.
Dieser Tage war ich im Baumarkt, mir waren die Rasenmäher ausgegangen. Ich machte es so wie alle Männer, ich fuhr hin. Frauen planen solche Sachen, studieren Angebote, vergleichen Daten, checken, in welcher Filiale welches Gerät vorrätig ist, zuletzt schauen sie sogar nach, wie man am besten dort hinkommt. Männer nie. Die fahren einfach los, ich auch. Vielleicht ist das etwas Genetisches, eine Urwaldsache, unter Paaren soll sich darüber schon die eine oder andere Debatte entzündet habe. Urlaube eignen sich besonders gut dazu, da hat man Zeit füreinander, was sich nicht immer als Vorteil erweist.
Ich fuhr also zu einem Baumarkt an der Wiener Stadtgrenze, beim Einkaufen habe ich es gern grün rundherum. Ich kam gut hin, musste aber vor Ort feststellen, dass mein gewünschtes Gerät ausverkauft war. Das hätte ich selbstverständlich vorab telefonisch erfragen können, aber möglicherweise hätte das eine nachhaltige Veränderung in der DNA eines ganzen Geschlechts nach sich gezogen und daran wollte ich nun auch wieder nicht schuld sein. Eine nette Verkäuferin konnte auf Nachfrage feststellen, dass es den Rasenmäher in Stadlau noch gab, ich war selig, wie üblich genügte dafür ein Funke.
Was mir auffiel: Im Baumarkt im G3, knapp vor der Stadtgrenze, trug niemand Maske, nicht FFP2, nicht MNS, nichts. Nicht das Verkaufspersonal, nicht die Kunden, nicht die Zierfische, nicht die Buchsbäume in der Gartenabteilung. 17 Autominuten entfernt in Stadlau, im Baumarkt derselben Kette, hatten alle FFP2 auf, ausnahmslos. In einem Baumarkt waren offenbar alle geimpft, im zweiten keiner, der eine liegt in Niederösterreich, der andere in Wien. Es war, als hätte ich eine unsichtbare Staatsgrenze überfahren, in dem einen Land wies man sich mit Masken aus, in dem anderen, indem man seinen Mund öffnete.
Erleichterungen anzukündigen, das heißt in Österreicher häufig, Erschwerungen zu ermöglichen. Kann man "sich nicht auskennen" eigentlich steigern? Schon bisher war schwer durchschaubar, wann welcher Mundschutz aufgesetzt werden muss, nunmehr ist das eine eigene Wissenschaft, vielleicht kann man auf einer FH bald einen Bachelor in Maskeologie machen. Am Dienstag verkündete der Wiener Bürgermeister neue Verschärfungen, die aber gleichzeitig irgendwie auch Lockerungen waren. "Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es in der Bevölkerung eine deutliche Unsicherheit gibt, welche Maßnahmen jetzt überhaupt gelten", sagte Michael Ludwig und beschloss, den Eindruck noch zu vertiefen.
Wenn ich jetzt also am 1. Oktober in den Baumarkt nach Stadlau fahre, dann muss ich eine FFP2-Maske aufsetzen, obwohl ich doppelt geimpft bin und so viele Antikörper habe, dass ich Coronaviren bis zum Wechsel hinauf terminieren könnte. Die Angestellten aber, sofern geimpft, müssen gar nichts tragen, nicht einmal Mund-Nasenschutz. Ich, mit Maske, stehe also einem Verkäufer, ohne jede Maske, gegenüber. Ich hoffe, man unterrichtet das Virus rechtzeitig über die neuen Umstände, nicht dass es verwirrt ist und in Panik auch noch einen Rasenmäher kauft.
Fahre ich zum selben Baumarkt ins G3, um vielleicht einen Zweitrasenmäher zu kaufen, dann müssen weder der Verkäufer noch ich was tragen, wenn wir beide geimpft sind, was aber niemand kontrolliert. Wenn ich in der Gegend zum Heurigen gehe, um mit meinem neuen Rasenmäher auf seinen Kauf anzustoßen, dann brauchen wir beide dort 3-G, müssen also geimpft, genesen oder getestet sein, ein Antigentest reicht, auch für den Kellner, außer er trägt FFP2, dann benötigt er gar keinen 3-G-Nachweis. Der Koch braucht sowieso nichts.
Wenn ich nach Wien zum Heurigen weiterfahre, obwohl der Rasenmäher vielleicht schon einen Rausch hat, dann brauche ich 2,5-G, muss also geimpft oder genesen oder getestet sein, es muss aber ein PCR-Test sein, Antigen reicht nicht. Für den Kellner gilt dasselbe, er kann sich in Wien aber nicht mit einer Maske freikaufen. Wenn wir, mein Rasenmäher und ich, ein bisserl sitzenbleiben und der Heurige wird zur Nachtgastro, dann brauchen wir 2-G, müssen also geimpft oder genesen sein, ein Test reicht nicht, nicht einmal PCR. Für den Kellner schon, für ihn gilt 2,5-G. Er kann also einen PCR-Test bringen, Antigen genügt nicht.
Auch in der Politik wir gentechnisch immer rabiater. Im Parlament kam es Mittwoch zu einem Wortgefecht, Ex-Innenminister Herbert Kickl bezichtigte Innenminister Karl Nehammer der Lüge in der Asylpolitik. Der wollte sich das nicht bieten lassen und konterte mit der schärfsten Waffe der österreichischen Politik. "Ich entziehe ihnen somit unser Du-Wort, das wir gegenseitig gern gepflegt haben", polterte Nehammer. Ich meine, wir regen uns über Masken auf, aber wie brutal muss es sein, wenn sich der Innenminister und sein Vorvorgänger in der Nacht auf der Straße treffen und sich ab jetzt siezen müssen. "Du Sie Du!"
Früher hätte man Elisabeth Köstinger als Vermittlerin entsandt, aber sie hat sich in den letzten Wochen heimlich radikalisiert, vielleicht wurde sie von den Hofwochen von "Bauer sucht Frau" ausgeladen. Zunächst legte sich die Tourismusministerin mit den Supermärkten an, dann mit Billa allein, schließlich strudelte sie Bürgermeister Michael Ludwig an. Wien impfe zu wenig, habe zu hohe Infektionszahlen, die Pandemie verlange "Anpacker und keine Anpatzer", schrieb sie, meinte aber nicht sich selbst. Ich denke, wir können die nächste Du-Beziehung kübeln.
Damit geht das zweite Kapitel der Corona-Kopfnüsse zu Ende. Danke, dass sie auch diesmal tapfer durchgehalten haben. Ich hoffe, wir hören uns in Kapitel 3. Da geht es dann um die Impfpflicht, den Kurz-Rücktritt und einen Minister, der auf der Westautobahn ohne Strand strandete.
Zum Lesen: Das 2. Corona-Tagebuch
- Der Überblick
- Kapitel 1: Taumeln ins neue Jahr
- Kapitel 2: Schlimmer geht´s immer
- Kapitel 3: Haariger Start in die Freiheit
- Kapitel 4: Fremdeln mit der Freiheit
- Kapitel 5: Endlich wieder im Lockdown
- Kapitel 6: Licht am Ende des Lichts
- Kapitel 7: Jetzt fallen alle Masken
- Kapitel 8: Hinein in die nächste Welle
Zum Hören: Das 2. Corona-Tagebuch